Titel:
Inobhutnahme eines Kindes, Faktischer Vollzug, Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Anfechtungswiderspruchs, Anordnung der Rückgängigmachung der Vollziehung der Inobhutnahme, Annexantrag nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO, Fehlende Dringlichkeit einer Inobhutnahme (bejaht), Rechtswidrige Unterlassung des Versuchs einer Herbeiführung einer familiengerichtlichen, Entscheidung (bejaht)
Normenketten:
SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2
SGB VIII § 42 Abs. 3 S. 2 Nr. 2
VwGO analog § 80 Abs. 5
Leitsätze:
1. Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist auch für die Überprüfung einer gegenwärtigen Inobhutnahme eines Kindes nach § 42 SGB VIII eröffnet.
2. Eine abstrakte bzw. latente Gefahr für das Kindeswohl reicht grundsätzlich nicht aus für die Annahme einer dringenden Gefahr nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII. Die Räumungsklage eines Vermieters gegen die Sorgeberechtigten eines Kindes alleine genügt aufgrund der zahlreichen notwendigen Zwischenschritte bis zur tatsächlichen Räumung für sich genommen nicht, eine dringende Gefahr für das Kindeswohl zu begründen.
3. Die Inobhutnahme ohne Einschaltung des Familiengerichts nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII ist ein reiner Notkompetenztitel. Die Einschaltung des Familiengerichts muss daher grundsätzlich versucht werden, wenn hierdurch rechtzeitig eine einstweilige Anordnung erwirkt werden kann, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen. Ein Jugendamt verstößt im Regelfall gegen § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII, wenn es ohne Versuch der Einschaltung des Familiengerichts die bereits am Vortag der Vollziehung beschlossene Inobhutnahme während der (Bereitschafts-)Dienstzeiten des Familiengerichts plant und das Kind zur Vermeidung erwarteten Widerstands erst am nächsten Tag am Vormittag aus dem Kindergarten herausnimmt.
Schlagworte:
Inobhutnahme eines Kindes, Faktischer Vollzug, Feststellung der aufschiebenden Wirkung eines Anfechtungswiderspruchs, Anordnung der Rückgängigmachung der Vollziehung der Inobhutnahme, Annexantrag nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO, Fehlende Dringlichkeit einer Inobhutnahme (bejaht), Rechtswidrige Unterlassung des Versuchs einer Herbeiführung einer familiengerichtlichen, Entscheidung (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 29979
Tenor
1. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch der Antragstellerin vom 07.08.2024 aufschiebende Wirkung hat.
2. In entsprechender Anwendung des § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO wird aufgrund der nicht vollziehbaren Anordnung der Inobhutnahme des Kindes L. …, geb. am … 2021, angeordnet, dass der Antragsgegner das Kind unverzüglich an die Antragstellerin herauszugeben hat, soweit bzw. solange ihr das Aufenthaltsbestimmungsrecht für das Kind zusteht.
3. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
4. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe bewilligt. Es wird ihr Rechtsanwalt …, …, … … beigeordnet.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Herausgabe ihres vom Antragsgegner am 07.08.2024 in Obhut genommenen Sohnes L. …, geboren am …2021.
2
Das Kind der Antragstellerin wurde am Vormittag des 07.08.2024 ohne ihre vorherige Anhörung durch das Jugendamt des Antragsgegners im Kindergarten in Obhut genommen und direkt einer Bereitschaftspflegefamilie übergeben. Eine familienrechtliche Entscheidung nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII lag in Ermangelung eines Kontaktversuchs zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Die Antragstellerin wurde im Nachgang bei sich zuhause durch eine Mitarbeiterin des Jugendamts in Begleitung von Polizeibeamten über die Maßnahme informiert. Der Inobhutnahme hat sie nicht zugestimmt (Bl. 14 und 15 der Behördenakte). Als Grund für die Inobhutnahme wurde nach dem Vorbringen der Antragstellerin ihre unbestimmte Wohnsituation genannt. Eine schriftliche Bestätigung der Maßnahme erfolgte nicht. Eine schriftlich begründete Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Inobhutnahme erging nicht. Am Nachmittag des 07.08.2024 wurde das Familiengericht A. … mündlich über den Sachverhalt einschließlich der fehlenden Zustimmung der Antragstellerin zur Inobhutnahme unterrichtet (Bl. 40 der Gerichtsakte). Ein schriftlicher Antrag an das Familiengericht war zu diesem Zeitpunkt seitens des Antragsgegners spätestens für den 09.08.2024 angedacht (Bl. 5 der Behördenakte).
3
Der Inobhutnahme ging eine Sitzung des Kriseninterventionsteams des Antragsgegners am 06.08.2024 voraus. Dieses wurde zusammengerufen, nachdem ein telefonisch mit der Antragstellerin am 30.07.2024 für den 06.08.2024 um 14:30 Uhr vereinbartes Gespräch mit dem Jugendamt des Antragsgegners über die Perspektiven der Familie am Vormittag des 06.08.2024 seitens der Antragstellerin abgesagt wurde. Das Ergebnis des Zusammentreffens war ein Arbeitspapier zur Gefährdung des Kindes. Für Einzelheiten wird auf Blatt 1 ff. der Behördenakte verwiesen. Aus der knappen, stichpunktartigen Zusammenfassung des Arbeitspapiers (Bl. 4 f. der Behördenakte) ergibt sich aus dem Feld „Bei Kleinkinder (speziell Versorgungssituation)“, dass unklar sei, wie sich die Versorgungssituation des Kindes angesichts einer angespannten Finanzsituation der Antragstellerin weiterentwickele. Insbesondere sei unklar, ob es tatsächlich einen neuen Kita Platz für das Kind gebe. Die Antragstellerin sei ohne Kita Platz mit der täglichen Betreuung des Kindes massiv überfordert, wenn der Lebenspartner der Antragstellerin arbeiten gehe. Unter „Welche Gefährdung liegt vor?“ wird im Wesentlichen die wirtschaftliche Situation der Antragstellerin als bedenklich eingestuft. Es wird seitens des Jugendamts eine Überschuldung angenommen, daneben sei bekannt, dass die Leistungen des Jobcenters für die Antragstellerin zwischenzeitlich eingestellt worden seien. Der Krankenversicherungsstatus des Kindes sei ab dem 01.08.2024 ungeklärt. Es bestünde eine Suchterkrankung der Antragstellerin, daneben gebe es Streit und Gewalt. Es ist die Rede von einem unerzogenen Rottweiler. Die Antragstellerin sei instabil. Sie berichte immer wieder über drastische Vorfälle und Krankheiten, die unglaubwürdig seien. Die Krankheiten konnten ärztlicherseits nicht verifiziert werden. Unter „Was macht dem Kind momentan besonders zu schaffen?“ wird die fehlende Tagesstruktur genannt. Es gebe immer wieder einen Verlust von Bezugspersonen und des Wohnortes. Zuhause herrsche ein völlig chaotisches, aggressiv-lautes, instabiles Umfeld. Es sei unklar, was aus dem Hund werde. Die Hygiene in der Wohnung sei schlecht, es werde geraucht. Es sei kein gutes Zimmer oder guter Spielort mehr vorhanden. Es gebe keine verbindliche Sicherheit. Unter „Worin sehen sich die Erziehungsberechtigten in der gegenwärtigen Situation besonders beeinträchtigt?“ wird ausgeführt, dass sich diese zu Unrecht beschuldigt sehen und ihre Bemühungen nicht gesehen würden. Sie seien genervt von Kontrolle und wollten in Ruhe gelassen werden. Sie fühlten sich für den Wohnungsverlust und anderes nicht wirklich verantwortlich. Es käme Druck von allen Seiten und es werde gelogen. Unter „Welches sind die besonderen Bewältigungs- und Entwicklungspotentiale dieser Familie?“ wird ausgeführt, dass es eine Strategie von Ausweichen, Ausredenfinden und Unverbindlichkeit gebe. Sie seien nicht erreichbar. Es würden Probleme negiert. Sie ließen sich nichts sagen. Es gebe destruktive Kommunikationsstrukturen und Betrug. Dies sei in der Persönlichkeit der Antragstellerin verfestigt. Anhaltspunkte für Mitwirkungsbereitschaft und -fähigkeit gebe es aus jahrelanger Erfahrung nicht. Es bestünde der Verdacht, dass es bei der Antragstellerin vermutlich an der Fähigkeit zur Einsicht fehle. Es wurde seitens des Kriseninterventionsteams insoweit ein Gutachten bedacht und mit Fragezeichen versehen. Es bestünde nach jahrelanger Erfahrung vordergründig und mit viel Druck eine Bereitschaft zur Kooperation, allerdings bestehe auf der reellen Handlungs- und Motivationsebene und der praktischen Umsetzung keine Kooperationsbereitschaft. Es bestehe keine Bereitschaft, Hilfe anzunehmen. Über die Jahre und allen Fachkräften gegenüber habe es immer wieder massive Widerstände und Abwehr gegeben. Seitens der Antragstellerin gebe es aktive Verweigerung. Dies sei Teil ihrer Persönlichkeitsstruktur. Unter „Sind die bisherigen Unterstützungsversuche ausreichend?“ wird verneinend konstatiert, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft und diese bis an die Schmerzgrenze der Gefahr ausgedehnt worden seien. Unter „Handlungsbedarf“ wurde eine akute Gefahr bejaht, dass die Antragstellerin dekompensiere, sich nicht mehr steuern könne, abtauche oder erheblich konsumiere, wenn ihr klar würde, dass das Jugendamt weitere Maßnahmen prüfe. Da seit Monaten nichts Ausreichendes vorgelegt worden sei, sei aus Sicht des Kriseninterventionsteams die Existenzsicherung ab dem 01.08.2024 nicht sichergestellt. Komme das ganze System noch mehr unter Druck, sei das Kind gefährdet, es könne sich nicht selbst helfen. Hinsichtlich des weiteren Vorgehens wurde angemerkt, dass es eine Inobhutnahme des Kindes am nächsten Tag (07.08.2024) aus der Krippe geben solle. Das Kind dürfe dem gefährdenden Setting zu Hause nicht ausgesetzt sein („instabile KM, Hund, Tür wird nicht geöffnet“). Unter Ziffer 8.4 steht: „generell: nach IO familiengerichtliche Klärung wird nötig werden, da andere Maßnahmen zur Sicherung des KW als bisher installiert werden müssen“.
4
Mit Schriftsatz vom 07.08.2024, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag, stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO.
Das Kind, L. …, geb. …2021, ist unverzüglich an die Kindesmutter und Antragstellerin herauszugeben, da die Inobhutnahme des Kindes der Antragstellerin durch das Jugendamt A. … am 07.08.2024 rechtswidrig war.
6
Zur Begründung wird ausgeführt, dass es zwar zutreffe, dass sie „aus der Wohnung gekündigt worden“ sei, allerdings gebe es weder ein Räumungsverfahren noch einen Räumungstitel. Eine Räumung sei erst in ferner Zukunft zu erwarten. Im Übrigen gelte es zu beachten, dass ein neuer Mietvertrag geschlossen worden sei. Jedoch verzögere sich wegen der Bearbeitungszeiträume des Jobcenters der Einzug in die neue Wohnung noch, da bisher noch die Zahlungen an den alten Vermieter erfolgt seien. Die Antragstellerin hält die Maßnahme für formell und materiell rechtswidrig. Es fehle in formeller Hinsicht bereits an der notwendigen Anhörung. In materieller Hinsicht ermangele es an einer ordnungsgemäßen Beteiligung des Familiengerichts.
7
Mit Schriftsatz vom 08.08.2024 legte der Bevollmächtigte der Antragstellerin zudem Widerspruch beim Landratsamt A. … ein. Es wurde beantragt, die Inobhutnahme des Kindes sofort aufzuheben und das Kind sofort der Mutter zu übergeben. Die Anträge wurden mit der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme begründet. Es sei kein Grund ersichtlich, weshalb eine Inobhutnahme ohne vorherige Stellungnahmefrist für die Mutter und ohne vorherigen Antrag an das Familiengericht geboten gewesen sein soll.
8
Eine sofortige Vollziehbarkeit der Inobhutnahme wurde auch nach Einlegung des Widerspruchs nicht angeordnet.
9
Mit Schriftsatz vom 07.08.2024 (richtig wohl: 09.08.2024) beantragte der Antragsgegner:
10
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird abgelehnt.
11
Der Antragsgegner führt hierzu aus, dass das Kind aufgrund einer akuten Kindswohlgefährdung in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht worden sei. Der Vater sei nicht über die Maßnahme des Jugendamtes in Kenntnis gesetzt worden, weil dieser seit mehr als einem Jahr unbekannten Aufenthaltes sei. Eine vorige Anhörung sei aufgrund der Gefährdungslage und des unberechenbaren Verhaltens der Antragstellerin nicht möglich und nicht angezeigt gewesen. Eine Rückführung des Kindes in den Haushalt der Antragstellerin sei wegen der bestehenden nicht einschätzbaren und akuten Gefährdungslage nicht möglich. Über die Herausgabe des Kindes habe das Familiengericht im Rahmen des dort laufenden Eilverfahrens zu entscheiden. Der Antrag gehe daher ins Leere und sei unzulässig.
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Für Einzelheiten verweist der Antragsgegner auf seinen Schriftsatz vom 08.08.2024 an das Amtsgericht A. …, Abteilung für Familiensachen. In diesem Schriftsatz wird einerseits die Vorgeschichte der Antragstellerin und des Kindes geschildert. Zum Geschehen unmittelbar vor der Inobhutnahme des Kindes äußert sich der Schriftsatz wie folgt: Nachdem die Antragstellerin einen am 30.07.2024 vereinbarten Termin zum 06.08.2024 um 08:30 Uhr mit dem Jugendamt abgesagt habe, sei ein Kriseninterventionsteam zur Erörterung einer Kindeswohlgefährdung einberufen worden um zu klären, ob das Jugendamt akute Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohl einleiten müsse. Aus Sicht des Jugendamts des Antragsgegners würden sich vor allem Fragen rund um die Wohnsituation und die finanziellen Situation der Antragstellerin stellen. Daneben solle sich neben einem Rottweiler der Familie auch ein weiterer Hund in der Wohnung aufhalten. Es sei unklar, inwieweit der Rottweiler, der bisher ein freundliches Gemüt zeige, eine Gefährdung darstelle. Ferner sei ein Kontakt zum Jobcenter B. … nicht weitergeleitet worden, was angedacht gewesen sei, um eine Bestätigung seitens des Jugendamts auszustellen. Das Jobcenter A. … habe seine Leistungen zum 31.07.2024 eingestellt. Ein Nachweis über eine Krankenversicherung für das Kind liege nicht vor. Eine Kindergartenbestätigung für das Kind am neuen Wohnort sei nicht vorgelegt worden, ein durchgängiger Krippenbesuch des Kindes sei nicht sichergestellt. Hilfeangebote seitens des Jugendamtes seien abgelehnt worden. Daneben bestünde offenbar eine unbehandelte Drogenabhängigkeit (Cannabis).
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Der Antragsgegner führt zum Ergebnis der Beratungen des Kriseninterventionsteams weiterhin aus: „Nach ausführlicher Abwägung aller rechtlichen und sozialpädagogischen Sachverhalte wird entschieden, dass [das Kind] am 07.08.2024 vormittags aus der Kinderkrippe heraus in Obhut genommen und damit vor der Stressreaktion, die bei [der Antragstellerin] durch eine Herausnahme des Kindes ausgelöst wird, geschützt ist. Es wird darüber hinaus entschieden, dass bei der generell instabilen psychischen Verfassung und dem unklaren Rauschmittelgebrauch der Mutter, der unklaren finanziellen Lage, der unklaren Bewerkstelligung des anstehenden Umzugs und dem Wegfall der Familienhilfe für das dreijährige Kind ein unkalkulierbares Risiko besteht, falls [die Antragstellerin] vorher über die Herausnahme informiert wird. Die Aussicht, nun vielleicht auch noch ihr drittes Kind dauerhaft zu verlieren, wird bei der Mutter verständlicherweise massive Ängste und immensen Stress auslösen, dem sie aus Sicht der beteiligten Fachkräfte nicht gewachsen sein wird. Es besteht die Gefahr der Dekompensation mit massiven Gefühlsausbrüchen und gegebenenfalls Kurzschlusshandlungen, mit dem Kind unterzutauchen. Aus Sicht der Fachkräfte besteht für [das Kind], ebenfalls aus oben genannten Gründen, eine akute Kindeswohlgefährdung durch das instabile Familiensystem, sobald die Mutter von einem Antrag des Jugendamtes an das Familiengericht zur Erörterung einer Kindeswohlgefährdung erfährt.“
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In dem Bericht der Familienhelferin vom 13.06.2024 (Bl. 40 ff. der Gerichtsakte), den der Antragsgegner ebenfalls an das Familiengericht übersandt hat, führt diese zusammenfassend aus: „Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine Zusammenarbeit mit der Mutter […], aber auch mit ihrem Lebensgefährten […] im Sinne einer Unterstützung der Familie und Abwendung einer Kindeswohlgefährdung im Rahmen einer ambulanten Sozialpädagogischen Familienhilfe nicht möglich ist. Insbesondere die Mutter lehnt die Maßnahme ab, kann nur in Ausnahmefällen, d.h. wenn es sie in massive Schwierigkeiten bringen würde, Unterstützung annehmen. Sie weiß grundsätzlich alles besser, selbst wenn man es ihr schwarz auf weiß zeigt. Sie will sich in nichts hereinreden lassen. Ihre Aussagen sind meist nicht zu verifizieren, weil keine Unterlagen vorgelegt werden. Die Betreuung und Fürsorge für [das Kind] ist stark von ihrer psychischen Befindlichkeit abhängig, die insbesondere durch mangelnde Impulskontrolle geprägt ist. Zudem sind ihre eigenen Bedürfnisse meist im Vordergrund. Eine durchgehende Betreuung in der Kinderkrippe war nicht im Ansatz gegeben. Im gesamten Berichtszeitraum war die Existenzsicherung nur in der Zeit der Inobhutnahme, als [das Kind] und sie bei Frau […] lebten, wirklich gesichert. Die finanziellen Verhältnisse sind unklar, ebenso die Wohnverhältnisse. Problematisch ist auch der im Haushalt lebende Rottweiler (Kampfhund 2. Klasse, Maulkorbpflicht, Anmeldung?).“
15
Mit Schriftsatz vom 14.08.2024 führt der Bevollmächtigte der Antragstellerin im Wesentlichen nochmal aus, dass eine Einschaltung des Familiengerichts hätte herbeigeführt werden müssen. Die Gefährdungssituation hätte sich in den Wochen vor der Inobhutnahme nicht wesentlich geändert. Es sei weder ein Schaden beim Kind eingetreten noch sei eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten gewesen. Daneben habe der Antragsgegner bereits am 06.08.2024 die Entscheidung zur Inobhutnahme getroffen.
16
Am 16.08.2024 legte der Antragsgegner die Behördenakte vor. Aus dieser ergibt sich, dass das Kind derzeit noch im Rahmen der Inobhutnahme bei einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht ist; eine Hilfe nach § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII wurde noch nicht gewährt (Bl. 22 der Behördenakte).
17
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakte sowie das Vorbringen der Beteiligten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog).
18
Der zulässige Antrag auf Herausgabe des Kindes hat auch in der Sache Erfolg.
19
1. Der Antrag ist zulässig.
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a) Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist eröffnet, §§ 62 SGB X, 40 Abs. 1 VwGO. Entgegen dem Vorbringen des Antragsgegners sind die Verwaltungsgerichte für die Überprüfung der Maßnahme der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII zuständig (BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 3; NdsOVG, B.v. 18.9.2009 – 4 LA 706/07 – juris Rn. 9; OVG NW, B.v. 22.12.2017 – 12 B 1553/17 – juris Rn. 5; OLG Frankfurt, B.v. 22.1.2019 – 4 WF 145/18 – juris Rn. 14; B.v. 13.3.2015 – 5 WF 313/14 – juris Rn. 7; OLG Brandenburg, B.v. 10.7.2019 – 13 UF 121/19 – juris Rn. 4; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 21; C. Schmidt in: BeckOGK, Stand: 1.5.2024, § 42 SGB VIII Rn. 190; Winkler in: BeckOK SozR, 73. Ed. 1.6.2024, § 42 SGB VIII Rn. 22b; Kepert in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 35; Tillmanns in: MüKoBGB, 9. Aufl. 2024, § 42 SGB VIII Rn. 16; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. Stand: 14.04.2022, § 42 Rn. 193; Ernst, FamRZ 2017, 1120/1121 f.; Möller in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, 3. Aufl. 2023, § 42 Rn. 75; Hoffmann, JAmt 2012, 244/249; Möller, JAmt 2011, 126/127; Wache in: Scholz/Kleffmann, Praxishandbuch Familienrecht, 42. EL 2022, Teil E Rn. 10; vgl. BVerfG, B.v. 26.4.2022 – 1 BvR 674/22 – juris Rn. 12: „Die Inobhutnahme stellt nach in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nahezu einhellig vertretener Auffassung einen Verwaltungsakt des Jugendamts dar, für dessen Überprüfung die Verwaltungsgerichte zuständig sind“). Das Familiengericht prüft demgegenüber sorgerechtliche Maßnahmen aus Anlass einer Kindeswohlgefährdung einschließlich einer Herausgabeverfügung nach § 1632 BGB oder die Entziehung der Personensorge nach §§ 1666 f. BGB (BVerfG, B.v. 26.4.2022 – 1 BvR 674/22 – juris Rn. 12; OVG NW, B.v. 11.9.2012 – 12 B 1020/12 – juris Rn. 7; OLG Bamberg, B.v. 11.8.1998 – 2 UF 169/98 – juris Rn. 13; Kepert in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 35; Trenczek/Beckmann in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42 Rn. 52). Beide Verfahren haben unterschiedliche Rechtsschutzziele (Trenczek/Beckmann in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42 Rn. 52; Hohmann-Dennhardt, FF 2019, 289/293).
21
Dem steht § 42 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 SGB VIII bei einem Herausgabeverlangen während einer laufenden Inobhutnahme nicht entgegen (BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 3; NdsOVG Lüneburg, B.v. 26.3.2010 – 4 PA 99/10 – juris Rn. 1; B.v. 18.9.2009 – 4 LA 706/07 – juris Rn. 9; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711; VG Würzburg, B.v. 28. 7.2020 – W 3 S 20.894 – juris Rn. 31; VG Neustadt (Weinstraße), B.v. 22.2.2017 – 4 L 165/17.NW; VG Cottbus, B.v. 8.10.2021 – 8 L 338/21; B.v. 2.12.2019 – VG 6 L 580/19; Möller, JAmt 2011, 126/127; Mann in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 42 Rn. 34; Dürbeck in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, § 42 Rn. 70, 70a; Winkler in: BeckOK SozR, 73. Ed. 1.6.2024, § 42 SGB VIII Rn. 22b; Köhler in: Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Aufl. 2020, § 42 Rn.22; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. Stand: 27.5.2024, § 42 Rn. 232; a.A. Trenczek/Beckmann in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, § 42 Rn. 52; Trenczek/Meysen, JAmt 2010, 543/544; Trenczek/Achterfeld/Beckmann in: Trenczek/Achterfeld/Beckmann u.a., Inobhutnahme, 4. Aufl. 2023, S. 341, 379, 387; DIJuF-Rechtsgutachten, JAmt 2011, 137/138; Ernst FamRZ 2017, 1120). Es handelt sich gerade nicht um eine Sonderzuweisung zur freiwilligen Gerichtsbarkeit, da der in § 42 Abs. 3 S. 2 SGB VIII genannte Widerspruch ein verwaltungsverfahrensrechtlicher Rechtsbehelf sui generis ist, der auf eine Überdenkung durch das Jugendamt und anschließend ggfs. auf das Anstoßen eines familiengerichtlichen Verfahrens durch das Jugendamt gerichtet ist (Möller, JAmt 2011, 126/127). Es gibt im Gesetz keine Anhaltspunkte dafür, dass dieser Widerspruch an die Stelle des Widerspruchs nach den §§ 68 ff. VwGO treten soll. Es wäre zudem mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar, den grundrechtlichen verbürgten Folgenbeseitigungsanspruch (Hillgruber in: Kahl/Ludwigs, Handbuch des Verwaltungsrechts, Band V, 2023, § 151 Rn. Rn. 105) und die damit verbundene Restitution ins Leere laufen zu lassen (vgl. Windthorst in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 80 Rn. 35 ff.).
22
b) Das Rechtsschutzbegehren der Antragstellerin ist nach verständiger Würdigung (aa) verwaltungsprozessual als statthafter Antrag gerichtet auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung mit gleichzeitiger gerichtlicher Aufhebung der Vollziehung entsprechend § 80 Abs. 5 S. 1, 3 VwGO aufzufassen (cc). Sie wendet sich gegen die Vollziehung eines belastenden Verwaltungsakts, der aufgrund eines eingelegten Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 VwGO von Gesetzes wegen nicht vollziehbar ist (bb).
23
aa) Der Antrag der Antragstellerin gerichtet auf Herausgabe des Kindes bedarf nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO der Auslegung. Das Gericht darf hiernach über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Das Bundesverwaltungsgericht führt hierzu aus: „Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden; es hat vielmehr das tatsächliche Rechtschutzbegehren zu ermitteln (Urteil vom 3. Juli 1992 – BVerwG 8 C 72.90 – Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 19 S. 4 f.; Beschlüsse vom 5. Februar 1998 – BVerwG 2 B 56.97 – Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 25 und vom 17. Dezember 2009 – BVerwG 6 B 30.09 – Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 38 Rn. 3). Maßgebend für den Umfang des Klagebegehrens ist das aus dem gesamten Parteivorbringen, insbesondere der Klagebegründung, zu entnehmende wirkliche Rechtsschutzziel (stRspr; Urteil vom 3. Juli 1992 a.a.O.; Beschluss vom 25. Juni 2009 – BVerwG 9 B 20.09 – Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 37 Rn. 2). Insoweit sind die für die Auslegung von Willenserklärungen geltenden Grundsätze (§§ 133, 157 BGB) anzuwenden. Wesentlich ist der geäußerte Parteiwille, wie er sich aus der prozessualen Erklärung und sonstigen Umständen ergibt; der Wortlaut der Erklärung tritt hinter deren Sinn und Zweck zurück (Urteil vom 27. April 1990 – BVerwG 8 C 70.88 – Buchholz 310 § 74 VwGO Nr. 9 S. 5; Beschluss vom 19. Juni 2010 – BVerwG 6 B 12.10 – Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 55 Rn. 4). Neben dem Klageantrag und der Klagebegründung ist auch die Interessenlage des Klägers zu berücksichtigen, soweit sie sich aus dem Parteivortrag und sonstigen für das Gericht und den Beklagten als Empfänger der Prozesserklärung erkennbaren Umständen ergibt (vgl. Urteil vom 18. November 1982 – BVerwG 1 C 62.81 – Buchholz 310 § 82 VwGO Nr. 11 S. 5 f.; Beschlüsse vom 17. Dezember 2009 a.a.O. und vom 19. Juni 2010 a.a.O.). Ist aber der Kläger bei der Fassung des Klageantrages anwaltlich vertreten worden, kommt der Antragsformulierung allerdings gesteigerte Bedeutung für die Ermittlung des tatsächlich Gewollten zu. Selbst dann darf die Auslegung jedoch vom Antragswortlaut abweichen, wenn die Klagebegründung, die beigefügten Bescheide oder sonstige Umstände eindeutig erkennen lassen, dass das wirkliche Klageziel von der Antragsfassung abweicht.“ (BVerwG, B.v. 13.1.2012 – 9 B 56/11 – juris Rn. 7 f.; vgl. BVerwG, B.v. 12.3.2012 – 9 B 7/12 – juris Rn. 5 f.).
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Gemessen an diesen Maßstäben liegt das tatsächliche Rechtsschutzinteresse offensichtlich darin, dass das Kind der Antragstellerin an sie herausgegeben wird. Der Weg der prozessualen Verwirklichung ist hierfür nicht von Belang, auch wenn der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin sich ausdrücklich auf einen Antrag nach § 123 VwGO stützt. Ein solcher Antrag wäre unstatthaft, da vorliegend die Grundsätze über die faktische Vollziehung Anwendung finden.
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bb) Der Antragsgegner verkennt vorliegend, dass dem Anfechtungswiderspruch der Antragstellerin vom 07.08.2024 aufschiebende Wirkung zukommt und vollzieht damit faktisch den nach § 80 Abs. 1 VwGO in seiner Vollziehbarkeit suspendierten Verwaltungsakt.
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Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verpflichtet die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage (§ 80 Abs. 1 VwGO) die Behörde, für die Dauer des durch die Anfechtung des Verwaltungsaktes herbeigeführten Schwebezustandes alle Maßnahmen zu unterlassen, die – in einem weiten, auch die Besonderheiten rechtsgestaltender und feststellender Verwaltungsakte (§ 80 Abs. 1 S. 2 VwGO) berücksichtigenden Sinne – als Vollziehung zu qualifizieren sind, d.h. der Verwirklichung der mit dem Verwaltungsakt ausgesprochenen Rechtsfolge und der sich aus ihr ergebenden weiteren Nebenfolgen dienen. Demgemäß ist der Behörde durch § 80 Abs. 1 VwGO untersagt, einstweilen solche Folgerungen aus dem Verwaltungsakt zu ziehen, die sie vermöge ihrer Sonderstellung als Hoheitsträger ziehen könnte. Die aufschiebende Wirkung lässt die Wirksamkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes jedoch unberührt (BVerwG, U.v. 20.1.2016 – 9 C 1/15 – juris Rn. 12).
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Der wirksam mündlich bekanntgegebene Verwaltungsakt (§§ 33 Abs. 2, 39 SGB X) mit dem die Inobhutnahme ausgesprochen wurde, ist aufgrund des Anfechtungswiderspruchs der Antragstellerin vom 07.08.2024 nicht vollziehbar. Es bestehen keine Zweifel daran, dass dieser Anfechtungswiderspruch Träger der aufschiebenden Wirkung ist. Insbesondere ist dieser nach § 62 SGB X i.V.m. §§ 68 ff. VwGO im Freistaat Bayern nach Art. 12 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AGVwGO weiterhin fakultativ statthaft. Es handelt sich zudem nicht lediglich um einen Widerspruch nach § 42 Abs. 3 S. 2 SGB VIIII, wie aus dem Schriftsatz deutlich hervorgeht. (Offensichtliche) Zweifel gegen dessen Zulässigkeit im Übrigen bestehen ebenso nicht.
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Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass es sich bei der in Rede stehenden Maßnahme um eine Inobhutnahme handelt (Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. Stand: 27.05.2024, § 42 Rn. 158; Kepert in: LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 100; Möller in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, 3. Aufl. 2023; § 42 Rn. 75; Mann in: Schellhorn/Fischer/Mann/Kern, SGB VIII, 5. Aufl. 2017, § 42 Rn. 34; Ernst, FamRZ 2017, 1120/1122; Schmidt, NZFam 2023, 1052; Hohmann-Dennhardt, FF 2019, 289/293). Insbesondere liegt kein tatbestandsmäßiger Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO vor (VG Würzburg, B.v. 5.6.2018 – W 3 S 18.745 – juris Rn. 23; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 24; B.v. 2.10.2020 – M 18 S 20.4482 – juris Rn. 48; VG Neustadt (Weinstraße), B.v. 22.2.2017 – 4 L 165/17.NW – juris Rn. 4 f.; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. Stand: 27.05.2024, § 42 Rn. 159 f.). Das hat zur Folge, dass die weitere Vollziehung der Inobhutnahme zu unterbleiben hat und das Kind herauszugeben ist (Möller in: Möller, Praxiskommentar SGB VIII, 3. Aufl. 2023; § 42 Rn. 75). Entgegen einer Ansicht in der Literatur können die §§ 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, Abs. 3 VwGO nicht dergestalt teleologisch reduziert werden, dass eine sofortige Vollziehbarkeit konkludent und ohne schriftliche Begründung angeordnet werden könnte (so aber Trenczek/Achterfeld/Beckmann in: Trenczek/Achterfeld/Beckmann u.a., Inobhutnahme, 4. Aufl. 2023, S. 378 f.). Es fehlt an den Voraussetzungen für eine teleologische Reduktion (hierzu Möllers, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2021, § 6 Rn. 92 ff.). Die Notwendigkeit der schriftlichen Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit läuft bereits insoweit dem Normzweck nicht entgegen als spätestens nach der Inobhutnahme die Behörde im Regelfall auch ohne einen eingelegten Widerspruch umgehend die Anordnung und Begründung der sofortigen Vollziehbarkeit erlassen kann (vgl. VG München, B.v. 2.10.2020 – M 18 S 20.4482 – juris Rn. 49).
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cc) In Fällen der faktischen Vollziehung findet nach umstrittener aber zutreffender Auffassung nicht § 123 VwGO Anwendung, sondern § 80 Abs. 5 VwGO analog (BVerwG, B.v. 13.8.2019 – 6 VR 3/19 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 28.7.1982 – 20 AS 82 D.34; B.v. 29.1.2003 – 23 CS 02.3176 – juris Rn. 16; B.v. 16.3.2004 – 7 CS 03.3171 – juris Rn. 14; B.v. 6.10.2005 – 8 CE 05.585 – juris Rn. 11; B.v. 18.11.2019 – 4 CS 19.1839 – juris Rn. 4; Schoch in: Schoch/Schneider, VwGO, 45. EL Januar 2024, § 80 Rn. 352). Wird ein Verwaltungsakt vollzogen und später ein Rechtsbehelf eingelegt, der (rückwirkend) aufschiebende Wirkung zeitigt bzw. liegt ein Fall der faktischen Vollziehung vor, ist zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken auch § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO analog anwendbar (vgl. BayVGH, B.v. 15.11.2018 – 21 CE 18.854 – juris Rn. 55; B.v. 28.7.1982 – 20 AS 82 D.34; OVG Berlin-Bbg, B.v. 25.10.2016 – OVG 5 M 20.16 – juris Rn. 3; VGH BW, B.v. 18.4.1961 – IV 111/61; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 80 Rn .176; Gersdorf in: BeckOK VwGO, 70. Ed. 1.1.2024, § 80 Rn. 152, 159; Hoppe in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 115; Bostedt in: HK-VerwR, 5. Aufl. 2021, § 80 VwGO Rn. 168; Schoch in: Schoch/Schneider, VwGO, 45. EL Januar 2024, § 80 Rn. 342; Puttler in: NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 80 Rn. 163a; Buchheister in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 80 Rn. 63; Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 80 Rn. 119; Beutling/Niesler in: Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 5. Aufl. 2023, Kap. T Rn. 91 f.). Die Aufhebung der Vollziehung bedeutet vorliegend die Herausgabe des Kindes, entspricht also dem offensichtlichen Rechtsschutzziel der Antragstellerin.
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In direkter Anwendung des § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO handelt es sich um ein unselbstständiges Annexverfahren (vgl. BayVGH, B.v. 30. Juli 2018 – 10 CE 18.769, 10 CS 18.773 – juris Rn. 15; Schoch in: Schoch/Schneider, VwGO, 45. EL Januar 2024, § 80 Rn. 341), da erst die zum Erlasszeitpunkt zurückwirkende Anordnung bzw. Herstellung der aufschiebenden Wirkung eine Grundlage für einen Folgenbeseitigungsanspruch bietet (Beutling/Niesler in: Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 5. Aufl. 2023, Kap. T Rn. 80 f.). Die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 1 VwGO wirkt zwar bereits ex tunc zum Erlasszeitpunkt zurück (BVerwG, U.v. 20.1.2016 – 9 C 1/15 – juris Rn. 14; Windthorst in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 80 Rn. 122). Gleichwohl bedarf es aus Gründen der Klarstellung zugleich eines Antrags analog § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO, gerichtet auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung (Schoch in: Schoch/Schneider, VwGO, 45. EL Januar 2024, § 80 Rn. 356; a.A. Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 80 Rn. 120). Der klarstellende Feststellungantrag ist als notwendige Voraussetzung für die Aufhebung der Vollziehung vom Begehren der Antragstellerin umfasst (vgl. Külpmann in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 1018).
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c) Die Antragsbefugnis analog § 42 Abs. 2 VwGO wegen einer möglichen Verletzung des Art. 6 Abs. 2, 3 GG und dem draus resultierenden Folgenbeseitigungsanspruch liegt ebenso vor. Insbesondere steht nicht entgegen, dass vorliegend nur ein sorgeberechtigter Elternteil die Herausgabe begehrt und der Kindsvater unbekannten Aufenthalts verzogen ist. Die Inobhutnahme betrifft nämlich das grundrechtlich geschützte Sorgerecht beider Elternteile unabhängig voneinander (OVG NW, B.v. 2.3.2023 – 12 E 102/23 –, juris Rn. 6; VG Würzburg, B.v. 28.07.2020 – W 3 S 20.894 – juris Rn. 34 m.w.N. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. Stand: 27.05.2024, § 42 Rn. 162; C. Schmidt in: BeckOGK, 1.5.2024, § 42 SGB VIII Rn. 190.1; vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 4).
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2. Der Antrag ist bereits aus formellen Gründen nach § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO analog begründet, da der Widerspruch gegen die Inobhutnahme vom 07.08.2024 aufschiebende Wirkung hat, die der Antragsgegner derzeit mit der fortdauernden Inobhutnahme missachtet. Das Gericht hat daher die Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs auszusprechen (a). Daneben war auszusprechen, dass die (faktische) Vollziehung aufzuheben ist (b). Der Antragsgegner ist nicht daran gehindert, bei geänderter Tatsachenlage erneut eine Inobhutnahme anzuordnen (c).
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a) Das Gericht hat die Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO analog auszusprechen. Dadurch, dass der Antragsgegner das Kind fortwährend in Obhut hält, liegt ein Fall faktischen Vollzugs vor, da – wie im Rahmen der Prüfung der Statthaftigkeit des Rechtsbehelfs bereits dargelegt – der Anfechtungswiderspruch der Antragstellerin vom 07.08.2024 wirksam eingelegt wurde. Es bedarf in einem solchen Fall für die Anordnung der Feststellung der aufschiebenden Wirkung des eingelegten Rechtsbehelfs keiner weiteren Interessenabwägung (Schenke in: Kopp/Schenke, VwGO, 30. Aufl. 2024, § 80 Rn. 181).
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b) Daneben hatte das Gericht analog § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO auszusprechen, dass die Vollziehung des Verwaltungsakts aufzuheben ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen vor.
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aa) Der Folgenbeseitigungsanspruch als materielle Grundlage des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs (BayVGH, B.v. 15.11.2018 – 21 CE 18.854 – juris Rn. 55) folgt vorliegend aus Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 GG, da das Kind der Antragstellerin in rechts- und verfassungswidriger Weise vorenthalten wird (vgl. zur grundrechtlich fundierten Herleitung des Folgenbeseitigungsanspruchs BVerwG, U.v. 23.5.1989 – 7 C 2/87 – juris Rn. 80).
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bb) § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO analog eröffnet nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs dem Gericht ein Ermessen auch hinsichtlich des „Ob“ der Aufhebung der Vollziehung, ein „Automatismus“ der Aufhebung besteht auch im Falle einer faktischen Vollziehung nicht (BayVGH, B.v. 11.12.2020 – 3 CS 20.1407 – juris Rn. 19; a.A. Windthorst in: Gärditz, VwGO, 2. Aufl. 2018, § 80 Rn. 246): „Allerdings besteht nicht die vom Antragsteller dieser Vorschrift zugedachte „Automatik“, wonach Maßnahmen der faktischen Vollziehung entgegen bestehender aufschiebender Wirkung eines Rechtsmittels stets zu deren Aufhebung und Rückgängigmachung führen. Allein der Umstand, dass die seinerzeit mündlich angeordnete Zuweisung der Dienstwohnung im Hinblick auf den hiergegen erhobenen Widerspruch vom 6. Oktober 2017 nicht vollziehbar gewesen ist, erlaubt nicht den Schluss darauf, dass deshalb sämtliche mit der Zuweisung in Zusammenhang stehenden (rechtlichen oder tatsächlichen) Maßnahmen der Antragsgegnerin rückgängig gemacht werden müssten. Vielmehr bedarf es einer Interessenabwägung durch das angerufene Gericht, wobei auf die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung bereits der Wortlaut („kann“) des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO hinweist. Über die Aufhebung der Vollziehung als Annexregelung zu § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist demnach in entsprechender Anwendung der für die Entscheidung im Aussetzungsverfahren geltenden Grundsätze zu entscheiden und dabei das öffentliche Interesse am Fortbestand des Vollzugs gegen das Interesse des Antragstellers an seiner Aufhebung abzuwägen (Külpmann, a.a.O., Rn. 1026; VGH BW, B.v. 4.12.1973 – IV 1113/73 – juris; BA S. 10; a.A. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: Januar 2020, VwGO § 80 Rn. 446: Ermessen nur, soweit es um das „Wie“ der Rückgängigmachung geht; ebenso: Hoppe in Eyermann, a.a.O., § 80 Rn. 117).“
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Diese notwendige Interessenabwägung geht vorliegend zulasten des Antragsgegners aus. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der Verwaltungsakt bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessensabwägung. Der Verwaltungsakt erweist sich bei summarischer Prüfung aus mehreren Gründen als rechtswidrig.
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(a) Es kann dahinstehen, ob die Inobhutnahme aufgrund einer mangelnden Anhörung der Antragstellerin bereits formell rechtswidrig war oder aufgrund ihrer mentalen Konstitution ein Fall des § 24 Abs. 2 Nr. 1 SGB X vorlag. Hierfür spricht jedenfalls, dass eine Anhörung der Antragstellerin jedenfalls nicht im Beisein des Kindes hätte stattfinden müssen. Aus diesem Grund fand letztlich auch die nachträgliche Mitteilung der Inobhutnahme nicht im Beisein des Kindes statt. Jedenfalls erweist die Anordnung noch aus anderen Gründen als rechtswidrig.
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(b) Die Kammer hat nach summarischer Prüfung durchgreifende Zweifel, ob die defizitäre Tatsachenbasis eine dringende Gefahr nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII begründet. Eine dringende Gefahr ist Grundvoraussetzung einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII. Eine dringende Gefahr im Sinne der genannten Bestimmung muss – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein. Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme nicht aus (BayVGH B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 9). Eine konkrete Gefahr, die wie im Sicherheitsrecht zu definieren ist, ist eine Sachlage, die aus der maßgeblichen ex-ante-Sicht bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens im Einzelfall in absehbarer Zeit mit einer gemessen am Gewicht einer drohenden Rechtsgutsverletzung hinreichenden Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung des Rechtsguts, hier des Kindeswohls, führt (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2022 – 1 BvR 1345/21 – juris Rn. 187; BVerwG, U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8/01 – Rn. 35; Schoch/Kießling in: Schoch/Eifert, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2023, Kap. 1 Rn. 279). Das Schutzgut des Kindeswohls umfasst das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes i.S.d. § 1666 Abs. 1 BGB (vgl. BVerfG, B.v. 5.9.2022 – 1 BvR 65/22 – juris Rn. 20). Zudem gehören nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, B.v. 29.1.2010 – 1 BvR 374/09; B.v. 27.8.2014 – 1 BvR 1822/14 Rn. 25; B.v. 5.9.2022 – 1 BvR 65/22 – juris Rn. 19) die Eltern und deren sozio-ökonomische Verhältnisse grundsätzlich zum Schicksal und Lebensrisiko eines Kindes und es unterfällt demzufolge nicht dem Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, für eine den Fähigkeiten des Kindes bestmögliche Förderung zu sorgen. Es berechtigt daher nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, die Eltern bei der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten (VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 – juris Rn. 40). Für die Annahme einer Gefährdung des Kindeswohls – im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII sogar einer dringenden Gefahr für das Kindeswohl – bedarf es daher stets einer hinreichenden Tatsachengrundlage, aus der ablesbar ist, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder aber bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 12; VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 –, juris Rn. 40). Mutmaßungen und Vermutungen reichen nicht aus (Winkler in: BeckOK SozR, 73. Ed. 1.6.2024, § 42 SGB VIII Rn. 4).
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Werden die maßgeblichen Erwägungen, die der Antragsgegner zur Rechtfertigung der Inobhutnahme vorbringt, summarisch betrachtet, begründen diese gemessen an den genannten Voraussetzungen keine dringende konkrete Gefahr, sondern allenfalls eine latente Gefahr. Bei dieser müssen zunächst in Zukunft weitere Handlungen oder Umstände hinzutreten, um eine konkrete Gefahr zu begründen (vgl. Holzner in: BeckOK PolR Bayern, 24. Ed. 1.3.2024, Art. 11 PAG Rn. 45).
41
Bereits in seiner Antragserwiderung vom 07.08.2024 führt der Antragsgegner zunächst selbst aus, dass die Gefährdungslage „nicht einschätzbar“ aber dennoch akut sein soll (Bl. 34 der Gerichtsakte). Im Antrag an das Familiengericht vom 08.08.2024 (Bl. 36 der Gerichtsakten) heißt es ferner: „Mittelfristig verändern sich die Themenbereiche und Problematiken aber nicht nachhaltig im Sinne eines Kleinkindes und stellen ohne Kontrolle von außen eine durchgängige latente Kindeswohlgefährdung dar, die jederzeit akut werden kann“. Ferner attestierte der Antragsgegner bereits im Februar 2024 eine „mindestens latente[r] Kindeswohlgefährdung durch die Lebensumstände und die psychische Instabilität/ den Suchtmittelmissbrauch“ (Bl. 38 der Gerichtsakte). Es wird zudem ausgeführt: „Die latente Kindeswohlgefährdung konnte in 15 Monaten Begleitung durch eine SPFH mit klarem Kontrollauftrag seit Jahresbeginn nicht abgewendet werden. Unter Stress besteht jederzeit die Gefahr, dass [die Antragstellerin] sich nicht mehr im Griff und […] Bedürfnisse [des Kindes] schon gar nicht mehr im Blick hat.“ (Bl. 38 d. Gerichtsakte). Der Antragsgegner war sich deshalb bereits aus Sicht ex ante bewusst, – zumindest auch – auf Grundlage einer (tatbestandlich ungenügenden) ungewissen Gefährdungssituation zu handeln.
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Das wird durch das wenig kohärente Verhalten des Antragsgegners unterstrichen. Die Situation des Kindes ist dem Antragsgegner im Wesentlichen seit weit über einem Jahr bekannt, wie die Schilderung in dem Schriftsatz an das Familiengericht zeigt. So habe die latente Gefahr in 15 Monaten durch den Antragsgegner nicht abgewendet werden können (Bl. 38 der Gerichtsakte). In den Notizen des Kriseninterventionsteams vom 06.08.2024 steht zum Punkt „Sind die bisherigen Unterstützungsversuche ausreichend?“ zudem: „Nein, alle Möglichkeiten wurden ausgeschöpft und bis an die Grenze der Gef. ausgedehnt“ (Bl. 5 der Behördenakte). Zudem wurde mit der Antragstellerin am 30.07.2024 erst ein Termin am 06.08.2024 zur Abklärung der weiteren Perspektiven vereinbart. Auch aus dem Bericht über den Verlauf der Hilfe der Familienhelferin (Bl. 40 ff. der Gerichtsakte) lässt sich die Kenntnis des Antragsgegners von den Umständen entnehmen, in denen sich das Kind befand. Es ist für die Kammer aber nicht ersichtlich, warum gerade die vorhandene Tatsachenlage zum Zeitpunkt der Absage dieses Termins sich nun in einer akuten Kindeswohlgefährdung manifestiert haben soll, zumal am 06.08.2024 noch bis zum nächsten Tag mit der Inobhutnahme zugewartet wurde.
43
Auch die Tatsachen, die dem Antragsgegner erst in der jüngeren Zeit vor der Inobhutnahme zur Kenntnis gelangt sind, rechtfertigen nach summarischer Prüfung nicht die Annahme einer dringenden Gefahr.
44
Soweit es um die ungeklärte Wohnsituation der Antragstellerin und ihres Kindes geht, ist dem Antragsgegner bekannt gewesen, dass der Vermieter die fristlose Kündigung erklärt habe (Bl. 37 f. der Gerichtsakte) und eine Räumungsklage des Vermieters absehbar sei (Bl. 39, 46 der Gerichtsakte). Ein Auszug habe allerdings noch nicht stattgefunden. Entsprechend war unbekannt bzw. klärungsbedürftig, wie sich die Wohnsituation weiterentwickele (Bl. 39 der Gerichtsakte; Bl. 4 der Behördenakte). Bekannt war aber, dass eine neue Wohnung zur Verfügung stehe (die Kaution aber noch nicht gezahlt sei) bzw. die Antragstellerin gegenüber der Vermieterin angegeben habe, zur eigenen Mutter zu ziehen (Bl. 39 der Gerichtsakte; Bl. 3 der Behördenakte). In Ermangelung einer absehbaren Räumung fehlt es jedenfalls an der zeitlichen Komponente der konkreten Gefahr, da erst zahlreiche weitere (auch vollkommen ungewisse) Umstände hinzutreten müssten, damit eine konkrete Gefahr entsteht (vgl. Ehmann, Obdachlosigkeit in Kommunen, 3. Aufl. 2019, S. 61 ff.). Die von Verfassungs wegen erforderliche „ziemliche Sicherheit“ für die Gefährdung des Kindeswohls (vgl. BVerfG, B.v. 21.9.2020 – 1 BvR 528/19 – juris Rn. 30) ist damit nicht gegeben.
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Auch die Tatsachenbasis rund um die wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragstellerin ist diffus. So habe die Familienhelferin „keinen wirklichen Einblick in die finanzielle Existenzsicherung“ erhalten (Bl. 37 der Gerichtsakte). Es war bekannt, dass die Leistungen des Jobcenters zum 31.7.2018 eingestellt wurden (Bl. 39 der Gerichtsakte). Auch ist bekannt, dass in der Vergangenheit immer wieder Schulden aufliefen (Bl. 38 f., 41 der Gerichtsakte) und wohl Gelder des Jobcenters für die Miete bis Juli 2024 anderweitig verausgabt wurden (Bl. 37 f. der Gerichtsakte). Auch konnten nach Aktenlage in der Vergangenheit auch kleinere Ausgaben nicht geleistet werden (Bl. 41 der Gerichtsakte). Unklar ist zudem, inwieweit der Lebenspartner der Antragstellerin Geld verdiene, nachdem sich dieser ohne Führerschein als Hausmeister selbständig machen wollte (Bl. 42 der Gerichtsakte). Nicht klar ist, ob die Antragstellerin anderweitig Hilfsangebote zur Sicherung des Lebensbedarfs oder ihre Familie in Anspruch nimmt, etwa ihre Eltern oder Großeltern. Es fehlt damit an einer hinreichenden Tatsachenkenntnis über die tatsächlichen finanziellen Verhältnisse unmittelbar vor der Inobhutnahme und der hieraus folgenden Auswirkungen auf das Kindeswohl.
46
Wie sich den Ausführungen in dem Schriftsatz an das Familiengericht entnehmen lässt, wurde die Vorgehensweise, das Kind aus dem Kindergarten abzuholen, offenbar allein deshalb gewählt, um den erwarteten Widerstand der Mutter zu verhindern (Bl. 39 f. der Gerichtsakte). Insoweit soll das zu erwartende Verhalten der Antragstellerin ebenfalls eine akute Kindeswohlgefährdung darstellen (Bl. 40 der Gerichtsakte). Es ist diesbezüglich nicht von einer dringenden Gefahr auszugehen, da es der Antragsgegner selbst in der Hand hatte, zumindest diese angenommene Gefahr für das Kindeswohl zu vermeiden. Der Erlass einstweiliger Maßnahmen durch das Familiengericht ist nämlich auch ohne Anhörung der Eltern oder des Kindes möglich (§§ 159 Abs. 3, 160 Abs. 3 FamFG).
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Das Gericht verkennt nicht, dass das Gesamtbild der Anhaltspunkte durchaus einen mehr als hinreichenden Anlass gibt, abzuklären, ob und in welchen Aspekten in tatsächlicher Hinsicht eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Lediglich die besondere Dringlichkeit der Gefahrensituation, die das gewählte Vorgehen des Antragsgegners rechtfertigen würde, vermag die Kammer nach summarischer Prüfung nicht zu erkennen.
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(c) Jedenfalls hätte nach Aktenlage eine vorige familiengerichtliche Entscheidung rechtzeitig eingeholt werden können bzw. hätte zumindest der Versuch hierzu unternommen werden müssen (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VIII). Bei einem Widerspruch der Personensorgeberechtigten kommt eine Inobhutnahme, bei der es sich in einem freiheitlichen Rechtsstaat um einen der denkbar schwersten Eingriffe in das grundrechtlich nach Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht handelt, nur in Betracht, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Die Inobhutnahme ist somit ultima ratio und gegenüber Entscheidungen des Familiengerichts nachrangig. Vor der Inobhutnahme muss deshalb grundsätzlich versucht werden, eine Entscheidung des Familiengerichts einzuholen (BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 14). Es ist in Erinnerung zu rufen, dass die Inobhutnahme ohne Einschaltung des Familiengerichts deshalb ein reiner Notkompetenztitel ist (AG Schwäbisch Hall, B.v. 29.7.2022 – 2 F 528/21 – juris Rn. 56). Es kommt bei der Anrufung des Familiengerichts nicht darauf an, ob ein Gericht rechtzeitig „kontaktiert“ werden kann oder ob ein Antrag beim Familiengericht rechtzeitig hätte gestellt werden können. Vielmehr ist maßgeblich darauf abzustellen, ob eine Entscheidung des Familiengerichts, und sei es eine einstweilige Anordnung, noch rechtzeitig hätte erwirkt werden können, um der Kindeswohlgefährdung zu begegnen. Bloße Vermutungen, dass das Gericht nicht erreichbar sei oder eine Entscheidung innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit nicht treffen werde, genügen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 4 ff., 14; OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 129 ff.; VGH BW, B.v. 4.11.2021 – 12 S 3125/21 – juris Rn. 31 ff.; OVG MV, B.v. 26.4.2018 – 1 LZ 238/17 – juris Rn. 6; VG München, B.v. 29.6.2023 – M 18 S 23.3110 – juris Rn. 52 ff.; VG München, GB v. 4.4.2023 – M 18 K 18.5285 – juris Rn. 69 ff. m.w.N.; VG München, B.v. 30.7.2024 – M 18 S 24.4443 – juris Rn. 49). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es von Verfassungs wegen richterliche Eil- und Bereitschaftsdienste jedenfalls in der Zeit von 6 bis 21 Uhr geben muss und auch gibt. Es ist daher davon auszugehen, dass es dem Jugendamt in nahezu allen Fällen möglich ist, dem Familiengericht den Sachverhalt zu schildern und nachzufragen, wann eine gerichtliche Entscheidung – einschließlich einstweiliger Maßnahmen ohne mündliche Verhandlung (§ 51 Abs. 2 S. 2 FamFG), ohne vorherige Anhörung der Eltern (§ 160 Abs. 3 FamFG) und ohne Anhörung des Kindes (§ 159 Abs. 3 S. 2 FamFG) – zu erwarten ist. Es ist daher dem Familiengericht auch sehr kurzfristig möglich, nach mündlicher Schilderung des Sachverhalts den Eltern das Sorgerecht vorläufig zu entziehen und das Jugendamt zum Amtspfleger zu bestellen (zum Ganzen Dürbeck in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, § 42 Rn. 15).
49
Diesen Anforderungen wurde der Antragsgegner nicht gerecht. Vorliegend ist aus dem Vorbringen und der Behördenakte bereits nicht ersichtlich, dass sich der Antragsgegner überhaupt Gedanken gemacht hat, vor der Inobhutnahme das Familiengericht anzurufen. Nachdem das Kriseninterventionsteam des Antragsgegners am Vortrag der Inobhutnahme (Dienstag den 6.8.2024) zusammengetreten ist und eine akute Kindeswohlgefährdung angenommen hat, wurde vielmehr am gleichen Tag um 19.30 Uhr Polizeischutz für die Mitarbeiterin organisiert, die der Mutter die Mitteilung über die Inobhutnahme machen sollte (Bl. 6 der Behördenakte) und um 19:58 Uhr ein Wagen organisiert, mit dem das Kind zur Bereitschaftspflegefamilie verbracht werden sollte (Bl. 11 der Behördenakte). Am Folgetag wurde mit der Krippenleitung Kontakt aufgenommen und mit dieser über die Herausnahme des Kindes gesprochen (Bl. 40 der Gerichtsakte). Aus dem Arbeitspapier vom 6.8.2024 geht zudem ausdrücklich hervor, dass die „familiengerichtliche Klärung“ auf den Zeitraum nach der Inobhutnahme gelegt werden sollte. Wieso vorher davon abgesehen wurde, geht hieraus nicht hervor. Angesichts dieser Ausgangslage ist nicht ersichtlich und aus Sicht der Kammer unverständlich, wieso nicht das Familiengericht vorher informiert wurde. Es ist nicht ersichtlich, dass es nicht möglich gewesen wäre, das Familiengericht rechtzeitig zu erreichen. Insbesondere befand sich das Kind vor seiner Inobhutnahme im Rahmen der Krippe in einem geschützten Raum. Er wäre also am Vorabend der Inobhutnahme und am Vormittag des Tags der Inobhutnahme während des Krippenbesuchs zumindest ein Kontaktversuch ohne weiteres möglich gewesen. Angesichts der oben dargelegten Möglichkeiten vorläufiger Maßnahmen des Familiengerichts war eine rechtzeitige Entscheidung zudem nicht unwahrscheinlich. Da aber bereits der im Grundsatz notwendige Kontaktaufnahmeversuch zum Familiengericht unterblieben ist, kommt es hierauf nicht mehr entscheidungserheblich an.
50
c) Soweit der Antragsgegner eine nachträgliche Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit beabsichtigt, gibt die Kammer zu bedenken, dass – wie vorstehend dargelegt – nach summarischer Prüfung der Sachlage der Erlass der Inobhutnahmeanordnung im Erlasszeitpunkt rechtswidrig war. Die Kammer weist ausdrücklich darauf hin, dass der Antragsgegner nicht daran gehindert ist, eine Inobhutnahme erneut auszusprechen, sofern sich – auch angesichts der bevorstehenden familiengerichtlichen Verfahren – die zugrundeliegende Tatsachenbasis ändert. Sollte zeitlich vor der in diesem Beschluss angeordneten Herausgabe des Kindes im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahren das Sorgerecht bzw. das Aufenthaltsrecht (vorläufig) entzogen werden, erübrigt sich die in dem Beschluss ausgesprochene Herausgabeanordnung.
51
3. Dem Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist auf Grund der Erfolgsaussichten gemäß § 166 VwGO, § 114 Abs. 1 ZPO stattzugeben. Im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Antrags bestanden Erfolgsaussichten hinsichtlich des einstweiligen Rechtsschutzantrags (s.o.). Die Antragstellerin erfüllt zudem die wirtschaftlichen Voraussetzungen. Der Antrag erscheint nicht mutwillig. Die Beiordnung eines Rechtsanwaltes ist im Hinblick auf die Bedeutung der Sache erforderlich (§ 121 Abs. 2 ZPO).
52
4. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 188 S. 2 VwGO gerichtskostenfrei.