Titel:
Erstattungsfähigkeit der Kosten für eine IVF/ICSI-Behandlung - Subfertilität infolge (zunächst) gewollter Sterilisation
Normenketten:
VVG § 192 Abs. 1
MB/KK 2009 § 1 Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Kosten einer operativen Rückgängigmachung einer zuvor durch Vasektomie willentlich herbeigeführten Sterilität sind nicht vom Versicherungsschutz der privaten Krankenversicherung umfasst, weil es sich bei einer medizinisch nicht gebotenen, lediglich mit Blick auf die individuelle Lebensplanung durchgeführten Sterilisation nicht um eine Krankheit im Sinne der Versicherungsbedingungen und des § 192 Abs. 1 VVG handelt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine medizinisch nicht gebotene, lediglich mit Blick auf die individuelle Lebensplanung durchgeführte Sterilisation führt nicht zu einer Krankheit iSv § 192 Abs. 1 VVG, § 1 Abs. 2 MB/KK 2009 (Anschluss an BGH BeckRS 2016, 7880 Rn. 19 mwN). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Demgemäß besteht auch keine Leistungspflicht des Krankheitskostenversicherers für eine IVF/ICSI-Behandlung, wenn die bestehende Subfertilität ursächlich auf eine - zwischenzeitlich rückgängig gemachte - gewollte Vasektomie zurückzuführen ist. (Rn. 6 und 7) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Versicherungsnehmer ist für die tatsächlichen Umstände beweisbelastet, aus denen sich das Vorliegen einer bedingungsgemäßen Krankheit ergeben soll. Dies gilt auch für seine Behauptung, eine Subfertilität beruhe auf einer (neuen) organischen Ursache und nicht auf einer freiwillig durchgeführten Sterilisation. Dies umfasst den Beweis, dass der gewollt herbeigeführte Zustand der Unfruchtbarkeit durch die chirurgische Wiederherstellung des Samenleiters vollständig beseitigt wurde (Bestätigung von OLG München, Beschlüsse v. 7.4.2021 u. 30.4.2021 – 25 U 4986/20). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Private Krankenversicherung, Krankheitskostenversicherung, Krankheitsbegriff, Sterilisation, Fertilitätseinschränkung, Beweislast, Vasektomie
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 31.08.2023 – 25 O 14999/21
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 26.11.2024 – 25 U 3800/23 e
Fundstellen:
MDR 2025, 317
LSK 2024, 30269
ZfS 2025, 98
r+s 2024, 1072
BeckRS 2024, 30269
FDVersR 2024, 030269
Tenor
1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 31.08.2023, Az. 25 O 14999/21, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil er einstimmig der Auffassung ist, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Beschlusses.
Entscheidungsgründe
1
Die zulässige Berufung des Klägers hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) noch rechtfertigen nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
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1. Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine private Krankheitskostenversicherung. Vereinbart sind der Tarif Vario und Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Krankheitskostenvollversicherung (AVB/VV 2009; Anlage B 1). Anfang 2012 ließ der Kläger bei sich eine Sterilisation in Form einer Vasektomie vornehmen, die im Januar 2020 operativ rückgängig gemacht wurde. Der Kläger hat eine schwere Subfertilität in Form eines OAT-Syndroms behauptet, die keine Folge der früheren Sterilisierung sei. Er hat beantragt festzustellen, dass die Beklagte für einen (erfolgreichen) Behandlungszyklus einer IVF/ICSI-Sterilitätsbehandlung im November/Dezember 2021 in tarifgemäßem Umfang erstattungspflichtig ist.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Berufung (Anträge vom 21. September 2023, Bl. 1/2 d. A. OLG; Begründung vom 18. Oktober 2023, Bl. 6/9 d. A. OLG) verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.
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2. Das Landgericht hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen, auf die der Senat zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen zunächst Bezug nimmt. Ergänzend und zur Berufungsbegründung merkt der Senat Folgendes an:
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a) Es liegt kein Versicherungsfall vor. Es fehlt an einer Krankheit im Sinne der Versicherungsbedingungen und des § 192 Abs. 1 VVG.
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aa) Krankheit im Sinne der Bedingungen ist ein objektiv nach ärztlichem Urteil bestehender anomaler, regelwidriger Körper- oder Geisteszustand (BGH, Urteil vom 15. September 2010 – IV ZR 187/07, VersR 2010, 1485 Rn. 11). Dazu zählt auch eine auf körperlichen Ursachen beruhende Unfähigkeit, auf natürlichem Wege Kinder zu zeugen (BGH, Urteil vom 15. September 2010, aaO mwN; vgl. BGH, Urteil vom 17. Dezember 1986 – IVa ZR 78/85, BGHZ 99, 228, juris Rn. 16). Dementsprechend führt eine medizinisch nicht gebotene, lediglich mit Blick auf die individuelle Lebensplanung durchgeführte Sterilisation nicht zu einer Krankheit (BGH, Urteil vom 17. Februar 2016 – IV ZR 353/14, NJW 2017, 88 Rn. 19 mwN; vgl. OLG Köln, VersR 1994, 208; OLG München, Beschlüsse vom 7. April 2021 und 30. April 2021 – 25 U 4986/20, den Prozessbevollmächtigten bekannt; MünchKomm-VVG/Hütt, 3. Aufl., § 192 Rn. 21; Marlow, VersR 2002, 144, 147 [unter II.1.c]; Krumscheid, r+s 2018, 578, 579; aA Prölss/Martin/Voit, VVG, 32. Aufl., § 192 Rn. 34b). Denn eine solche mit ärztlicher Hilfe freiwillig herbeigeführte Unfruchtbarkeit wird ein Versicherungsnehmer nach dem allgemeinen Sprachgebrauch schon deshalb nicht als krankhaft ansehen, weil sie keinen weitergehenden Behandlungsbedarf auslöst (BGH, Urteil vom 17. Februar 2016, aaO).
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Zu keiner abweichenden Maßgabe führt der in anderer Sache ergangene Hinweisbeschluss des Senats vom 10. Juli 2019 (25 U 1415/18, Anlage K 17; das Verfahren endete durch Berufungsrücknahme). Diesem Hinweis lag ein Sachverhalt zugrunde, der in entscheidender Hinsicht anders lag. Der Senat ging aus prozessualen Gründen davon aus, dass die früher durchgeführte Vasektomie erfolgreich vollständig rückgängig gemacht und nicht Ursache der festgestellten Subfertilität war. Soweit dem Hinweis die Rechtsauffassung entnommen werden kann, die Leistungspflicht des Versicherers sei ausschließlich vor dem Hintergrund des § 201 VVG zu beurteilen, ist dies dem Umstand geschuldet, dass im angeführten Fall eine organisch bedingte Sterilität festgestellt war, und nicht auf Konstellationen zu übertragen, in denen sich die – wie dargestellt zu verneinende – Frage stellt, ob eine medizinisch nicht gebotene, lediglich mit Blick auf die individuelle Lebensplanung durchgeführte Sterilisation zu einer Krankheit führt (vgl. bereits OLG München, Beschluss vom 30. April 2021, aaO).
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bb) Daran gemessen stellt die Fertilitätseinschränkung des Klägers keine bedingungsgemäße Krankheit dar, weil sie auf einer medizinisch nicht gebotenen, lediglich mit Blick auf die individuelle Lebensplanung durchgeführten Sterilisation beruht.
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(1) Das sachverständig beratene Landgericht hat sich davon überzeugt, dass die beim Kläger bestehenden Einschränkungen der Spermienkonzentration auf die freiwillige Sterilisation im Jahr 2012 zurückzuführen sind, welche nicht durch die Refertilisation im Jahr 2020 vollständig rückgängig gemacht werden konnte. Die Fertilitätseinschränkung habe ihre Ursache in der nur einseitig möglichen Refertilisation durch Vasovasostomie (vgl. Urteil des Landgerichts, S. 5 f unter A.I.2.b und c).
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(2) Diese entscheidungserheblichen Tatsachenfeststellungen des Landgerichts binden den Senat gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.
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(a) Nach dieser Vorschrift hat das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Aus dieser Bestimmung ist nicht herzuleiten, dass die Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der erstinstanzlichen Tatsachenfeststellung auf Verfahrensfehler und damit auf den Umfang beschränkt wäre, in dem eine zweitinstanzliche Tatsachenfeststellung der Kontrolle durch das Revisionsgericht unterliegt. Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen können sich auch aus der Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben (BGH, Urteil vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03, BGHZ 162, 313, juris Rn. 5, 7; vom 18. November 2020 – VIII ZR 123/20, NZM 2021, 88 Rn. 23).
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(b) Weder aus den Berufungsrügen noch aus anderen Umständen ergeben sich konkrete Anhaltspunkte, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen des Landgerichts begründen würden. Vielmehr teilt der Senat die beweiswürdigenden Erwägungen des Landgerichts und hat keinen Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen.
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(aa) Die Berufungsbegründung (S. 2 unter II.1) meint, zur bestrittenen Behauptung, die Spermieneigenschaft habe unter der früheren Sterilisation und/oder deren Rückgängigmachung gelitten, habe die Sachverständige in Bezug auf den konkret vorliegenden Einzelfall nichts festgestellt. Dies trifft nicht zu.
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Im schriftlichen Gutachten vom 12. Juni 2023 (Bl. 59/67 d. A. LG), gegen das im ersten Rechtszug keine Einwände erhoben worden sind, hat die gerichtlich bestellte Sachverständige Prof. Dr. S. K. ausgeführt, aufgrund des normalen FSH-Hormonwertes und der normalen Hodenvolumina sei beim Kläger von einer normalen Fertilität vor der Sterilisation auszugehen, was von der Histologie unterstützt werde, die eine vollständig ausreifende Spermatogenese zeige. Nach der Refertilisation zeige sich eine Spermienkonzentration, teilweise mit Einschränkung der Beweglichkeit und Morphologie, mit der keine Spontanschwangerschaft habe erreicht werden können. Diese Einschränkung erkläre sich gut durch die nur einseitig erfolgte Vasovasostomie, sei also kein Zeichen einer grundsätzlichen Sub- bzw. Infertilität (Gutachten, S. 12 unten). Die Einschränkungen der Spermienkonzentration ergäben sich aus der nur einseitig möglichen und „letztendlich erfolgreichen“ Refertilisation (aaO S. 13 oben).
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Hieraus ergibt sich klar die fachliche Bewertung der Sachverständigen, dass die Spermieneigenschaft unter der früheren Sterilisation und deren nur teilweise möglicher Rückgängigmachung gelitten hat. Diese Bewertung hat die Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend begründet.
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(bb) Es ist (entgegen der Berufungsbegründung, S. 3 f unter II.5) nicht widersprüchlich, wenn das Landgericht trotz sachverständig bejahter medizinischer Indikation zur ICSI-Behandlung (vgl. Gutachten, S. 13 Mitte) die beim Kläger bestehende Fertilitätseinschränkung – aus Rechtsgründen – nicht als bedingungsgemäße Krankheit einordnet. Der Senat teilt diese Bewertung aus den schon dargestellten Gründen (s.o. unter aa, bb.(1)).
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(cc) Auch aus Sicht des Senats hat sich Landgericht zutreffend von der Ursächlichkeit der freiwilligen Sterilisation für die bestehenden Fertilitätseinschränkungen überzeugt. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger als Versicherungsnehmer für die tatsächlichen Umstände beweisbelastet ist, aus denen sich das Vorliegen einer bedingungsgemäßen Krankheit ergeben soll, und dass dies auch dafür gilt, dass eine Subfertilität auf einer (neuen) organischen Ursache und nicht auf einer freiwillig durchgeführten Sterilisation beruht (vgl. OLG München, Beschlüsse vom 7. April 2021 und 30. April 2021 – 25 U 4986/20, den Prozessbevollmächtigten bekannt). Dies umfasst den Beweis, dass der gewollt herbeigeführte Zustand der Unfruchtbarkeit durch die chirurgische Wiederherstellung des Samenleiters vollständig beseitigt wurde (vgl. OLG München, aaO). Die Möglichkeit eines entsprechenden Nachweises im Streitfall zeigt weder die Berufungsbegründung auf, noch ist sie sonst ersichtlich; vielmehr steht das Gegenteil fest.
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b) Mangels nachgewiesener bedingungsgemäßer Krankheit liegt schon kein Versicherungsfall vor. Deshalb kommt es für die Entscheidung nicht mehr darauf an, ob die Beklagte – eine Krankheit unterstellt – gemäß A 13 der Tarifbedingungen, § 201 VVG wegen einer vorsätzlichen Herbeiführung der Krankheit durch den Kläger leistungsfrei wäre (in diesem Sinne etwa Bach/Moser/Weidensteiner, Private Krankenversicherung, 6. Aufl., § 5 MB/KK Rn. 24).
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3. Es wird erwogen, den Berufungsstreitwert auf 5.200 € festzusetzen.
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4. Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).