Titel:
Abrechnungsbetrug einer nicht zugelassenen Podologin
Normenkette:
StGB § 263
Leitsätze:
1. Wer sich ohne das Vorliegen der Voraussetzungen die Zulassung als Podologin zur Kassenversorgung erschleicht, erwirbt für etwaige Behandlungen gegenüber den Krankenkassen keine Honoraransprüche. (Rn. 34)
2. Zum Betrug bei der Abrechnung sozialrechtlich wertloser Honoraransprüche einer Nichtpodologin gegenüber einem Factoringunternehmen. (Rn. 33 – 41)
Schlagworte:
nicht zugelassene Podologin, wertlose Honoraransprüche, Krankenkasse, fehlende Abrechnungsbefugnis, Factoring
Vorinstanz:
AG Kempten, Urteil vom 30.08.2022 – 13 Ds 140 Js 22691/21
Fundstellen:
BeckRS 2024, 29560
FDSozVR 2024, 029560
Tenor
I. Die Angeklagte ist schuldig des Betrugs in 134 tatmehrheitlichen Fällen.
II. Sie wird deshalb unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe im Urteil des Amtsgerichts Kempten vom 30.08.2022 (13 Ds 140 Js 22691/21) und unter Einbeziehung der dort verhängten Freiheitsstrafen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen Missbrauchs von Ausweispapieren sowie der dort einbezogenen Freiheitsstrafe wegen Betrugs (Strafbefehl des Amtsgerichts Kempten vom 21.12.2021 (13 Ds 460 Js 19073/21)) zu einer Gesamtfreiheitstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten verurteilt.
III. Wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung gelten 3 Monate der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe als vollstreckt.
IV. Die Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens und ihre notwendigen Auslagen. Soweit das Verfahren gegen sie eingestellt wurde, fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten der Staatskasse zur Last.
Entscheidungsgründe
A. Zur Person der Angeklagten
I. Persönliche Verhältnisse
1
Nach dem Hauptschulabschluss im Jahr 2005 schloss sie 2008 die Ausbildung zur Arzthelferin ab und arbeitete zunächst als solche. Dabei sammelte sie erste Erfahrungen mit Diabetespatienten und beschloss, weitere Fort- und Ausbildungen durchzuführen. So schloss sie die Ausbildung zur Fußpflegerin im Jahr 2009 und ihre Kosmetikerausbildung im Jahr 2010 ab. Im Jahr 2013 begann sie die Ausbildung zur Podologin an einer Fachschule in … 2014 erfuhr sie durch einen Zeitungsartikel, dass in …eine Podologiepraxis zur Übernahme anstünde und sah dies als Chance für sich. Sie erwarb die Praxis – darlehensfinanziert – in der Absicht, diese nach Abschluss ihrer Ausbildung als Podologin zu leiten und so auch den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Zwischenzeitlich, etwa in der Zeit der Übernahme der Praxis, und bald darauf erneut, wechselte sie auch die Fachschule (zunächst auf die Berufsfachschule in …, später auf das Weiterbildungsinstitut …), sodass sie insgesamt rund anderthalb Jahre Podologinnen-Ausbildung mit Unterbrechungen und an unterschiedlichen Orten absolvierte. Die formellen Voraussetzungen für das Ablegen der Prüfung (z.B. die Ableistung von 1.000 Praxisstunden nach der damals geltenden Prüfungsordnung) erreichte sie nicht; zur Prüfung trat sie nicht an. Beide Schulen brach sie ab, weil sie sich mit den Ausbildern nicht verstanden hat oder von den Mitschülern gemobbt wurde. Später, im Jahr 2021, besuchte die Angeklagte erneut eine weitere Podologieschule, diesmal in … Die abschließende Prüfung bestand sie jedoch nicht, sondern fiel in allen Prüfungsteilen durch.
2
Im Zeitraum 2019 bis 2022 war die Angeklagte arbeitslos, weil das Gesundheitsamt des Landratsamtes … ihr zunächst unter dem 18.01.2018 wegen fehlender Erlaubnis die Ausübung der Podologie untersagt und dann mit Anordnung vom 17.10.2018 die Betriebsräume der Podologiepraxis aus hygienischen Gründen geschlossen hatte …
B. Die Taten der Angeklagten
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Gegenstand der Verurteilung sind nicht die Falschabrechnungen zum Nachteil der Krankenkassen, sondern der Verkauf und die Abtretung sozialrechtlich und damit auch wirtschaftlich wertloser Forderungen gegen Krankenkassen (dazu nachfolgend I-III) an das von der Angeklagten für die Abrechnung mit den Krankenkassen beauftragte Factoringunternehmen R (dazu nachfolgend IV).
I. Der Praxisbetrieb durch die Angeklagte
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Die Angeklagte führte seit 01.07.2014 in …, unter dem Institutionskennzeichen (IK) … eine podologische Praxis. Die Praxis wurde am 17.10.2018 durch das Gesundheitsamt des Landratsamtes … geschlossen. Im November 2018 eröffnete die Angeklagte eine neue Praxis im Nachbaranwesen … und betrieb dort in der Folgezeit weiterhin eine Podologiepraxis. Mangels erfolgreicher Absolvierung einer entsprechenden Ausbildung verfügte die Angeklagte im von der Anklage umfassten Zeitraum weder über die Erlaubnis zum Führen der Berufsbezeichnung „Podologin“ noch über die Berechtigung, die Berufsbezeichnung „medizinische Fußpflegerin“ zu führen (vgl. § 1 Abs. 1 PodG).
II. Berechtigung zur Abrechnung bei den gesetzlichen Krankenkassen
1. Allgemeine Voraussetzungen
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Die Berechtigung, Heilmittelverordnungen bei gesetzlichen Krankenkassen abrechnen zu können, besteht gemäß § 124 SGB V nur bei entsprechender Zulassung durch die gesetzlichen Krankenkassen bzw. deren Verbände: Der Verband der Ersatzkassen e.V. Landesvertretung Bayern (nachfolgend: v. ) erteilt die Zulassung unter anderem – soweit für dieses Urteil relevant – für die in ihm organisierten Krankenkassen … Von der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassenverbände in Bayern (nachfolgend: ARGE) wird die Zulassung u.a. – soweit für dieses Urteil relevant – für die … erteilt.
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Gemäß § 124 Abs. 1 Nr. 1 SGB V müssen die Leistungserbringer die für die Leistungserbringung erforderliche Ausbildung sowie eine entsprechende zur Führung der Berufsbezeichnung berechtigende Erlaubnis oder einen vergleichbaren akademischen Abschluss besitzen. Da diese Voraussetzung – was beim v. und bei der ARGE bekannt war – nicht in der Person der Angeklagten gegeben war, knüpften beide die Zulassung der von der Angeklagten geführten podologischen Praxis zwingend an die Tätigkeit einer fachlichen Leitung, welche eine berufsrechtliche Ausbildung zum Podologen vorweisen konnte und ganztägig in der Praxis zur Verfügung stand. Dies war auch Inhalt der Zulassungen, die der Angeklagten durch die v. und die ARGE erteilt wurden:
2. Zulassung durch den v.
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Die Zulassung der durch die Angeklagte geführten podologischen Praxis wurde durch den v. zum 01.07.2014 erteilt, wobei die Zulassung ausdrücklich unter der Bedingung erteilt wurde, dass die damals noch bei der Angeklagten angestellte Podologin S als fachliche Leitung fungiert. Nachdem das Arbeitsverhältnis mit der Podologin S durch Aufhebungsvertrag zum 21.07.2014 beendet wurde, teilte die Angeklagte dem v. schriftlich mit, dass die nunmehr bei ihr angestellten Podologinnen B und M im Jobsharing zu je 16 Stunden pro Woche (d.h. insgesamt 32 Wochenstunden) die fachliche Leitung übernommen hätten. Im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Angaben wurde die Zulassung daher durch den v. auch über den 21.07.2014 hinaus unter der Bedingung der gemeinschaftlichen Ausübung der fachlichen Leitung durch die Podologinnen B und M bestätigt.
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Mit Schreiben vom 13.12.2017 teilte die Angeklagte dem v. mit, dass die Podologin M zum 05.07.2017 gekündigt habe, der Arbeitsvertrag mit der Podologin B jedoch dahingehend abgeändert worden sei, dass deren Arbeitszeit auf 35 Stunden in der Woche erhöht worden sei. Zugleich legte sie folgende – von ihr selbst gefälschte und inhaltlich unzutreffende – Urkunden vor: Eine schriftliche Bestätigung der Podologin B über die Erhöhung der Arbeitszeit auf 35 Stunden sowie eine Anerkenntniserklärung der Zeugin B zum Rahmenvertrag v. und einen neuen Arbeitsvertrag der Zeugin ab dem 01.09.2017. Von Seiten des v. wurde die Zulassung – im Vertrauen auf die Richtigkeit der Angaben der Angeklagten – unter der Bedingung der alleinigen fachlichen Leitung der Podologin B akzeptiert.
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Die Angeklagte hatte eine schriftliche Anerkenntniserklärung gegenüber dem v. abgegeben, wonach sie die maßgeblichen vertraglichen Grundlagen über die Erbringung und Vergütung podologischer Leistungen in der je geltenden Fassung anerkenne.
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Mit Schreiben vom 30.10.2018 teilte der v. der Angeklagten mit, dass die Zulassung zum 30.11.2018 beendet werde. Grund hierfür war, dass einer Mitgliedkasse mitgeteilt worden war, dass die Angeklagte trotz fehlender Berufsausbildung und Erlaubnis an einer Patientin podologische Leistungen erbracht und diese dabei verletzt haben soll.
3. Zulassung durch die ARGE
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Die ARGE erteilte der Praxis der Angeklagten zum 01.07.2014 die Zulassung zur Abgabe von podologischen Leistungen, wobei diese Zulassung ebenfalls ausdrücklich unter der Bedingung erteilt wurde, dass die Podologin S als fachliche Leitung in der Praxis tätig ist. Die Angeklagte teilte der ARGE alsbald schriftlich mit, dass die Zeugin S ihre Tätigkeit zum 21.07.2014 beendet habe. Zugleich benannte sie die Podologinnen M und B als fachliche Leitung im Jobsharing (jede mit einem Arbeitseinsatz von 16 Stunden wöchentlich) ab 22.07.0214. Hierbei legte sie einen – von ihr selbst gefälschten und inhaltlich unzutreffenden – Verpflichtungsschein der Podologinnen M und B, datiert auf den 08.08.2014, vor. Mit Schreiben vom 19.08.2014 bestätigte die ARGE den Weiterbestand der Zulassung unter der Bedingung, die fachliche Leitung werde nunmehr gemeinschaftlich von den angestellten Podologinnen B und M im Jobsharing ausgeübt.
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Die Angeklagte hatte am 26.05.2014 eine schriftliche Anerkenntniserklärung gegenüber der ARGE abgegeben, wonach sie den Rahmenvertrag über die Erbringung und Vergütung podologischer Leistungen vom 26.06.2002 in der je geltenden Fassung anerkenne.
III. Tatsächliche Verhältnisse in der Praxis
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Tatsächlich war spätestens ab dem 22.07.2014 – nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Podologin S – keine im Sinne der Zulassungen ordnungsgemäße fachliche Leitung in der podologischen Praxis der Angeklagten mehr tätig. Die Podologinnen M und B waren beide im Rahmen von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen in der Praxis angestellt. Beide übten dabei keine Funktionen einer fachlichen Leitung aus, sie kooperierten auch nicht miteinander im Sinne einer gemeinschaftlichen fachlichen Leitung. Die Zeugin B war seit Ende Mai 2015 gar nicht mehr in der Praxis der Angeklagten tätig und hatte in der Zeit ihrer Praxiszugehörigkeit maximal 8 Wochenstunden gearbeitet. Die Zeugin M war bis zum 15.07.2017 in der Praxis der Angeklagten tätig, allerdings nur in einem Umfang von 5,5 Stunden wöchentlich.
IV. Abrechnung gegenüber R
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Die Angeklagte rechnete die Leistungen ihrer Praxis nicht unmittelbar selbst bei den gesetzlichen Krankenkassen ab, sondern bediente sich hierzu der R mit Sitz in … auf der Grundlage eines mit R abgeschlossenen Factoringvertrages. Der Vertrag enthielt, soweit hier von Interesse, folgende Regelungen:
Der Kunde erteilt der R den Auftrag, seine sämtlichen künftigen Forderungen aus der Belieferung von Rezepten/Verordnungen gegen alle Versicherungsträger abzurechnen.
I. Der Kunde verpflichtet sich für die Vertragsdauer, sämtliche in seinem Geschäftsbetrieb hereingenommenen Rezepte/Verordnungen der R zur Abrechnung zur Verfügung zu stellen. …
II. Der Kunde tritt hiermit ab Unterzeichnung des Vertrages alle sich aus den Rezepten/Verordnungen gegen die Krankenkassen, Ersatzkassen usw. ergebenden Forderungen an die R ab, die diese Abtretung annimmt. …
I. Die Auszahlung durch die R erfolgt per Überweisung…
Auszahlung nach
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4 Arbeitstagen Mindesthonorar 19,50 €
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10 Wochentagen Mindesthonorar 19,50 €
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15 Wochentagen Mindesthonorar 19,50 €
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21 Wochentagen Mindesthonorar 19,50 €
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2,10%
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1,80%
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1,30%
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1,00%
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GKV-Pauschale 16,50 € je Abrechnung …
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Die Fälligkeit der Vergütung richtet sich nach den von dem Kunden gewünschten Auszahlungszeitpunkt, der sich seinerseits nach dem Zeitpunkt der Entgegennahme der Rezepte/Verordnungen bestimmt. Die R ist berechtigt, den Auszahlungsbetrag mit ihren Honoraransprüchen zu verrechnen.
II. Stellt die Krankenkasse bei Prüfung der Rezepte/Verordnungen oder Rechnungen eine niedrigere oder höhere Forderung fest, als sie von der R für den Kunden geltend gemacht worden ist, so verrechnet die R den Differenzbetrag bei der nächsten Abrechnung und Zahlung.
I. Der Kunde leistet Gewähr für den rechtlichen Bestand der Forderung, insbesondere für deren Einredefreiheit und die Freiheit von sonstigen Rechtsmängeln. Der Kunde haftet des Weiteren dafür, dass die Forderung nicht durch Aufrechnung, Wandlung, Minderung, Rücktritt oder durch Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechts des Schuldners in ihrem Bestand verändert oder ihre Durchsetzbarkeit verhindert wird; Die Gewährleistungsfrist beträgt fünf Jahre.
II. Dem Kunden ist bekannt, dass R die Berechtigung der vom Schuldner gegen die Forderung erhobenen Einwände nicht prüfen kann, weil R beispielsweise die Vereinbarungen zwischen dem Kunden und dem Schuldner unbekannt sind. Aus diesem Grund obliegt es dem Kunden, im Verhältnis zum Schuldner eine Klärung hinsichtlich des Bestehens der Forderung herbeizuführen. …
IV. Unbeschadet sonstiger Rechte ist die R jedenfalls befugt, eine im Sinne von § 6 Ziff. I, II streitige Forderung von dem Auszahlungsanspruch des Kunden durch Aufrechnung abzuziehen. Sollte eine Auf- bzw. Verrechnung etwa wegen eines zu geringen Abrechnungsvolumens nicht möglich sein, so ist der Kunde verpflichtet, den von den Kostenschuldnern nicht beglichenen bzw. den im Sinne von § 6 Ziff. I, II streitigen Forderungsbetrag innerhalb von 14 Tagen nach Mitteilung durch R zu erstatten. …
Für die Wirksamkeit dieses Vertrages ist Voraussetzung, dass der Kunde die Bescheinigung seiner Zulassung durch die Kostenträger vorlegt. …
Dieser Vertrag tritt am 18.2.15 in Kraft. …
15
Im Zeitraum März 2015 bis April 2019 reichte die Angeklagte in Ausführung des vorstehenden Vertrags wiederholt Behandlungsverordnungen bei R ein, obwohl sie wusste, dass die damit gegenüber den Krankenkassen dokumentierten Forderungen mangels Erfüllung der Zulassungsvoraussetzungen ihrer Praxis sozialrechtlich wertlos waren. Sie wusste ebenso, dass R überhaupt keine Vertragsbeziehung mit ihr eingegangen wäre und auch keine Forderungen von ihr erworben und dafür auch nichts bezahlt hätte, wäre dort bekannt gewesen, dass sie sich die Kassenzulassungen durch Vorlage gefälschter Dokumente erschwindelt hatte. Dass R für seine Zahlungen keinen werthaltigen Gegenwert erwerben und demgemäß geschädigt würde, nahm die Angeklagte billigend hin. Sie handelte bei alldem in der Absicht, die Zahlungen von R zu erlangen, obwohl sie wusste, dass sie hierauf keinen Anspruch hatte. Sie wollte sich auf diese Weise dauerhaft ihre Haupteinnahmequelle verschaffen. Dabei reichte sie an einzelnen Tagen jeweils mehrere aufgelaufene, abzurechnende Verordnungen gebündelt ein. Im Einzelnen handelte es sich um folgende Fälle:
(In der Tabelle meint „Wert der Verordnungen netto in €“ die Summe der bei den oben unter B.II.1 genannten Krankenkassen abzurechnenden Leistungen, die die Angeklagte an einem Tag an R sandte. „Abzüge für R in €“ bezeichnet die Summe der Abzüge, die R von dem der Angeklagten geschuldeten Betrag zu eigenen Gunsten abzog (Honorare, Pauschalen, Gebühren). „Schaden in €“ ist das, was R abzgl. der Abzüge an die Angeklagte entweder auszahlte oder mit eigenen Ansprüchen gegen die Angeklagte verrechnete.)
Fall
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Einreichung der Verordnungen bei R am
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Wert der Verordnungen netto in €
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Abzüge für R in €
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Schaden in €
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1
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09.03.2015
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6.698,80
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268,33
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6.430,47
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…
|
…
|
…
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…
|
…
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134
|
24.04.2019
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919,82
|
125,99
|
793,83
|
Summe:
|
343.390,14
|
18.156,82
|
325.233,32
|
16
Im Vertrauen auf das Vorliegen der Zulassungsvoraussetzungen bei der Angeklagten und damit auf die sozialrechtliche Werthaltigkeit und Durchsetzbarkeit der Forderungen der Angeklagten gegen die genannten Krankenkassen, zahlten die bei R damit befassten Mitarbeiter die geltend gemachten Verordnungsnettobeträge jeweils wenige Tage nach deren Einreichung an die Angeklagte aus oder verrechneten sie ggf. mit eigenen Rückgriffsansprüchen der R gegen die Angeklagte. Hätten diese Mitarbeiter gewusst, dass die podologische Praxis der Angeklagten die Zulassungsvoraussetzungen nicht erfüllte, hätte sie auf die eingereichten Verordnungen hin kein Geld an die Angeklagte ausgezahlt bzw. ihre eigenen werthaltigen Ansprüche gegen wertlose Ansprüche der Angeklagten nicht aufgerechnet. Der R entstand – von der Angeklagten billigend in Kauf genommen – ein Schaden in oben genannter Höhe. Die letzte Auszahlung von R an die Angeklagte fand am 29.04.2019 statt.
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Im Hinblick darauf, dass die durch den v. oder die ARGE vertretenen Krankenkassen einzelne Forderungen der Angeklagten, die ihnen nach dem Erwerb durch R zur Abrechnung vorgelegt wurden, jeweils aus unterschiedlichen Gründen zurückwiesen, belastete R ihrerseits die Angeklagte anlässlich der ohnehin durchgeführten Abrechnungen damit zurück und zog die entsprechenden Beträge von den an die Angeklagte auszuzahlenden Geldern durch Verrechnung ab. Im Einzelnen wurden im Nachgang zu den jeweils zuvor gemachten Auszahlungen an die Angeklagte bei späteren Zahlungen folgende Abzüge bzw. Verrechnungen (von R als „Absetzungen“ bezeichnet) vorgenommen:
(Die Zuordnung der Absetzung zu einer Fallnummer verweist jeweils auf den Fall, in dessen Rahmen die Absetzung vorgenommen wurde.)
Fall
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Absetzungen
|
5
|
279,40 €
|
…
|
…
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134
|
898,31 €
|
Summe:
|
58.748,97 €
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I. Feststellungen zur Person
II. Feststellungen zu den Taten
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Der festgestellte Sachverhalt steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund des vollumfänglichen und – nach der erfolgten Korrektur – insgesamt glaubhaften Geständnisses der Angeklagten sowie der weiteren, nachfolgend erörterten Beweismittel.
1. Einlassung der Angeklagten
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Die Kammer stützte ihre Überzeugungsbildung – neben dem berichtigten Geständnis der Angeklagten – auf weitere Beweismittel, die sich mit den Angaben der Angeklagten deckten, sodass die Kammer zu ihrer vollen Überzeugung insgesamt ein schlüssiges und konsistentes Bild des Sachverhalts gewinnen konnte:
a) Betriebliche Verhältnisse
b) Fehlende Abrechnungsbefugnis
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Die Schreiben des v. vom 22.09.2014 und das Schreiben der ARGE vom 11.07.2014, beide mit Wirkung zum 01.07.2014, in denen die Zulassung der Praxis der Angeklagten zur Abgabe von Leistungen der Podologie erklärt wurde, wurden im Selbstleseverfahren gelesen. Beide waren an die Tätigkeit der fachlichen Leitung, Frau S, gebunden. Ebenso wurden die beiden Anerkenntniserklärungen gelesen, mit denen die Angeklagte gegenüber v. bzw. ARGE die für die Abrechnung geltenden Verträge anerkannte, sowie die weiteren Schreiben, mit denen beide Verbände die Zulassung unter die Bedingung der fachlichen Leitung der Podologinnen B und M gestellt wurde.
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In den Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes gemäß § 124 Abs. 4 SGB V zur einheitlichen Anwendung der Zulassungsbedingungen nach § 124 Abs. 2 SGB V für Leistungserbringer von Heilmitteln, die als Dienstleistung an Versicherte abgegeben werden (Zulassungsempfehlungen) i.d.F. vom 01.03.2012, die – wie auch alle weiteren zitierten Urkunden – ebenfalls gelesen wurden, heißt es in Teil I, Allg. Teil, Nr. 2 zu den Anforderungen an die fachliche Leitung einer Heilmittelpraxis:
1. Aus der Einbindung der Leistungserbringer für Heilmittel in den Sicherstellungsauftrag der Krankenkassen (§ 2 Abs. 2 SGB V) ergibt sich, dass eine Zulassung nur erteilt werden kann, wenn die jeweilige Tätigkeit des Zugelassenen/der fachlichen Leitung von wirtschaftlicher Bedeutung ist sowie zeitlich die übrige Erwerbstätigkeit übersteigt. Der Zugelassene/die fachliche Leitung hat in seiner/ihrer Praxis ganztägig [Unterstreichung durch die Kammer] als Behandler zur Verfügung zu stehen …
2. Die fachliche Leitung muss der Praxis verbindlich (d.h. organisatorisch weisungsgebunden) zur Verfügung stehen … Die Aufteilung der fachlichen Leitung im Jobsharing-Verfahren ist auf 2 Therapeuten begrenzt.
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Im Rahmenvertrag über die Durchführung von podologischen Leistungen vom 26.06.2002, zuletzt i.d.F. vom 13.11.2015, zwischen den Podologenverbänden und der AOK, der für die ARGE gilt, heißt es:
Die Zulassung erfolgt aufgrund § 124 SGB V. … Die Empfehlungen des GKV-Spitzenverbandes gemäß § 124 Abs. 4 SGB V zur einheitlichen Anwendung der Zulassungsbedingungen nach § 124 Abs. 2 SGB V (Zulassungsempfehlungen) gelten in der jeweils gültigen Fassung.
Der Antrag auf Zulassung ist schriftlich mit den notwendigen Nachweisen entsprechend den Zulassungsempfehlungen bei der zuständigen Krankenkasse einzureichen.
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Im Rahmenvertrag über die Durchführung von podologischen Leistungen vom 26.04.2012 zwischen den Podologenverbänden und dem v. , heißt es:
Die Bestimmungen dieses Vertrages … sind bei der Abgabe von Heilmitteln durch Zugelassene nach § 124 Abs. 2 SGB V … zu beachten und anzuwenden. Die Leistungen nach diesem Vertrag können nur von Leistungserbringern, die die Voraussetzungen nach § 1 PodG erfüllen, erbracht werden.
Der Zugelassene/fachliche Leiter hat als Behandler ganztägig [Unterstreichung durch die Kammer] in der Praxis/Einrichtung zur Verfügung zu stehen …
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Weiterhin hat die Kammer die Zeuginnen H und V dazu vernommen. Die Zeugin H, Angestellte beim v. , teilte mit, dass die Kassenzulassung Voraussetzung dafür sei, dass ein Leistungserbringer gegenüber den Kassen abrechnen könne. Diese Kassenzulassung müsse man beantragen. Man müsse hierfür unter anderem eine Berufsurkunde als staatlich anerkannter Podologe vorlegen. Laut ihren Unterlagen habe die Angeklagte eine solche Urkunde nicht gehabt. Die Zulassung sei ihr aber deshalb erteilt worden, weil sie eine fachliche Leitung gehabt habe. Den Unterlagen nach sei vom 01.07.2014 bis 21.07.2014 Frau S, vom 22.07.2014 bis 23.10.2018 Frau B und vom 22.07.2014 bis 15.07.2017 Frau M zusammen mit Frau B fachliche Leitung gewesen. Eine fachliche Leitung habe damals – um als solche anerkannt zu werden – nach den Vorgaben des v. 32 Stunden pro Woche vor Ort sein müssen. Die jeweilige Berufsurkunde der als fachliche Leitung auftretenden Personen habe man zum Erhalt der Zulassung vorlegen müssen.
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Dies deckt sich im Wesentlichen mit den Angaben der Zeugin V, die für die ARGE tätig ist. Sie gab an, die Angeklagte habe etwa im Zeitraum 2014 bis 2018 über eine Abrechnungsstelle bei der ARGE abgerechnet. Ihre Zulassung habe sie damals, im Jahr 2014, von der ARGE erhalten. Auch bei der ARGE müsse man, um die Zulassung zu erhalten, eine Berufsurkunde zum Podologen vorlegen. Wenn man nicht selbst Podologe sei, benötige man einen Angestellten, der ganztätig in der Praxis zur Verfügung stehe und eine Podologieurkunde habe. Das sei ein sogenannter fachlicher Leiter. Unter ganztägig verstehe man bei der ARGE mindestens 30 Stunden in der Woche. Aus ihren Unterlagen gehe hervor, dass bei Zulassungsbeginn Frau S vom 01.07.2014 bis 31.08.2014 durch die Angeklagte als fachliche Leitung gemeldet gewesen sei. Danach habe die Angeklagte Frau B und Frau M vom 22.07.2014 bis 31.08.2017 im Jobsharing als fachliche Leitung gemeldet. Ab 01.09.2017 habe die Angeklagte Frau B als fachliche Leitung gemeldet. Die Beschäftigung der Podologinnen sei der ARGE damals durch einen Arbeitsvertrag und einen Verpflichtungsschein nachgewiesen worden. Der Nachweis der Zulassungsvoraussetzungen basiere allein auf den Angaben der Leistungserbringer. Dieser verpflichte sich unter anderem, den Rahmenvertrag für Podologie anzuerkennen, um die Zulassung zu erhalten. Dort sei geregelt, dass zulassungsrelevante Änderungen sofort mitzuteilen seien. Das System basiere auf Vertrauen. Man könne nicht an jedem Arbeitsvertrag oder Verpflichtungsschein Zweifel hegen. Man gehe davon aus, dass alles in Ordnung sei. Ohne eine Zulassung sei eine Abrechnung bei der ARGE nicht möglich. Eine Zulassung, und somit auch eine Abrechnung sei nicht möglich, wenn der Leistungserbringer weder Podologe sei noch eine fachliche Leitung habe.
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Die Kammer ist aufgrund der glaubhaften Angaben der vernommenen Zeuginnen davon überzeugt, dass die Angeklagte die Zulassungsvoraussetzungen zur Abrechnung bei v. und ARGE nicht erfüllte, da bei ihr jedenfalls im hier relevanten Abrechnungszeitraum keine fachliche Leitung mit 32 bzw. 30 Wochenstunden tätig war. Das Erfordernis dieser Stundenzahl folgt, wie die Zeugin H bestätigt hat, aus dem Wort „ganztägig“ in den zitierten Rahmenverträgen und Zulassungsempfehlungen; die 32 Wochenstunden – bzw. 30 Wochenstunden bei der ARGE – hätten der damaligen ständigen Verwaltungspraxis entsprochen, was die Angeklagte, wie sie zugab, auch wusste. Die oben wiedergegebenen Aussagen der Zeuginnen B und M bestätigen, dass diese Stundenzahl nicht ansatzweise abgedeckt wurde, weil M nach eigenen Angaben 5,5 Wochenstunden (die die Kammer hier zugunsten der Angeklagten annahm, die ja selbst nur von 4,5 Stunden berichtete) und die Zeugin B höchstens 8 Wochenstunden in der Praxis tätig waren.
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Weiter ist die Kammer davon überzeugt, dass die Angeklagte durch ihre falschen Angaben und die Vorlage der gefälschten Arbeitsverträge die zuständigen Mitarbeiter von v. und ARGE über das Vorliegen einer fachlichen Leitung und somit über die Zulassungsvoraussetzungen täuschte. Durch diese Falschangaben gelang es der Angeklagten, jeweils eine Zulassung zu erhalten, mit der sie Leistungen gegenüber dem v. und der ARGE formell abrechnen durfte. Tatsächlich waren die Zulassungsvoraussetzungen, wie auch die Angeklagte einräumte, nicht erfüllt. Die Zulassung war, wie die Angeklagte ebenfalls wusste, Voraussetzung für die Abrechnung von auf Verordnungen hin erbrachten Leistungen bei v. und ARGE.
c) Abrechnung durch die Angeklagte
d) Bearbeitung eingehender Verordnungen durch R
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Die Zeugin Bü, die als Teamleiterin bei R angestellt und dort für die Abrechnung zuständig war und ist, berichtete der Kammer von den internen Abläufen in der R bei Eingang einer Verordnung durch einen Leistungserbringer. R stehe als Factoringunternehmen zwischen den Leistungserbringern und der Krankenkasse. Generell würden Verordnungen nicht auf ihre Richtigkeit hin überprüft, da R ein reiner Rechnungsersteller sei. Für R seien daher die formalen Kriterien, die auf einen werthaltigen Beleg hindeuten, ausreichend. Nicht wichtig sei für R, ob die entsprechenden Forderungen auch materiell bestehen. Wenn die Kasse insoweit etwas bemängele, überprüfe R dies in der Differenzbearbeitung. Die Kürzungen würden dann erst mit der nächsten Abrechnung an den Leistungserbringer weitergegeben und mit der neuen Abrechnung verrechnet. Auch hier finde keinerlei Prüfung statt. Anders sehe das jedoch aus, wenn R Kenntnis von der fehlenden Zulassung eines Leistungserbringers habe. In diesem Fall, so die Zeugin, würde R versuchen, bei den Krankenkassen nachzuforschen. In der Regel erhalte man dort aus Datenschutzgründen keine Antwort. Man müsse sich dann mit dem Leistungserbringer in Verbindung setzen und hätte keine andere Wahl als seinen Angaben zu glauben. Würde ein Leistungserbringer mitteilen, er habe seine Zulassung verloren, so würde R würde keine weiteren Belege mehr abrechnen und die Belege unbearbeitet an ihn zurücksenden.
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R erhalte Verordnungen vom Leistungserbringer, leite diese an die Krankenkassen weiter und zahle Geld an den Leistungserbringer aus. Der Auszahlungswert, den der Leistungserbringer erhalte, setze sich zunächst aus dem Bruttowert sämtlicher Verordnungen zusammen. Hiervon würden die Eigenanteile der Patienten (Zuzahlungen) abgezogen. Weiter bringe man das Honorar der R in Abzug, welches sich aus dem Nettowert der Verordnungen (Bruttowert abzüglich der Zuzahlungen) berechne. Sollte es bei vorangegangenen Abrechnungen Rückläufer der Krankenkassen gegeben haben, so würden diese ebenfalls in Abzug gebracht.
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Die Kammer ist aufgrund der glaubhaften Angaben der Zeugin Bü davon überzeugt, dass R bei Einreichung von Verordnungen durch einen Leistungserbringer im Fall fehlender entgegenstehender Anhaltspunkte – regelmäßig und auch im Fall der Angeklagten – von einer bestehenden und wirksamen Zulassung des Leistungserbringers ausging und allein auch deshalb abrechnete. Weiter ist die Kammer davon überzeugt, dass R – regelmäßig und auch im Fall der Angeklagten – keine Zahlung an den Leistungserbringer vornimmt, wenn ihr das Nichtbestehen der Zulassung bekannt ist. Andere, d.h. materielle Mängel der Abrechnungsvoraussetzungen würden hingegen von R nicht geprüft. Kommt es hier zu einem Rückläufer nach Einreichung bei den Krankenkassen, holt sich R bereits ausgezahlte Beträge im Wege der Verrechnung bei einer späteren Abrechnung zurück.
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Für die Schadensberechnung hat die Kammer neben der durch die Zeugin A aufbereiteten Tabelle, die sich aus den Daten der R speiste, auch auf tabellarische Zusammenstellungen zurückgegriffen, die die Zeugin Bü der Kammer vorgelegt hatte und die im Selbstleseverfahren gelesen und von der Zeugin der Kammer auch im Einzelnen erläutert wurden. Die Zeugin erklärte dazu, sie habe sich die entsprechenden Daten zur Vorbereitung ihrer Zeugenaussage aus der EDV der R herausgezogen und in Tabellen zusammengefasst. Hieraus hat die Kammer die Einbehalte (Honorare, Pauschalen, Gebühren) und Absetzungen der R entnommen. Dabei war der Kammer bewusst, dass sie zugunsten der Angeklagten den Schaden mindernde Einbehalte oder ihn wiedergutmachende Absetzungen in größerem Umfang berücksichtigt hat, als diese tatsächlich angefallen sein dürften. Denn die Aufstellungen der Zeugin Bü deckten sämtliche Verordnungen ab, die die Angeklagte im Tatzeitraum bei R eingereicht hat (im Wert von insgesamt 465.262,57 €), und nicht nur die anklagegegenständlichen Verordnungen, die gegenüber v. und ARGE abzurechnen waren (im Wert von insgesamt 343.390,14 €). Demgemäß beziehen sich die Abzüge auch auf sämtliche eingereichten Verordnungen, die in den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung fielen. Ein Herausfiltern der Abzüge nach den hier relevanten Kassen sei, so die Zeugin, in ihrem System nicht möglich gewesen.
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Für die Bewertung des Schadens war es aus Sicht der Kammer gleichgültig, ob R eine Auszahlung an die Angeklagte vornahm oder einen Zahlungsanspruch der Angeklagten durch Verrechnung mit eigenen Ansprüchen gegen sie zum Erlöschen brachte. In beiden Fällen gab R einen werthaltigen Vermögensgegenstand (Geld oder Zahlungsanspruch) im Gegenzug für wirtschaftlich wertlose Forderungen auf. Dass die verrechneten (technisch: aufgerechneten) Forderungen der R werthaltig waren, folgert die Kammer aus der von der Zeugin Bü bestätigten Feststellung, dass die Ansprüche der R gegen die Angeklagte im Verlauf der Vertragsbeziehung stets durchgesetzt wurden, R mithin nicht auf ihren Forderungen sitzen blieb.
33
Die Angeklagte hat sich somit aufgrund des festgestellten Sachverhalts – wie tenoriert – des Betrugs in 134 tatmehrheitlichen Fällen strafbar gemacht.
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I.1. Der Annahme von Betrugstaten steht nicht entgegen, dass v. und ARGE der Angeklagten die Zulassungen zur Abrechnung erteilt haben, sodass die Zulassungen zunächst verwaltungsrechtliche Bestandskraft und strafrechtliche Tatbestandswirkung entfalteten, was die von R erworbenen Forderungen sozialrechtlich werthaltig gemacht hätte (vgl. BGH, Urteil vom 05.12.2002 – 3 StR 161/02, juris Rn. 29; LK-StGB/Tiedemann, 12. Aufl., § 263 Rn. 188). Es gilt vielmehr, dass eine nicht qualifizierte Podologin, die sich die Zulassung zur Kassenversorgung erschleicht, sich des Betruges zum Nachteil der honorarleistungspflichtigen Krankenkasse schuldig macht, sobald sie ihr gegenüber Behandlungen abrechnet (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.1993 – 1 StR 280/93, juris Rn. 19 ff.; BSG, Urteil vom 21.06.1995 – 6 RKa 60/94, juris Rn. 13; Ellbogen/Wichmann, MedR 2007, 10, 12; andererseits aber LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.08.2002 – L 3 KA 161/02 ER, juris Rn. 91; BGH, Beschluss vom 22.03.2023 – 1 StR 440/22, juris Rn. 8; Reichling, JR 2023, 640).
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2. Im Fall der Zulassung durch die ARGE dürfte es auf diese rechtliche Problematik jedoch tatsächlich nicht ankommen. Denn in § 4 Nr. 1 des entsprechenden Rahmenvertrags heißt es, dass die Zulassung zur Behandlung von Versicherten der Krankenkasse bei Wegfall einer der Voraussetzungen nach § 3 endet. Weil die Zulassungsempfehlungen gem. § 3 Abs. 1 Rahmenvertrag (oben unter C.II.2.b) in den Rahmenvertrag inkorporiert wurden und sich aus diesen (Teil I, Allg. Teil, Nr. 2, ebenfalls unter C.II.2.b) ergibt, dass eine fachliche Leitung ganztägig anwesend sein muss, bestand die Zulassung mangels Erfüllung der Voraussetzungen von vornherein nicht. Dass diese Rechtsfolge („endet“) keinen weiteren Verwaltungsakt erfordert, sondern ipso jure eintritt, folgt weiter aus einem Vergleich mit 4 Nr. 3 des Rahmenvertrags, wonach die Zulassung bei deren Widerruf endet.
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3. Im Fall des v. fehlt es an einer vergleichbaren Vertragsregelung, was aber am Ergebnis nur wenig ändern würde. Denn gem. § 1 Abs. 4 (und § 4 Abs. 2) des dortigen Rahmenvertrags (oben unter C.II.2.b) können abzurechnende Leistungen nur durch Podologen erbracht werden, die die Voraussetzungen nach § 1 PodG erfüllen, sodass im Umkehrschluss die durch sonstiges Personal erbrachten Leistungen nicht abrechenbar sein. Insoweit wären also allein die wenigen Stunden der Podologinnen M und B theoretisch abrechnungsfähig, was sie indes nicht sind (vgl. I.1).
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II. Bei der Schadensberechnung ging die Kammer vom Nettowert der Verordnung, das heißt von dem Wert der Verordnung abzüglich der Zuzahlungen, die durch den Patienten geleistet wurden, aus. Von diesem Nettowert hat die Kammer zugunsten der Angeklagten noch folgende Werte in Abzug gebracht, die die Zeugin Bü einzeln erläuterte: das Honorar von R, die von R bei jeder Abrechnung, die gegenüber gesetzlichen Kassen geltend zu machen war; einbehaltene „GKV-Pauschale“, die für die Weiterleitung an die Kassen erhoben wurde; die Gebühr der R für Papierabrechnungen und die auf all das entfallende Mehrwertsteuer, sowie schlussendlich die „weiteren Leistungen brutto“, die ab dem Fall 79 anfielen. Letzteres hing, so die Zeugin Bü, mit einer Systemumstellung bei der Abrechnung bei R zusammen; in der Sache handele es sich dabei um einen Teil des Honorars von R, den R unabhängig von der Durchsetzbarkeit der erworbenen Forderungen beanspruchte und etwa auch dann einbehielt, wenn dort Mehraufwand wegen der Absetzungen anfiel.
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Bei der unmittelbaren Schadensberechnung nicht berücksichtigt hat die Kammer die Absetzungen (anders dann bei der Strafzumessung). Die Zeugin Bü führte insoweit aus, dass es sich hierbei um Korrekturen handele, die daraus resultieren, dass die Krankenkassen einzelne Verordnungen oder Teile einer Verordnung beanstanden und hierauf keine Zahlung leisten. Dies könne etwa der Fall sein, wenn die Unterschrift des Arztes fehle. In diesem Fall würden die Krankenkassen keine Zahlungen an R leisten und R würde – im Wege der Korrektur – den entsprechenden Betrag bei der nächsten Auszahlung an den Leistungserbringer in Abzug bringen. Die Zeugin gab an, dass die Korrektur aufgrund der zeitlichen Abläufe nie bei der Abrechnung der beanstandeten Rechnung erfolge, sondern erst im Rahmen einer späteren Abrechnung in Abzug gebracht werde. Daher waren diese Korrekturen bei dem Schaden, bei dem es auf den Zeitpunkt der Vermögensverfügung ankommt, nicht zu berücksichtigen (zu diesem Zeitpunkt zahlte die R den Betrag zunächst an die Angeklagte aus oder verrechnete mit eigenen Ansprüchen ohne Abzüge wegen etwaiger Mängel an der Verordnung vorzunehmen).
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III. Die Angeklagte handelte gewerbsmäßig, also in der Absicht, sich aus der wiederholten unberechtigten Abrechnung von Verordnungen eine nicht unerhebliche und auf längere Zeit angelegte Einkommensquelle zu verschaffen.
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IV. Hinsichtlich der konkurrenzmäßigen Zusammenfassung der 4.108 einzelnen Verordnungen, die die Angeklagte bei R eingereicht hat, zu 134 Taten (alle an einem Tag eingereichten Verordnungen bilden eine Tat i.S.d. natürlichen Handlungseinheit) hat sich die Kammer auf die entsprechende Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gestützt (vgl. Kammer, Beschluss vom 03.05.2023 – 12 KLs 114 Js 10235/20, juris Rn. 33 m.w.N.).
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Für sämtliche Taten war jeweils der Strafrahmen des § 263 Abs. 3 Satz 1 StGB maßgeblich, da sie in jedem Einzelfall die Voraussetzungen des Regelbeispiels gem. § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 Alt. 1 StGB erfüllten. Die Angeklagte hat jeweils gewerbsmäßig gehandelt, also in der Absicht, sich durch die Tatbegehung eine Einkommensquelle von Dauer und Gewicht zu verschaffen. Dies hat sie auch umgesetzt, indem sie mehrere Jahre von den rechtswidrig erwirtschafteten Einnahmen der Podologiepraxis ihren Lebensunterhalt bestritt. Es bestand nach Lage der Dinge auch kein Anlass, ausnahmsweise auf den Normalstrafrahmen des § 263 Abs. 1 StGB zurückzufallen. Bei einer Gesamtabwägung aller Umstände, die für die Wertung der Tat und der Person der Angeklagten in Betracht kommen, insbesondere ihrer Persönlichkeit, ihres Gesamtverhaltens, ihrer Motive, der Tat selbst, des Tatbilds und der die Taten begleitenden Umstände, ergab sich, dass jede einzelne Tat nicht vom durchschnittlichen Fall der Regelwirkung abwich.
II. Strafzumessung im engeren Sinne
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Bei der konkreten Strafzumessung hat sich die Kammer im Wesentlichen von folgenden Umständen leiten lassen:
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1. Für die Angeklagte sprach ihr frühes und umfassendes Geständnis, das sie am zweiten Hauptverhandlungstag in der Hauptverhandlung ablegte und das von Reue getragen war. Hierbei räumte sie nicht nur den angeklagten Sachverhalt ein, sondern machte auch nähere, für sie nachteilige Angaben zur Tatausführung, die über die in der Anklageschrift benannten Umstände hinausgingen. So gestand sie das Fälschen der Arbeitsverträge der Zeuginnen B und M und deren Vorlage bei der R. Weiter hat die Kammer zugunsten der Angeklagten berücksichtigt, dass sich R als Geschädigte der Betrugstaten zumindest subjektiv nicht geschädigt fühlt. Objektiv wurde der durch den Erwerb wertloser Forderungen gegen Krankenkassen zunächst entstandene Schaden ausgeglichen. Das von R an die Angeklagte ausgezahlt Geld, auf das letztere keinen Anspruch hatte, hat R von den Krankenkassen (zurück) erlangt. Rückforderungen durch die Krankenkassen gegenüber der R erfolgten nicht. Soweit auf einzelne Verordnungen hin keine Auszahlung durch die Krankenkassen erfolgte, hat R sich das zuvor an die Angeklagte ausbezahlte Geld vertragsgemäß durch Verrechnung (die sog. Absetzungen) zurückgeholt. Auf die zweite Tabelle unter B.IV.2 wird insoweit verwiesen; hierin liegt eine teilweise nachträgliche Schadensbeseitigung.
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Zugunsten der Angeklagten wertet die Kammer weiter, dass zumindest teilweise ordnungsgemäße podologische Leistungen durch die bei der Angeklagten beschäftigten Podologinnen im Umfang ihrer geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse erfolgten. Außerdem berücksichtigt die Kammer die lange Verfahrensdauer zugunsten der Angeklagten und die Tatsache, dass die Taten bereits eine Weile zurückliegen. Für die Angeklagte spricht zudem, dass sie bei einem Teil der Taten (Fall 1 bis 117) noch nicht vorbestraft war.
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2. Zu Lasten der Angeklagten hat die Kammer jedoch die hohe kriminelle Energie berücksichtigt, die diese bei Tatbegehung gezeigt hat. Die Angeklagte hat über einen beachtlichen Zeitraum unberechtigt Verordnungen abgerechnet und hierbei einen erheblichen Betrag erlangt. Gegen die Angeklagte spricht auch, dass sie bei einem kleinen Teil der hier gegenständlichen Taten bereits vorbestraft war.
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Unter nochmaliger Abwägung der zu Gunsten und zu Lasten des Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte, sowie unter Berücksichtigung der Höhe des bei den Einzelstrafen entstandenen Schadens sowie des Umstands, dass hier eine Tatserie vorlag, bei der schon bei der Bildung von Einzelstrafen die Gesamtserie und der Gesamtschaden in den Blick zu nehmen waren, erachtete die Kammer folgende Einzelstrafen für tat- und schuldangemessen, wobei die Differenzierung anhand der Schadenshöhe (wie in der ersten Tabelle unter B.IV.2) erfolgte:
Fälle mit Schaden bis einschließlich 1.000 €: 7 Monate
Fälle mit Schaden bis einschließlich 3.000 €: 8 Monate
Fälle mit Schaden bis einschließlich 5.000 €: 9 Monate
Fälle mit Schaden über 5.000 €: 10 Monate
III. Gesamtstrafenbildung
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Die Gesamtstrafe war zu bilden unter Auflösung der Gesamtfreiheitsstrafe im Urteil des Amtsgerichts Kempten vom 30.08.2022 (13 Ds 140 Js 22691/21) und unter Einbeziehung der dort verhängten Freiheitsstrafen wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis und wegen Missbrauchs von Ausweispapieren sowie der dort einbezogenen Freiheitsstrafe wegen Betrugs (Strafbefehl des Amtsgerichts Kempten vom 21.12.2021 – 13 Ds 460 Js 19073/21).
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Gemäß § 55 Abs. 1, §§ 53, 54 StGB bildete die Kammer nach nochmaliger Abwägung aller für und gegen die Angeklagte sprechenden Umstände aus diesen bereits rechtskräftigen Einzelstrafen und den für die nunmehr abzuurteilenden Taten festgesetzten Einzelfreiheitsstrafen unter Erhöhung der Einsatzstrafe von 10 Monaten nachträglich eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten, die nach Wertung der Kammer insgesamt tat- und schuldangemessen war.
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Bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe hat die Kammer nochmals sämtliche oben im einzelnen genannten Strafzumessungserwägungen, denen auch bei der Bildung der Gesamtstrafe wesentliche Bedeutung zukommt und auf die verwiesen wird, berücksichtigt. Dabei wurde insbesondere der motivatorische Zusammenhang bei den nun abgeurteilten Taten berücksichtigt. Weiter hat die Kammer auch die Strafzumessungserwägungen des Amtsgerichts Kempten im Urteil 13 Ds 140 Js 22691/21 bezüglich der nun einbezogenen Einzelfreiheitsstrafen bei der Bildung der Gesamtfreiheitsstrafe berücksichtigt. Das Amtsgericht führte in den – insoweit hier verlesenen – Urteilsgründen zur Strafzumessung im Wesentlichen zugunsten der Angeklagten ihr Geständnis, die spontane Tatbegehung und Notsituation sowie zulasten ihre Vorstrafen und ihre hohe Rückfallgeschwindigkeit an. Weiter führte es aus, dass aufgrund der massiven Häufung von Straftaten Geldstrafen zur Einwirkung auf die Angeklagte nicht mehr ausreichen würden, weshalb es jeweils kurze Freiheitsstrafen verhängte.
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Die hier abgeurteilten Taten Fall 1 bis 117 hat die Angeklagte begangen, bevor die letzte tatrichterliche Sachentscheidung im Verfahren durch das Amtsgericht Neumarkt i.d.OPf. vom 23.07.2018 (Nr. 1 BZR) erfolgte (die Tat im Fall 117 war nach der Aufstellung der Zeugin Bü am 06.07.2018 mit Auszahlung an die Angeklagte beendet). Die Taten in den Fällen 118 bis 134 hat die Angeklagte begangen, bevor die letzte tatrichterliche Sachentscheidung im Verfahren durch das Amtsgericht Neumarkt i.d.OPf. vom 29.08.2019 (Nr. 2 BZR) erfolgte. Die damals verhängten Strafen waren insoweit gesamtstrafenfähig, waren aber schon vollständig vollstreckt und damit nach § 55 Abs. 1 StGB erledigt. Der Nachteil, der der Angeklagten durch die Vollstreckung der Geldstrafen entstanden ist, wurde bei der Bemessung der jetzt festgesetzten Gesamtstrafe im Wege des Härteausgleichs berücksichtigt.
IV. Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung
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Die Kammer hat zugunsten der Angeklagten drei Monate der erkannten Gesamtfreiheitsstrafe als bereits vollstreckt gewertet, weil insoweit nach ihrer Wertung eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung vorliegt. Allerdings führt nicht jede im Strafprozess vorkommende Verzögerung zu einer Verletzung des Beschleunigungsgebots im Sinne einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Eine solche liegt vielmehr erst bei von den Strafverfolgungsorganen zu verantwortenden erheblichen Verzögerungen vor, was sich aus einer umfassenden Würdigung der Umstände des Falls ergeben muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.09.2012 – 2 BvR 2819/11, juris Rn. 4 m.w.N.). Die Sache wurde zunächst von der Staatsanwaltschaft M. I, dann von der Staatsanwaltschaft M. II, anschließend wieder von der Staatsanwaltschaft M. I und schließlich von der Generalstaatsanwaltschaft Nürnberg bearbeitet. Die Durchsuchung im Ermittlungsverfahren fand bereits am 17.10.2018 statt. Die Kriminalpolizeiinspektion … legte ihren Ermittlungsbericht unter dem 25.04.2019 vor, wobei in der Folgezeit durch die Generalstaatsanwaltschaft mehrfach weitere Ermittlungen beauftragt wurden, nicht zuletzt, weil sich ihre Rechtsauffassung zu einzelnen Punkten änderte. Die Anklage wurde (erst) unter dem 17.01.2023 erhoben. Diese ließ die Kammer aus tatsächlichen Gründen nicht zu (Beschluss vom 03.05.2023 – 12 KLs 114 Js 10235/20, juris), woraufhin die Generalstaatsanwaltschaft im Beschwerdeverfahren umfangreich neue Beweismittel verlegte und der Strafsenat des OLG Nürnberg die Sache vor der Kammer eröffnete. Die Beiträge aller Beteiligten (Kammer, Generalstaatsanwaltschaft, Polizei) haben so in Summe dazu geführt, dass das Verfahren deutlich länger gedauert hat, als dass es der Umfang und die Komplexität der Sache nötig gemacht hätte. Diese Mehrdauer ist der Angeklagten nicht zuzurechnen. Die Kammer hat daher von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, einen (kleinen) Teil der verhängten Freiheitsstrafe als vollstreckt zu erklären.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 465 Abs. 1, § 467 Abs. 1 StPO.