Titel:
Prozesskostenhilfe für die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Inobhutnahme
Normenketten:
SGB VIII § 8, § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
VwGO § 166
ZPO §§ 114 ff.
Leitsatz:
Grundvoraussetzung einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII bildet eine dringende Gefahr für das Kindeswohl. Eine dringende Gefahr in diesem Sinne muss indes – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme hingegen nicht aus. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Inobhutnahme, häusliche Gewalt, Kindeswohl, Putativgefahr
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 23.08.2024 – Au 3K 23.810
Fundstelle:
BeckRS 2024, 30428
Tenor
I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 23. August 2024 – Au 3 K 23.810 – wird aufgehoben.
II. Dem Kläger wird für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin W. aus I. beigeordnet.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung für seine zum Verwaltungsgericht Augsburg erhobene Klage weiter, mit der er die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme seiner beiden Kinder vom 12. September 2022 bis 20. Dezember 2022 begehrt.
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1. Ab dem 18. Juli 2022 wurde dem Kläger und seiner – inzwischen geschiedenen – Ehefrau für ihre beiden gemeinsamen Kinder (geboren am 26. Juni 2019 und 10. Februar 2021) Hilfe zur Erziehung in Form von sozialpädagogischer Familienhilfe gewährt. Hintergrund war eine Mitteilung der Polizeiinspektion wegen häuslicher Gewalt.
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2. Am 6. September 2022 fand bei der Familie ein gemeinsamer Hausbesuch der sozialpädagogischen Familienhilfe und des Jugendamts des Beklagten statt. Hintergrund war die konfliktbehaftete Trennungssituation zwischen dem Kläger und seiner damaligen Ehefrau. Bei einem weiteren Hausbesuch am 9. September 2022 teilte diese dem Jugendamt mit, dass der Kläger seinen Sohn geschüttelt habe und sie daraufhin mit ihm beim Hausarzt gewesen sei. Der Kläger bestritt dies und zeigte seine Ex-Frau wegen Verleumdung an. Das Jugendamt stellte daraufhin in Aussicht, dass die Kinder in Obhut genommen werden müssten, wenn keine Lösung des Konflikts, insbesondere keine räumliche Trennung erfolge.
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Bei einem weiteren Gespräch im Jugendamt am 12. September 2022 konnte keine Regelung für eine dauerhafte räumliche Trennung gefunden werden. Da der hocheskalative Elternkonflikt eine Gefährdung für die Kinder darstelle, wurde auf eine Unterbringung der Kinder in einer Pflegefamilie hingewirkt. Da der Kläger hiermit nicht einverstanden war, nahm das Jugendamt die beiden Kinder in Obhut.
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3. Am 14. September 2022 stellte der Beklagte beim zuständigen Familiengericht einen Antrag auf vorläufigen Entzug der elterlichen Sorge. Mit Beschluss vom selben Tag entzog das Amtsgericht Sonthofen, Abteilung für Familiensachen, den sorgeberechtigten Eltern im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig das Recht zur Aufenthaltsbestimmung, das Recht zur Regelung der ärztlichen Versorgung, das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen und das Recht zur Regelung des Umgangs für die Kinder und ordnete Ergänzungspflegschaft an.
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4. Mit Bescheiden vom 15. September 2022 wurde die Inobhutnahme beider Kinder schriftlich bestätigt. Die Krisengespräche hätten zu der Erkenntnis geführt, dass die Eltern nicht in der Lage seien, eine Lösung herbeizuführen, in der die Kinder vor psychischer und physischer Gewalt geschützt seien. Eine mögliche körperliche Misshandlung durch den Kläger sei nicht geklärt. Der Kläger beschreibe ein kindeswohlgefährdendes Verhalten der Kindsmutter.
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5. Laut Bericht der Klinik, in der sich der Sohn des Klägers vom 13. bis 16. September 2022 wegen des Verdachts auf Schütteltrauma und Kindeswohlgefährdung befand, zeigte die körperliche Untersuchung Hämatome und vereinzelte Kratzer, welche im Rahmen der ausgeprägten körperlichen Aktivität des Kindes gewertet wurden. Weder Lokalisation noch die Art der Hämatome ließen primär an eine Kindesmisshandlung denken. Laborchemisch ergaben sich keine wesentlichen Auffälligkeiten. Eine ausführliche Röntgendiagnostik zum Ausschluss von Frakturen blieb unauffällig, eine cMRT zeigte einen altersentsprechenden Normalbefund ohne Hinweise auf Traumafolge.
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6. Mit Bescheiden vom 22. Dezember 2022 wurden die Bescheide vom 15. September 2022 aufgehoben und die Inobhutnahme der beiden Kinder zum 19. Dezember 2022 beendet. Mit Bescheiden vom 22. Dezember 2022 wurde für beide Kinder Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege gewährt.
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7. Mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 2023 wies die Regierung von Schwaben den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 15. September 2022 zurück.
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8. Mit Schriftsatz vom 25. Mai 2023 ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigte Klage erheben mit dem Antrag festzustellen, dass die Inobhutnahme der beiden Kinder im Zeitraum vom 12. September 2022 bis 20. Dezember 2022 rechtwidrig gewesen sei. Häusliche Gewalt habe nicht stattgefunden. Es habe eine normale Trennungssituation zwischen den Eltern vorgelegen. Die Mutter habe versucht, dem Vater unwahre Tatsachen anzuhängen. Ärztliche Untersuchungen hätten keine Anhaltspunkte für eine körperliche Misshandlung des Kindes ergeben. Der Wahrheitsgehalt der Aussage der Mutter in Bezug auf das Schütteln des Kindes hätte genauer überprüft werden müssen. Gleichzeitig ließ er einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe stellen.
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9. Mit Beschluss des Amtsgerichts Sonthofen, Abteilung für Familiensachen, vom 21. Juni 2024 wurde dem Kläger das Aufenthaltsbestimmungsrecht für beide Kinder übertragen. Das Recht zur Regelung des Umgangs wurden den Eltern entzogen und Ergänzungspflegschaft angeordnet. Seit dem 22. April 2024 (Sohn) bzw. dem 25. Juni 2024 (Tochter) leben beide Kinder wieder beim Kläger.
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10. Mit Beschluss vom 23. August 2024 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussichten der Klage ab. Die Inobhutnahme dürfte rechtmäßig gewesen sein. Eine dringende Gefahr für das Wohl der beiden Kinder sei im Rahmen einer summarischen Prüfung bei einer ex-ante-Betrachtung anzunehmen. Dem Beklagten dürfe bekannt gewesen sein, dass der Kläger in der Vergangenheit im Zusammenhang mit Gewaltdelikten polizeibekannt gewesen sei. Die Mutter habe dem Beklagten mitgeteilt, dass der Kläger das Kind geschüttelt habe. Anhaltspunkte dafür, dass die Angaben der Mutter erkennbar falsch gewesen seien, hätten sich dem Beklagten nicht aufdrängen müssen. Vor diesem Hintergrund habe der Beklagte von einer konkreten dringenden Gefahr ausgehen dürfen.
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11. Mit der Beschwerde verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Es sei bereits fraglich, ob die Vorverurteilung des Klägers sowie die wahrheitswidrige Aussage der an einer psychischen Störung leidenden Kindsmutter ausreichend gewesen wäre, um eine dringende Gefahr für die Kinder anzunehmen. Auch gegenseitige Vorhaltungen der Eltern könnten keinesfalls eine Inobhutnahme rechtfertigen. Jedenfalls aber seien sämtliche Bedenken des Jugendamts in dieser Hinsicht durch das eingeholte ärztliche Attest ausgeräumt worden. Die Inobhutnahme hätte unmittelbar nach Erhalt des Arztberichtes abgebrochen werden müssen.
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12. Der Beklagte verteidigt die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts. Zum Zeitpunkt der Inobhutnahme habe es keinen Anlass gegeben, an den Aussagen der Kindsmutter, der Kläger habe seinen Sohn geschüttelt, zu zweifeln.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorliegenden Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu Unrecht versagt. Der Klage kann – gemessen am spezifisch prozesskostenhilferechtlichen Erfolgsmaßstab einer lediglich summarischen Prüfung – nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand eine hinreichende Aussicht auf Erfolg nicht abgesprochen werden.
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1. Für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe genügt bereits eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der beabsichtigten Klage (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2022, § 166 Rn. 8 m.w.N.). Mit Blick auf die Rechtsschutzgleichheit von Bemittelten und Unbemittelten dürfen die Anforderungen hinsichtlich der Erfolgsaussichten nicht überspannt werden. Vor allem ist es unzulässig, schwierige Sach- oder Rechtsfragen, die in einer vertretbaren Weise auch anders beantwortet werden können, bereits in Vorwegnahme des Hauptsacheverfahrens abschließend im Prozesskostenhilfeverfahren zu erörtern und damit den Zugang zu den Gerichten zu versagen (vgl. BVerwG, B.v. 5.2.2003 – 1 BVR 1526/02 – NJW 2003, 1857). Gleiches gilt, wenn der vom Kläger eingenommene Standpunkt zumindest vertretbar erscheint und in tatsächlicher Hinsicht die Möglichkeit einer Beweisführung offensteht (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Ungeachtet dessen entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Senats, Prozesskostenhilfe grundsätzlich dann zu bewilligen, wenn im jeweiligen Verfahren eine weitere Sachaufklärung oder gar eine Beweiserhebung in Betracht kommt (vgl. BayVGH, 21.3.2013 – 12 C 13.280 – juris; B. v. 18.2.2013 – 12 C 12.2105 – juris; B. v. 11. März 2014 – 12 C 14.380 – juris; B. v. 21.12.2015 – 12 C 15.2352 – juris Rn. 9 m.w.N.; B.v. 23.12.2022 – 12 C 22.2410 – juris).
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2. Gemessen an diesem Maßstab durfte dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung nicht versagt werden.
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Rechtsgrundlage für die erfolgte Inobhutnahme ist § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII. Danach ist das zuständige Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erfordert und entweder die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Darüber hinaus muss die Inobhutnahme auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. es darf insbesondere keine das Elternrecht weniger stark tangierende, gleich geeignete Maßnahme zur Sicherung des Kindeswohls geben.
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Grundvoraussetzung einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII bildet eine dringende Gefahr für das Kindeswohl. Eine dringende Gefahr in diesem Sinne muss indes – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme hingegen nicht aus (vgl. BayVGH, B. v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 8f.).
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2.1 Die Inobhutnahme wurde auch auf die Aussage der Kindsmutter, der Kläger habe seinen Sohn geschüttelt, gestützt. Die Annahme einer körperlichen Misshandlung wurde durch den Klinikbericht vom 16. September 2022 jedoch nicht bestätigt. Die Frage, ob insofern auch eine Putativgefahr eine dringende Gefahr für das Kindeswohl im Sinne von § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII darstellen und somit eine Inobhutnahme rechtfertigen kann, ist nicht im Prozesskostenhilfeverfahren zu entscheiden, sondern bleibt der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten.
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2.2 Ob darüber hinaus im gesamten Zeitraum der Inobhutnahme vom 12. September 2022 bis zum 20. Dezember 2022 eine dringende Gefahr für das Kindeswohl bestand, lässt sich allein anhand der Gründe des Bescheids und den dem Senat vorliegenden Akten des Beklagten nicht beurteilen. Vielmehr bedarf es insofern einer weiteren Sachaufklärung. Das Verwaltungsgericht stellt in seinem Beschluss vom 23. August 2024 allein darauf ab, dass der Beklagte „im Zeitpunkt der Inobhutnahme“ von einer dringenden Gefahr habe ausgehen dürfen. Die Fortsetzung der Inobhutnahme setzt aber voraus, dass das Jugendamt immer wieder selbst prüft, ob die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Inobhutnahme noch gegeben sind.
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2.3 Zudem entschied bereits am 14. September 2022 das Familiengericht und entzog den Eltern vorläufig insbesondere das Recht zur Aufenthaltsbestimmung. Dies dürfte die Inobhutnahme grundsätzlich überflüssig gemacht haben. Denn eine solche ist im Verhältnis zur familiengerichtlichen Entscheidung subsidiär.
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Zwar endet die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII (erst) mit der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch. Sie darf also über die Entscheidung des Familiengerichts hinaus bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen weitergeführt werden, weil andernfalls eine Lücke in der sozialpädagogischen Unterstützung entsteht, die angesichts der Gefährdungssituation nicht hingenommen werden kann (BT-Drs. 15/3676 S. 37).
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Die Aufrechterhaltung der Inobhutnahme setzt aber das Fortbestehen der dringenden Gefahr für das Kindeswohl voraus. Ob dies vorliegend der Fall war, ist wie dargelegt bislang nicht erörtert worden und bedarf der weiteren Aufklärung.
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Auch stand dem Beklagten aufgrund des Beschlusses des Familiengerichts vom 14. September 2022 das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen zu. Den dem Senat vorliegenden Akten lässt sich entnehmen, dass bereits Anfang Oktober 2022 überlegt wurde, die Hilfe von einer Inobhutnahme auf Hilfe zur Erziehung umzustellen (Bl. 91 d. A.). In einer weiteren Email vom 19. Oktober 2022 geht der zuständige Mitarbeiter des Jugendamts davon aus, dass durch die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts momentan keine Gefährdungssituation mehr bestehe; die Inobhutnahme dürfe nicht künstlich aufrechterhalten werden (Bl. 97 d. A.). Dies bekräftigte er nochmals am 8. Dezember 2022 (Bl. 114 d. A.). Ob vor diesem Hintergrund die Tatbestandsvoraussetzungen einer Inobhutnahme bis zum 19. Dezember 2022 vorgelegen haben, wird somit weiter aufzuklären sein.
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3. Da derzeit auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung erfüllt sind, war der angefochtene Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben und dem Kläger Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung zu bewilligen.
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4. Einer Kostenentscheidung bedarf es vorliegend nicht, da das Verfahren nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei ist und Kosten im Beschwerdeverfahren nach § 166 VwGO i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden.
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5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).