Titel:
Kein Anspruch auf Erstattung des Differenzschadens wegen Vorteilsausgleichs
Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Arbeitet eine Abschalteinrichtung in einem Fahrzeug im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise wie im realen Fahrbetrieb und lässt sich die Frage nach ihrer Zulässigkeit nicht eindeutig und unzweifelhaft beantworten, so ist nicht ohne weiteres von einem sittenwidrigen Verhalten auszugehen. In diesem Fall muss der Käufer eines solchen Fahrzeugs auf andere Weise darlegen und beweisen, dass die für den Hersteller handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der jeweiligen Funktion in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auf den Differenzschaden wegen Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen hat sich der Käufer die ihm aus der vorgenommenen, uneingeschränkten Nutzung des Fahrzeugs entstandenen Vorteile anrechnen zu lassen, wie dies auch im Rahmen der Bestimmung des kleinen Schadensersatzes nach § 826 BGB gilt. Danach hat sich der Käufer die Nutzungsvorteile und den Restwert des Fahrzeugs – unabhängig von einer Weiterveräußerung insoweit schadensmindernd anzurechnen zu lassen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen. (Rn. 15 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
unzulässige Abschalteinrichtung, Differenzschaden, Nutzungsvorteile, Vorteilsausgleich, Restwert
Vorinstanz:
LG Kempten, Endurteil vom 31.05.2024 – 23 O 60/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 29742
Tenor
1. Der Antrag des Klägers, das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in den dort anhängigen Verfahren C-251/23, C-308/23 und C-666/23 auszusetzen, wird abgelehnt.
2. Die Parteien werden darauf hingewiesen, dass der Senat beabsichtigt, die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 31.05.2024, Az.: 23 O 60/24, gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht für die Klägerseite Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.
Entscheidungsgründe
1
Der Kläger nimmt die Beklagte als Herstellerin eines von ihm erworbenen Dieselfahrzeugs wegen behaupteter Abgasmanipulationen auf Schadensersatz in Anspruch.
2
Der Kläger bestellte am 14.03.2014 bei einem Autohändler einen Neuwagen der Marke VW Golf 2.0 TDI zu einem Kaufpreis von 42.436,01 EUR. Das Fahrzeug, dessen Erstzulassung am 26.06.2014 erfolgte, ist mit einem von der Beklagten hergestellten Dieselmotor der Baureihe EA 288 ausgestattet, der der Schadstoffklasse Euro 6 unterfällt. Zur Abgasreinigung trägt bei dem Fahrzeug zusätzlich zur Abgasrückführung ein Abgasnachbehandlungssystem in Form eines NOx-Speicherkatalysators (im Folgenden: NSK) bei. In der Motorsteuerungssoftware ist neben einem Thermofenster eine Funktion implementiert, durch die das Fahrzeug anhand von Fahrkurven erkennt, ob es sich auf dem Prüfstand für den Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) befindet. Am 06.05.2024 wies das Fahrzeug eine Laufleistung von 273.759 km auf. Der Restwert des Wagens belief sich zum 12.01.2024 auf 12.831,00 €.
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Der Kläger behauptet, dass die Prüfzykluserkennung die Umschaltung in einen besonderen Betriebsmodus bewirke, in dem die Abgasreinigung gezielt verstärkt werde, so dass die Emissionsgrenzwerte nur dort eingehalten würden. Das Thermofenster sei so konfiguriert, dass es die Abgasrückführungsrate bereits bei einer Außentemperatur unterhalb von +15 Grad Celsius bzw. oberhalb von +33 Grad Celsius schrittweise reduziere.
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Die Beklagte behauptet, dass die Fahrkurvenerkennung nicht als unzulässige Abschalteinrichtung wirke: Bei Fahrzeugen mit NSK werde die Fahrkurvenerkennung eingesetzt, um sicherzustellen, dass im Rahmen der Typprüfung mindestens einmal eine Regeneration des NSK erfolge und nicht um in einen besonderen Modus zu umzuschalten, der eine Einhaltung der Emissionsgrenzwerte auf dem Prüfstand sicherstelle. Das Thermofenster sei so konfiguriert, dass es die Abgasrückführungsrate erst bei Temperaturen unterhalb von -24 bzw. oberhalb von +70 Grad reduziere, also bei Extremtemperaturen, die unter normalen Bedingungen nicht eintreten.
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Das Landgericht hat die Klage, mit der der Kläger primär den sog. „großen“ Schadenersatz und hilfsweise Ersatz einer Wertminderung im Erwerbszeitpunkt sowie die Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten geltend macht, mit Urteil vom 31.05.2024 abgewiesen. Ein Anspruch auf großen Schadenersatz gemäß § 826 BGB bestehe nicht. Der Kläger habe eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung durch die Beklagte nicht schlüssig dargelegt. Ersatz eines Differenzschadens könne er jedenfalls deshalb nicht verlangen, weil die Summe aus dem Restwert des Fahrzeugs und den gezogenen Nutzungsvorteilen über dem Kaufpreis liege und der in Rede stehende Schaden somit durch anrechenbare Vorteile aufgezehrt sei.
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Der Kläger hat gegen das seinen Prozessbevollmächtigten am 04.06.2024 zugestellte Urteil über diese mit Schriftsatz vom 26.06.2024, eingegangen beim Oberlandesgericht München am selben Tag, Berufung eingelegt. Das Rechtsmittel wurde mit weiterem Schriftsatz der Klägervertreter vom 22.08.2024 innerhalb verlängerter Frist begründet. Der Kläger verfolgt seine erstinstanzlichen Rechtsschutzziele weiter. Hilfsweise hat er eine Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über drei dort derzeit anhängige Vorabentscheidungsverfahren beantragt.
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Die Voraussetzungen für eine Zurückweisung der Berufung durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO liegen vor. Insbesondere hat die Berufung nach einstimmiger Überzeugung des Senats offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Das angefochtene Urteil des Landgerichts weist weder Rechtsfehler zum Nachteil des Klägers auf, noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 ZPO). Das Landgericht hat die Klage zu Recht in vollem Umfang abgewiesen.
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1) Als Anspruchsgrundlage für den mit dem Hauptantrag geltend gemachten Anspruch auf großen Schadenersatz kommt § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 6 Abs. 1 EG-FGV nicht in Betracht (BGH, Urteil vom 26.06.2023, VIa ZR 335/21, Rn 19 – zitiert nach beck-online), sondern allein § 826 BGB. Die Bewertung des Landgerichts, wonach der Kläger die Voraussetzungen eines Anspruchs wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB nicht schlüssig dargelegt habe, ist nicht zu beanstanden.
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a. Voraussetzung für eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB wäre nach der Rechtsprechung des BGH, dass die Beklagte in den Motor des in Rede stehenden Fahrzeugs mit einem Motor der Baureihe EA 288 eine unzulässige Abschalteinrichtung i.S.v. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 installiert hätte und dieser Umstand der zuständigen Behörde bewusst verschwiegen worden wäre, um die Typgenehmigung zu erschleichen (vgl. etwa Beschluss vom 09.03.2021, ZR 889/20). Die Verantwortlichen der Beklagten müssten also nicht nur objektiv eine unzulässige Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung implementiert haben, sondern sich dessen auch bewusst gewesen sein und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen haben, um die Typgenehmigungsbehörde arglistig zu täuschen.
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Bei einer Abschalteinrichtung, die die Abgasreinigung ausschließlich im Prüfstandsbetrieb verstärkt aktiviert, ist eine arglistige Täuschung der Genehmigungsbehörde indiziert (BGH, Beschluss vom 29.09.2021 – ZR 126/21). Arbeitet eine Abschalteinrichtung dagegen im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise wie im realen Fahrbetrieb und lässt sich die Frage nach ihrer Zulässigkeit nicht eindeutig und unzweifelhaft beantworten, so ist nicht ohne weiteres von einem sittenwidrigen Verhalten auszugehen (BGH, Urteil vom 02.06.2022 – ZR 216/20). In diesem Fall muss die Klagepartei auf andere Weise darlegen und beweisen, dass die für den Hersteller handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der jeweiligen Funktion in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Der Fahrzeugkäufer darf dabei mangels Sachkunde und Einblicks in die Produktionsabläufe des Herstellers grundsätzlich auch vermutete Tatsachen vortragen. Er muss aber zumindest greifbare Anhaltspunkte für seine Behauptungen benennen und darf nicht willkürlich „ins Blaue hinein“ vortragen (BGH, Urteil vom 13.07.2021 – ZR 128/20).
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Gemessen an diesen Kriterien hat der Kläger seiner Darlegungslast für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten nicht entsprochen. Denn unabhängig davon, ob die Fahrkurvenerkennung und / oder das Thermofenster objektiv als unzulässige Abschalteinrichtungen i.S.v. Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 einzustufen sind, fehlt jeder greifbare Anhaltspunkt dafür, dass die Beklagte die Typgenehmigung – wie im Fall von Fahrzeugtypen mit Aggregaten der Baureihe EA 189, in denen die sog. „Umschaltlogik“ verbaut war – durch arglistige Täuschung erschlichen hat: Das Kraftfahrt-Bundesamt (im Folgenden: KBA) hat in einer Vielzahl von der Beklagten vorgelegter amtlicher Auskünfte zu Aggregaten der Baureihe EA 288 stets und ausnahmslos erklärt hat, dass die Behörde diese untersucht habe und dabei in keinem Fall eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden sei (vgl. speziell für einen Fahrzeugtyp, der – wie der Wagen des Klägers – der Schadstoffklasse Euro 6 unterfällt und mit einem Abgasnachbehandlungssystem in Form eines NSK ausgestattet ist, exemplarisch die als Anlage B58 vorgelegte Auskunft vom 04.05.2021). Speziell in Bezug auf die Fahrkurvenerkennung hat das KBA wiederholt ausgeführt, dass die Motorsteuerung zwar die aus anderen Fahrzeugen des VW-Konzerns bekannte Erkennung des Fahrprofils des gesetzlichen Typprüfzyklus aufweise, die daraus resultierenden Umschaltungen dabei aber – anders als bei Aggregaten des Typs EA 189 – nicht als unzulässige Abschalteinrichtung wirkten: Bei EA 288-Motoren mit NSK werde die Fahrkurvenerkennung genutzt, um sicherzustellen, dass im Rahmen der Typprüfung mindestens einmal eine Regeneration des NSK erfolge. Die NOx-Konvertierungsrate sei im Zyklus und bei Messungen auf der Straße indes auf vergleichbarem Niveau; im normalen Straßenbetrieb entstünde keine Verschlechterung der Emissionswerte. Eigene Untersuchungen des KBA hätten gezeigt, dass „auch bei Deaktivierung der Fahrkurvenfunktion die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen nicht überschritten werden“.
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Der Umstand, dass die Behörde, die die Beklagte getäuscht haben müsste, damit ein Anspruch aus § 826 BGB bestünde, die Funktion in einer Vielzahl amtlicher Auskünfte aus den wiedergegebenen Gründen als gesetzeskonform erachtet hat, lässt keinen Raum für die Annahme, die Typgenehmigung sei durch Täuschung erschlichen worden.
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2) Da der Kläger aus den erläuterten Gründen keinen Anspruch auf großen Schadenersatz hat und sich die Beklagte demgemäß mit der Annahme des Fahrzeugs nicht in Verzug befindet, ist auch der diesbezügliche Feststellungsantrag unbegründet.
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3) Den mit dem Hilfsantrag geltend gemachten Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz eines durch die Implementierung objektiv unzulässiger Abschalteinrichtungen in der Motorsteuerung des Fahrzeugs bedingten Minderwerts des Fahrzeugs im Erwerbszeitpunkt hat das Landgericht ebenfalls zu Recht verneint. Ein solcher Anspruch scheitert jedenfalls daran, dass der geltend gemachte Schaden durch anrechenbare Vorteile aus dem Erwerb des Fahrzeugs aufgezehrt ist.
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a. Gemäß § 249 BGB ist der Schadenersatzberechtigte vom Schädiger (wirtschaftlich) so zu stellen, wie er ohne das schädigende Ereignis stünde. Daraus folgt zugleich, dass der Schadenersatz nicht zu einer Bereicherung des Geschädigten führen soll (schadensrechtliches Bereicherungsverbot). Demgemäß muss sich der Gläubiger grundsätzlich Vermögensvorteile, die ihm durch das schädigende Ereignis zugeflossen sind, anrechnen lassen, sofern dies weder zu einer unangemessenen Entlastung des Schädigers noch zu einer unzumutbaren Belastung des Geschädigten führt (Vorteilsausgleichung). Diese Grundsätze gelten, wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 26.06.2023 (VIa ZR 335/21, Rn 80) klargestellt hat, auch für einen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens unabhängig davon, ob dieser auf § 826 oder auf § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gestützt wird. So sind namentlich Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs auf den Differenzschaden anzurechnen, wenn und soweit sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, Rn. 22). Übersteigt die Summe aus Gebrauchsvorteilen und Restwert den gezahlten Kaufpreis, ist der Schaden vollständig aufgezehrt. Die anzurechnenden Vorteile sind dabei vom Gericht gemäß § 287 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu schätzen (BGH, Urteil vom 24.01.2022, VIa ZR 100/21, Rn 24).
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Nach diesen Kriterien ist ein etwaiger Differenzschaden hier durch anzurechnende Vorteile entfallen, weil die Summe aus dem Restwert des Fahrzeugs und den vom Kläger gezogenen Nutzungsvorteilen über dem Kaufpreis liegt.
- Der Restwert des Fahrzeugs belief sich dem Tatbestand des Ersturteils zufolge zum 12.01.2024 auf 12.831,00 €.
- Selbst wenn man die Nutzungsvorteile – anders als das Landgericht – nicht auf Grundlage einer erwarteten Gesamtlaufleistung von lediglich 250.000 km berechnete, sondern eine Gesamtlaufleistung von 300.000 km zugrunde legte, ergäbe sich ein Betrag in Höhe von 38.724,13 EUR (= 42.436,01 x 273.759 / 300.000), so dass die Summe aus Restwert und Nutzungsvorteil ebenfalls (weit) über dem Bruttokaufpreis läge (12.831,00 + 38.724,13 EUR = 51.555,13 EUR). Der geltend gemache Schaden wäre sogar dann aufgezehrt, wenn man von einer erwarteten Gesamtlaufleistung in Höhe von 350.000 km ausginge. Der Nutzungsvorteil beliefe sich dann nach der vorstehenden Formel auf 33.192,11 €; unter Hinzurechnung des Restwerts ergäbe sich eine Summe von 46.023,11 €.
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4) Eine Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten kann der Kläger schließlich ebenfalls nicht verlangen: Ein Anspruch aus § 826 BGB besteht nicht (s. o.) und § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV gewähren dem Fahrzeugkäufer in Diesel-Verfahren nur Anspruch auf Ersatz eines etwaigen Differenzschadens, aber keinen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten (BGH, Urteil vom 16.10.2023, VIa ZR 14/22, Rn 13 – zitiert nach beck-online).
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Die beantragte Verfahrensaussetzung war aus den folgenden Gründen abzulehnen:
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1) Gemäß § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen ist. Die Aussetzung erfordert damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit zu treffenden Entscheidung im Sinne einer zumindest teilweise präjudiziellen Bedeutung (vgl. BGH, Beschluss vom 30.03.2005, X ZB 26/04). Hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung einer Frage ab. die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt wurde, ist die Aussetzung des Verfahrens analog § 148 Abs. 1 ZPO grundsätzlich auch ohne gleichzeitiges Vorabentscheidungsersuchen in dem auszusetzenden Verfahren zulässig (vgl. Wendtland in: BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, 52. Edition 01.03.2024, § 148, Rn 4.1 m.w.N.). Nach der „acte claire“- Doktrin muss das nationale Gericht in einem solchen Fall allerdings nicht aussetzen, wenn die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt (vgl. EUGH, Urteil vom 06.10.1982 – C-283/81 = BeckRS 1982, 108239, BVerfG. Beschluss vom 15. Dezember 2015 – 2 BvR 2735/14) oder wenn die betreffende unionsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EUGH war (vgl. EuGH, Urteil vom 06.10.1982 a. a. O.).
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2) Nach diesen Grundsätzen besteht im vorliegenden Fall kein Anlass, das Verfahren bis zur Beantwortung der in den von der Klägerseite angeführten Vorlagebeschlüssen aufgeworfenen Fragen auszusetzen:
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a. Aus dem Vorlagebeschluss des Landgerichts Ravensburg vom 09.11.2023 – anhängig beim EuGH als Rechtssache C-666/23 – sind die Antworten auf die Fragen 1), 2) und 3b) für das vorliegende Verfahren nicht entscheidungserheblich: Frage 1) betrifft einen möglichen Anspruchsausschluss unter dem Gesichtspunkt eines unvermeidbaren Verbotsirrtums, Frage 2) eine mögliche Ersatzpflicht von Fahrzeugherstellern wegen etwaiger Schäden durch ein Software-Update und Frage 3b) die Zulässigkeit einer Beschränkung der Höhe des Differenzschadens auf maximal 15% des Kaufpreises. Im vorliegenden Fall ist keine dieser Fragen für die Entscheidung von Bedeutung.
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Frage 3a) des Vorlagebeschlusses, ob es mit Unionsrecht vereinbar ist, dass sich der Fahrzeugerwerber bei einem Anspruch auf kleinen Schadenersatz die Nutzungsvorteile anrechnen lassen muss, soweit diese zusammen mit dem Restwert den gezahlten Kaufpreis abzüglich jenes Schadenersatzbetrags übersteigen, ist bereits eindeutig geklärt: Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21.03.2023 zur Rechtssache C-100/21 (BeckRS 2023, 4652) ausgeführt, dass es in Ermangelung entsprechender unionsrechtlicher Vorschriften Sache der Mitgliedsstaaten ist, die Modalitäten für die Erlangung von Schadenersatz in einschlägigen Fällen festzulegen (a. a. O., Rn 92, zitiert nach beck-online). Nationale Rechtsvorschriften dürften es dem Käufer zwar nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, angemessenen Schadenersatz für einen Verstoß des Herstellers gegen das in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 enthaltene Verbot unzulässiger Abschalteinrichtungen zu erlangen (a. a. O., Rn. 93). Die nationalen Gerichte seien allerdings „befugt (…), dafür Sorge zu tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt“ (a. a. O., Rn 94). Da eine Nichtanrechnung gezogener Gebrauchsvorteile zu einer Bereicherung des Erwerbers führen würde, steht Unionsrecht der Annahme, dass ein vom Käufer aufgrund einer unzulässigen Abschalteinrichtung geltend gemachter Minderwert des Fahrzeugs im Erwerbszeitpunkt vollständig im Wege der Vorteilsausgleichung entfallen kann, wenn die Summe aus den Gebrauchsvorteilen und dem Restwert des Fahrzeugs den gezahlten Kaufpreis übersteigt, somit nicht entgegen.
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b. Die in den beiden Vorlagebeschlüssen des Landgerichts Duisburg vom 19.04.2023 (C-251/23) und 17.05.2023 (C-308/23) aufgeworfenen Fragen sind für das vorliegende Verfahren ebenfalls nicht entscheidungserheblich. Darin geht es zum einen um die Vereinbarkeit bestimmter Emissionssteuerungsmechanismen eines anderen Herstellers mit Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) 715/2007 und zum anderen darum, ob Vorschriften des nationalen Rechts mit Unionsrecht vereinbar sind, die dem Fahrzeugerwerber den Nachweis auferlegen, dass in seinem Fahrzeug eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung verbaut ist. Hierauf kommt es für die Entscheidung über die Berufung des Klägers nicht an: Ein Anspruch auf großen Schadenersatz aus § 826 BGB scheitert hier wie erläutert daran, dass – selbst bei unterstellter objektiver Unzulässigkeit der Fahrkurvenerkennung und des Thermofensters – keine greifbaren Anhaltspunkte dafür vorgetragen wurden oder sonst ersichtlich sind, dass die Beklagte die Typgenehmigung durch arglistige Täuschung erschlichen hat, und ein Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 6 Abs. 1 EG-FGV kommt deshalb nicht in Betracht, weil ein etwaiger Differenzschaden durch anrechenbare Vorteile aus dem Erwerb des Fahrzeugs aufgezehrt wäre.
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Der Senat regt an, die Berufung aus Kostengründen zurückzunehmen (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses). gez.