Titel:
Altersfestellung im Rahmen der Inobhutnahme in einer Jugendhilfereinrichtung
Normenketten:
SGB VIII § 42a, § 42f, § 88a
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsätze:
1. Die erneute vorläufige Inobhutnahme in einer Jugendhilfereinrichtung stellt sich daher rechtlich lediglich als erneute Vollziehung der ursprünglichen vorläufigen Inobhutnahmeverfügung nach § 88a Abs. 1 SGB VIII oder § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII dar . Dementsprechend wird durch eine solche Anordnung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes auch nicht die Regelung des § 88a SGB VIII durchbrochen (vgl. auch VG München BeckRS 2022, 38054). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. VGH München BeckRS 2017, 108039). Hieraus folgt, dass die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gem. § 42f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnung der aufschiebenden Wirkung, Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme, Altersfeststellungsverfahren, Auslegung Zweifelsfall, Kopie von T., Inkonsistente Angaben/ Widersprüchliche, Angaben, Verfahrensfehler mangels Vertreterbestellung, inkonsistente Angaben, widersprüchliche Angaben, Inobhutnahme, Jugendhilfereinrichtung, evidente Minderjährigkeit, qualifizierte Inaugenscheinnahme, Mitarbeiter eines Jugendamts, ärztlichen Untersuchung, eindeutige Volljährigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 29689
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme durch das Stadtjugendamt der Antragsgegnerin mit Bescheid vom 6. September 2024 wird bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers nach § 42a SGB VIII bis zur Feststellung der Volljährigkeit durch ein medizinisches Gutachten zur Altersbestimmung bzw. bis zu einer Entscheidung des Gerichts im Hauptsacheverfahren wiederaufzugreifen und fortzusetzen.
III. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Gründe
1
Der Antragsteller, eigenen Angaben zufolge afghanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit des Bescheids der Antragsgegnerin vom 6. September 2024, mit dem seine vorläufige Inobhutnahme beendet wurde.
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Der Antragsteller wurde am 3. September 2024 von der Antragsgegnerin gemäß § 42a SGB VIII vorläufig in Obhut genommen. In der „Erstmitteilung über die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten Minderjährigen (uM)“ und bei der „Registrierung der persönlichen Daten für eine Inobhutnahme“ wurde als Geburtsdatum jeweils ... 2007 erfasst.
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In einem Altersfeststellungsgespräch durch die Antragsgegnerin am 6. September 2024 gab der Antragsteller als Geburtsdatum den ... 2007 an. Seine T. , in der auch dieses Geburtsdatum stehe, befinde sich in Afghanistan. Sein Geburtsdatum sei ihm telefonisch von seiner Mutter genannt worden, als er vor drei Tagen nach Deutschland gekommen sei. Auch zuvor hätten seine Mutter und sein Onkel ihm sein Geburtsdatum genannt. Die Nummer seiner Mutter habe er mitgewaschen, sodass er lediglich die Nummer seines Onkels habe.
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Im Zuge einer körperlichen Inaugenscheinnahme dokumentierte die Antragsgegnerin neben dem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten des Antragstellers insbesondere, dass dieser offensichtlich volljährig sei.
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Mit Bescheid der Antragsgegnerin vom selben Tag, d.h. vom 6. September 2024, wurde unter Verweis auf fehlende Minderjährigkeit des Antragstellers die vorläufige Inobhutnahme beendet. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller keine beweiskräftigen bzw. ausreichend legalisierten Ausweispapiere oder sonstigen Dokumente vorgelegt habe. Ferner habe die Minderjährigkeit des Antragstellers nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme zweifelsfrei ausgeschlossen werden können. Die Überzeugung von der Volljährigkeit stütze sich insbesondere darauf, dass dem äußeren Erscheinungsbild nach der Körper des Antragstellers ausgereift und proportional entwickelt, seine Gesichtszüge markant und mit deutlich ausgeprägter Faltenbildung, der Bartschatten ausgeprägt sowie sein Hautbild grobporig seien. Der Antragsteller antworte auf den Punkt und verfolge die Argumentationslinie. Er interagiere „emotional-unabhängig“.
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Mit Schriftsatz vom 25. September 2024 – bei Gericht eingegangen am selben Tag per Fax – erhob der Antragsteller Klage gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 6. September 2024 (M 18 K 24.5813). Zugleich beantragte er,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
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Zur Begründung führte der Antragsteller im Wesentlichen aus, dass der Bescheid der Antragsgegnerin bereits formell rechtswidrig sei, da er nicht darüber belehrt worden sei, dass auf seinen Antrag hin eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung hätte durchgeführt werden müssen. Einer solchen Belehrung hätte es nach § 42a Abs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 1 SGB VIII zwingend bedurft. Der beigefügten T. könne entnommen werden, dass er am 12. August 2007 geboren sei. Die durchgeführte Alterseinschätzung genüge nicht den gesetzlichen Anforderungen. Es sei nicht ersichtlich, wie die Antragstellerin zu der Erkenntnis gelangen konnte, dass keine Zweifel an seiner Volljährigkeit bestünden.
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Mit Schriftsatz vom 11. Oktober 2024 beantragte die Antragsgegnerin,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde insbesondere vorgetragen, dass die für jedermann ohne Weiteres erkennbare Volljährigkeit des Antragstellers zweifelsfrei festgestellt und in einem Altersfeststellungsverfahren rechtmäßig bestimmt worden sei. Das Altersfeststellungsgespräch habe 1,5 Stunden gedauert. Es sei von „drei unabhängigen und erfahrenen pädagogischen MitarbeiterInnen“ der Antragsgegnerin nach den Richtlinien der von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter herausgegebenen Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen geführt worden. Des äußeren Erscheinungsbilds, der inhaltlichen Angaben sowie des gezeigten Verhaltens nach, habe es sich beim Antragsteller zweifelsfrei um eine volljährige Person gehandelt. In Zusammenhang mit den vagen und inkonsistenten Angaben des Antragstellers zu seiner Biografie ergäben sich auch unter Berücksichtigung der nunmehr vorgelegten T. keine Zweifel an der Feststellung der Antragsgegnerin. Das in der vorgelegten Kopie der T. genannte Geburtsdatum stehe im Widerspruch zu den Angaben des Antragstellers im Gespräch mit der Antragsgegnerin. Außerdem sei diese, soweit lesbar, am 12. August 2017 ausgestellt worden. Das darin abgedruckte Foto zeige keinen 10-jährigen Jungen, der Bartschatten sei erkennbar. Der Vortrag des Antragstellers in der Antragsschrift zur T. stehe im Widerspruch zu den vorher gemachten Aussagen. Insgesamt seien die inhaltlichen Angaben des Antragstellers zur Schule und Fluchtgeschichte nicht stringent und widersprüchlich. Im Übrigen werde auf die Begründung des Bescheids und die Behördenakte verwiesen.
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Mit Beschluss der Kammer vom 22. Oktober 2024 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren und im Klageverfahren (M 18 K 24.5813) sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers ist zulässig und begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht in Fällen, in denen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage oder des Widerspruchs entfällt, diese auf Antrag anordnen oder wiederherstellen.
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Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 6. September 2024 die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers beendet. Gemäß § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII haben Widerspruch und Klage gegen die Entscheidung des Jugendamts, aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift die vorläufige Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII abzulehnen oder zu beenden, keine aufschiebende Wirkung. Der Klage gegen die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme des Antragstellers kommt folglich keine aufschiebende Wirkung zu. Statthafter Rechtsbehelf im vorläufigen Rechtsschutz im Hinblick auf § 123 Abs. 5 VwGO ist demnach ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Gibt das Gericht einem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz statt und ordnet die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs oder einer Klage gegen die Beendigung einer vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO an, hat dies zur Folge, dass die Wirksamkeit bzw. Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme gehemmt wird (Schoch in: Schneider/Schoch, VwGO, § 80 Rn. 90-94, Stand: 45. EL Januar 2024). Unabhängig davon, ob man der Meinung folgt, der Verwaltungsakt sei in seiner Wirksamkeit oder in seiner Vollziehbarkeit vorläufig gehemmt, darf die erlassende Behörde aufgrund der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme nicht mehr bis zum Ausgang des Hauptsacheverfahrens durchführen bzw. vollziehen (vgl. auch VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – Rn. 25).
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Vorliegend ist die Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts bereits erfolgt. Denn nach Aktenlage wurde der Antragsteller gemäß seiner Antragsschrift zwischenzeitlich in eine Unterkunft für erwachsene Asylsuchende außerhalb des örtlichen Zuständigkeitsbereichs der Antragsgegnerin untergebracht.
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In dieser Konstellation der bereits erfolgten Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts ermöglicht es § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO dem Gericht im Fall eines Erfolgs des Eilrechtsantrags anzuordnen, dass diese Vollziehung wieder aufzuheben ist. Ziel dieser gerichtlichen Anordnung ist die (vorläufige) Wiederherstellung des status quo ante. Die Vollziehung einer Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme lässt sich nur dadurch wieder „aufheben“ im Sinne von § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO, dass erneut eine vorläufige Inobhutnahme in der ursprünglichen Jugendhilfeeinrichtung erfolgt. § 88a SGB VIII steht dem nicht entgegen, denn in der Maßnahme liegt keine erneute vorläufige Inobhutnahme. Die bisherige vorläufige Inobhutnahme ist infolge der gerichtlichen Eilentscheidung gegen ihre Beendigung rechtlich noch nicht endgültig inexistent, sondern deren Rechtswirkungen sind vorläufig wiederherzustellen. Die erneute vorläufige Inobhutnahme in einer Jugendhilfereinrichtung stellt sich daher rechtlich lediglich als erneute Vollziehung der ursprünglichen vorläufigen Inobhutnahmeverfügung nach § 88a Abs. 1 SGB VIII oder § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII dar (vgl. VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – juris Rn. 26; Lange in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB VIII, 3. Aufl., § 88a SGB VIII Rn. 27, Stand: 28.02.2023 unter Bezugnahme auf DIJuF-Rechtsgutachten vom 23.1.2020, JAmt, 2020, 152). Dementsprechend wird durch eine solche Anordnung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes auch nicht die Regelung des § 88a SGB VIII durchbrochen (vgl. VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – juris Rn. 26; im Ergebnis auch: OVG NW, B.v. 9.6.2020 – 12 B 638/20 – juris Rn. 39; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 – 3 B 5176/16 – juris Rn. 26; VG Gera, B.v. 23.8.2021 – 6 E 859/21 Ge – juris Rn. 59).
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Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers aus.
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Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene originäre Ermessensentscheidung, wobei es zwischen dem in der gesetzlichen Regelung – hier § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII – zum Ausdruck kommenden Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehbarkeit des Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs abzuwägen hat. Bei der zu treffenden Abwägung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen.
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Ergibt die im Rahmen des Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich der zugrundeliegende Bescheid bei dieser Prüfung hingegen als rechtswidrig und das Hauptsacheverfahren damit voraussichtlich als erfolgreich, ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig zu verneinen. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens hingegen offen, kommt es zu einer allgemeinen Abwägung der widerstreitenden Interessen.
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Die Abwägung gebietet es hier, dem privaten Aufschubinteresse des Antragstellers gegenüber dem öffentlichen Interesse Vorrang zu gewähren. Denn nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ist davon auszugehen, dass der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. September 2023 rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das behördliche Verfahren zur Altersfeststellung genügt nach summarischer Prüfung vorliegend nicht den in § 42f SGB VIII niedergelegten gesetzlichen Anforderungen. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme dürfte daher rechtswidrig sein.
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Nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen vorläufig in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Nach §§ 42a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII umfasst die Inobhutnahme die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach der vorgenannten Norm sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, also nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 SGB VIII Personen, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Volljährige dürfen hingegen nicht in Obhut genommen werden.
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Die Art und Weise der Altersfeststellung bei infrage kommenden ausländischen Personen ist in § 42f SGB VIII normiert. Nach § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. In Zweifelsfällen ist auf Antrag des Betroffenen, seines Vertreters oder von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen (§ 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII).
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Aus der Formulierung des § 42f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wonach die Altersfeststellung „im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme“ durchzuführen ist, ist zu schließen, dass eine vorläufige Inobhutnahme – wie vorliegend auch zurecht geschehen – auch zu erfolgen hat, wenn das Altersfeststellungsverfahren noch nicht durchgeführt und damit das Alter des jungen Menschen noch nicht sicher festgestellt wurde. Dies bestätigt auch § 42f Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, der sich ausdrücklich auf eine Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme „aufgrund der Altersfeststellung nach dieser Vorschrift“ bezieht (vgl. Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 1.8.2022, § 42f SGB VIII Rn. 28 ff.). Das Ergebnis der Alterseinschätzung ist also nicht Voraussetzung für eine vorläufige Inobhutnahme, vielmehr ist die Alterseinschätzung selbst erst Aufgabe im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 31). Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass – und so sah es offensichtlich auch der Gesetzgeber vor (vgl. die Gesetzesbegründung zu § 42f SGB VIII: BT-Drs. 18/6392 S. 20) – die ausländische Person erst dann aus der vorläufigen Obhut des Jugendamtes zu entlassen ist, wenn deren Volljährigkeit festgestellt worden ist. Die Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme ist daher erst dann gerechtfertigt, von die von Gesetzes wegen aufgestellten Vorgaben zur Feststellung des Alters vom jeweiligen Jugendamt korrekt durchlaufen wurden.
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Dies ist vorliegend nicht geschehen. Zwar hat die Antragsgegnerin zurecht eine qualifizierte Inaugenscheinnahme des Antragstellers durchgeführt. Die Antragsgegnerin hat jedoch im vorliegenden Fall verkannt, dass ein sog. Zweifelsfall i.S.d. § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII vorlag, der das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung verpflichtet hätte.
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Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle; eine Einschätzungsprärogative des Jugendamts besteht nicht (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 34; OVG Rh-Pf, B.v. 26.1.2024 – 6 B 11162/23.OVG – juris Rn. 9; OVG Bremen v. 15.4.2024 – 2 B 330/23 – juris Rn. 15).
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, der sich auch die Kammer seit langem angeschlossen hat, kann eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamts gemäß § 42f Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 SGB VIII lediglich dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle evidenter Minderjährigkeit festzustellen oder eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden. In allen anderen Fällen ist hingegen – ausgehend von der Tatsache, dass eine exakte Bestimmung des Lebensalters weder auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege möglich ist, alle bekannten Verfahren (auch eine ärztliche Untersuchung) allenfalls Näherungswerte liefern können, manche medizinischen Untersuchungsmethoden zum Teil eine Schwankungsbreite von bis zu fünf Jahren aufweisen und allgemein von einem Graubereich von ca. ein bis zwei Jahren (über der gesetzlichen Altersgrenze von 18 Jahren) auszugehen ist – regelmäßig vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen, der entweder auf Antrag des Betroffenen bzw. seines gesetzlichen Vertreters oder aber von Amts wegen durch das Jugendamt zur Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zwingt (vgl.; B.v. 5.4.2017 – 12 BV 17.185 – juris Rn. 38 m.w.N.; hierauf Bezug nehmend: OVG NW, B.v. 5.5.2021 – 12 B 477/21 – juris Rn. 49 ff; OVG RhPf, B.v. 26.1.2024 – 6 B 11162/23.OVG – juris Rn. 9; Kirchhoff in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl., Stand: 28.5.2024, § 42f SGB VIII Rn. 46 ff).
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Nach alledem ist im Fall des Antragstellers entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht davon auszugehen, dass dieser für jedermann ohne weiteres erkennbar, offensichtlich und ohne jeden vernünftigen Zweifel volljährig ist. Die Antragsgegnerin hätte daher eine ärztliche Untersuchung zur Altersfeststellung, zu der sich der Antragsteller auch bereit erklärt hat, veranlassen müssen.
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Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung im Rahmen der qualifizierten Inaugenscheinnahme insbesondere auf das äußere Erscheinungsbild, die inhaltlichen Angaben und das gezeigte Verhalten des Antragstellers. Sofern die Antragsgegnerin das äußere Erscheinungsbild des Antragstellers als demjenigen einer volljährigen Person entsprechend beurteilt hat, bieten die festgestellten Merkmale, insbesondere der ausgereifte Körperbau, die markanten Gesichtszüge mit deutlich ausgeprägter Faltenbildung, das grobporige Hautbild und die ausgeprägten Bartschatten keine ausreichende Grundlage für die Annahme von Volljährigkeit, da jedenfalls nicht ausgeschlossen ist, dass diese Merkmale auch bei einem (reifen) jugendlichen Minderjährigen vorliegen können. Dasselbe gilt für den Umstand, dass die Antragsgegnerin beim Antragsteller feststellte, dass sein Verhalten keinerlei Hinweise auf ein jugendliches Verhalten aufwies, d.h. er emotional-unabhängig interagierte und auf den Punkt antwortete.
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Auch die von der Antragsgegnerin als nicht glaubhaft erachteten eigenen Angaben des Antragstellers zu seinem Alter sind nicht geeignet, dessen Minderjährigkeit mit Sicherheit auszuschließen. Zwar sind die Angaben des Antragstellers zu seinem Geburtsmonat im Bezug zu der vorgelegten T. widersprüchlich. Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 27. Juni 2024 (Az. 2 B 61/23) verweist, wonach eine vorgelegte Geburtsurkunde keine Zweifel an den Feststellungen der Behörde im Altersfeststellungsverfahren begründen konnte (Rn. 23, juris), geht auch das erkennende Gericht davon aus, dass die von dem Antragsteller vorgelegte Kopie nicht geeignet ist, dessen Minderjährigkeit nachzuweisen. Zwar ist die T. ein in Afghanistan übliches Identitätspapier, welches auch Voraussetzung für die Ausstellung eines afghanischen Reisepasses ist. Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan weist jedoch gravierende Mängel auf. Personenstandsurkunden werden demnach oft erst viele Jahre nachträglich – wie auch vorliegend wohl im Jahr 2017 – ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen ausgestellt. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden kann also nicht in jedem Fall ausgegangen werden (vgl. VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – juris Rn. 35 m.w.N; vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: 15.7.2021, S. 25 f.; Steinbüchel in: Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42f Rn. 4). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Antragsteller nur eine Kopie seiner T. vorlegte, sodass mangels Vorlage des Originals bereits nicht überprüft werden konnte, ob es sich hierbei um ein formell echtes Dokument handelt.
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Ebenso wenig vermag die vorgelegte Kopie der T. jedoch – wie von der Antragsgegnerin vorgetragen – ein Indiz für eine Volljährigkeit des Antragstellers bzw. gar eine dahingehende Evidenz oder Eindeutigkeit zu begründen. Vielmehr bleiben die Zweifel an der Volljährigkeit des Antragstellers auch bei einer Zusammenschau der vorgelegten T. sowie des insoweit bestehenden Widerspruchs zum Vortrag des Antragsgegners bestehen. Ebenso wie die Inkonsistenzen im Vortrag des Antragstellers sowie der Umstand, dass sich der Antragsteller bei der Befragung durch die Antragsgegnerin offenbar mehrfach korrigierte, führt die vorgelegte Kopie der T. nicht zu dem hier maßgeblichen Ausschluss eines Zweifelsfalls im Hinblick auf die Minderjährigkeit des Antragstellers.
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Auch sind die Angaben dazu, wer dem Antragsteller wann sein Geburtsdatum genannt habe, jedenfalls unübersichtlich und hinsichtlich des Verlusts der Nummer der Mutter wenig glaubhaft. Dennoch lassen diese von der Antragsgegnerin dokumentierten Angaben nicht die Schlussfolgerung zu, dass der Antragsteller mit hinreichender Sicherheit bereits volljährig ist. Die ungenauen und teilweise nicht nachvollziehbaren Angaben des Antragstellers könnten auch in der – nach seinen Angaben – noch im jugendlichen Alter erfolgten Ausreise oder einer in seinem Herkunftsstaat geringen Bedeutung von Geburtstagen und Jahreszahlen begründet sein (vgl. auch OVG RhPf, B.v. 26.1.2024 – 6 B 11162/23.OVG – juris Rn. 11).
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Da nach alledem eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Antragsteller das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat, entgegen der Annahme der Antragsgegnerin nicht besteht, erweist sich die Beendigung der Inobhutnahme nach summarischer Prüfung als rechtswidrig.
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Aufgrund dessen konnte vorliegend offenbleiben, ob der Bescheid der Antragsgegnerin darüber hinaus deshalb verfahrensfehlerhaft zustande gekommen und damit formell rechtswidrig ist, da von der Antragsgegnerin kein Verfahrensvertreter für den Antragsteller bestellt wurde (vgl. hierzu ausführlich: VGH BW, B.v. 5.6.2024 – 12 S 1649/23 – juris Ls. 2; Rn.15 f.; B.v. 11.6.2024 – 12 S 1700/23 – juris Rn. 16; OVG Bremen, B.v. 15.4.2024 – 2 B 330/23, juris; B.v. 27.6.2024 – 2 B 61/23 – juris Rn. 17 ff).
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Hingegen dürfte eine (formelle) Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheids der Antragsgegnerin – entgegen der Auffassung des Antragstellers – nicht aus einem Verstoß gegen Belehrungspflichten resultieren. Eine derartige Pflicht der Antragsgegnerin, den Antragsteller darüber zu belehren, dass auf seinen Antrag hin eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durchgeführt werden müsse, ist den vom Antragsteller genannten Normen §§ 42a Abs. 1 bzw. 8 Abs. 1 SGB VIII nicht zu entnehmen.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage war somit anzuordnen.
41
Das Gericht ordnet zudem gemäß § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO die Aufhebung der Vollziehung der Beendigung der vorläufigen Inobhutnahme mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 6. September 2024 an. Die Antragsgegnerin ist in der Folge verpflichtet, den Antragsteller wieder vorläufig in Obhut zu nehmen und gemäß § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII ein medizinisches Gutachten zur Altersdiagnostik durchzuführen (vgl. VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – juris Rn. 43; so auch: OVG NW, B.v. 9.6.2020 – 12 B 638/20 – juris Rn. 39; VG Hannover, B.v. 11.11.2016 – 3 B 5176/16 – juris Rn. 26; VG Gera, B.v. 23.8.2021 – 6 E 859/21 Ge – juris Rn. 59).
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Dem Gericht ist bewusst, dass die Rückführung des Antragstellers durch die Antragsgegnerin, um diesen erneut vorläufig in Obhut zu nehmen, mit praktischen Problemen behaftet sein kann. Insoweit kann die Antragsgegnerin ihrer materiellen Verpflichtung zur vorläufigen Inobhutnahme des Antragsstellers ggf. auch dadurch nachkommen, indem sie die Amtshilfe des Jugendamtes in Anspruch nimmt, in dessen Bereich sich der Antragsteller nunmehr aufhält (vgl. VG München, B.v. 21.12.2022 – M 18 S 22.5698 – juris Rn. 44; allgemein hierzu: DIJuF-Rechtsgutachten vom 23.1.2020, JAmt, 2020, 152).
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 Hs. 1 VwGO gerichtskostenfrei.