Inhalt

LG München I, Endurteil v. 01.10.2024 – 23 O 1100/24
Titel:

Bindungswirkung des Stichentscheids in der Rechtsschutzversicherung

Normenkette:
ARB 2005 § 18, § 23
Leitsätze:
1. Um die vertraglich vereinbarte Bindungswirkung des Stichentscheids in der Rechtsschutzversicherung nicht zu entwerten, ist es dem Versicherer verwehrt, andere Ablehnungsgründe nachzuschieben, die in der ursprünglichen Deckungsablehnung nicht geltend gemacht worden waren. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Zeitraum von 14 Monaten zwischen Deckungsablehnung und Stichentscheid steht dessen Bindungswirkung nicht entgegen, wenn der Rechtsschutzversicherer von der ihm eingeräumten Möglichkeit zur Fristsetzung keinen Gebrauch gemacht hat. (Rn. 30 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dem Rechtsschutzversicherer ist es verwehrt, nach dem Stichentscheid andere als in der Deckungsablehnung aufgeführte Gründe nachzuschieben (Anschluss an OLG Hamm BeckRS 2012, 948 Rn. 18). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ist im maßgeblichen Zeitpunkt die Rechtslage noch unklar und ändern sich die Erfolgsaussichten erst später – etwa aufgrund höchstrichterlicher Klärung –, so kann sich der Rechtsschutzversicherer, der die Deckung zunächst durch eine aus damaliger Sicht unberechtigte Ablehnung verzögert hat, nicht nachträglich auf die zwischenzeitliche Klärung zu seinen Gunsten berufen (Anschluss an OLG Karlsruhe BeckRS 2016, 20806). (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsschutzversicherung, Deckungsablehnung, Stichentscheid, Bindungswirkung, Nachschieben von Gründen, Erfolgsaussicht
Fundstellen:
FDVersR 2024, 029522
BeckRS 2024, 29522

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus dem Rechtsschutzschutzversicherungsvertrag mit der Versicherungsnummer … verpflichtet ist, für die außergerichtliche und erstinstanzliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die B… AG aufgrund des Fahrzeugkaufs vom 26. Februar 2014 (FIN: …) bedingungsgemäßen Deckungsschutz zu gewähren.
2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die daraus resultieren, dass die Beklagte die Deckungszusage gemäß Nummer 1. nicht erteilt hat.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von den Kosten des Stichentscheides in Höhe von 819,91 EUR (Rechnungsnummer: …) freizustellen.
4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
5. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 11.391,56 EUR festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über Ansprüche aus einem Rechtsschutzversicherungsvertrag.
2
Der Ehemann der Klägerin unterhält bei der Beklagten unter der Versicherungsnummer … eine Rechtsschutzversicherung, welche unter anderem Privat-Rechtsschutz für Selbständige gewährt. Auf den Versicherungsvertrag finden die Allgemeinen Rechtsschutz-Versicherungsbedingungen der Beklagten in der Fassung A… 2005, Stand 01.01.2009 (künftig: ARB 2005) Anwendung. Diese wurden vorgelegt als Anlage K 1 und als Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 14.11.2023 (Bl. 309 bis 316 d.A.).
3
Am 26.02.2014 erwarb die Klägerin bei der Firma B. als Gebrauchtwagen ein Fahrzeug des Herstellers BMW, Typ X1 1.8 D S-Drive, FIN: …, zu einem Kaufpreis von 26.690,00 EUR. Das Fahrzeug ist mit dem Motor des Typs N47 ausgestattet und wies zum Zeitpunkt des Kaufes einen Kilometerstand von 26.336 auf.
4
Für das Fahrzeug gab es keine freiwillige oder amtlich angeordnete Servicemaßnahme in Form eines sogenannten Rückrufs.
5
Um Schadensersatzansprüche gegen den Fahrzeughersteller wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung geltend machen zu können, beauftragte die Klägerin die Rechtsanwaltskanzlei G. Rechtsanwälte damit, bei der Beklagten wegen einer Kostendeckung anzufragen. Mit Schreiben vom 27.03.2020 (Anlage K 2) wandte sich deshalb diese Kanzlei an die Beklagte und bat im Auftrag der Klägerin um eine Deckungszusage für das außergerichtliche und gerichtlich erstinstanzliche Vorgehen gegen den Fahrzeughersteller. Mit Schreiben vom 10.09.2021 (Anlage K 3) lehnte die Beklagte den begehrten Deckungsschutz unter Verweis auf angeblich fehlende Erfolgsaussichten ab.
6
Die nunmehrigen Prozessbevollmächtigten der Klägerin fertigten daraufhin einen sogenannten Stichentscheid unter dem 28.11.2022 (Anlage K 4) und übersandten diesen sowie eine Kostennote für die Stellungnahme in Höhe von 819,91 EUR (Anlage K 5) an die Beklagte. Dabei kündigten sie an, dass die Klägerin im Falle der weiteren Deckungsverweigerung einen externen Prozesskostenfinanzierer in Anspruch nehmen werde (Seite 3 des Anschreibens vom 28.11.2022, Anlage K 4). Hieraufhin teilte die Beklagte mit Schreiben vom 21.12.2022 (Anlage K 6) mit, den Stichentscheid nicht als bindend anzusehen.
7
Am 14.02.2023 schloss die Klägerin mit der S. GmbH einen Prozesskostenfinanzierungsvertrag, in dem eine Provision von 35% vereinbart wurde.
8
Die Klägerin behauptet, dass in der Steuerung des streitgegenständlichen Motors eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines sogenannten Thermofensters zum Einsatz käme.
9
Die Klägerin beantragt:
I.
10
Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus dem Rechtsschutzschutzversicherungsvertrag mit der Versicherungsnummer … verpflichtet ist, für die außergerichtliche und erstinstanzliche Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen die B. AG aufgrund des Fahrzeugkaufs vom 26. Februar 2014 (FIN: …) bedingungsgemäßen Deckungsschutz zu gewähren.
II.
11
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche materiellen Schäden zu ersetzen, die daraus resultieren, dass die Beklagte die mit dem Antrag zu 1) begehrte Deckungszusage nicht erteilt hat.
III.
12
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den Kosten des Stichentscheides in Höhe von EUR 819,91 (Rechnungsnummer: …) freizustellen.
13
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
14
Die Beklagte trägt vor, es fehle an jedem schlüssigen Tatsachenvortrag sowohl in der Hauptsache, als auch in der Deckungsklage. Die Klage stütze sich auf Vermutungen. Es gebe keine Beweismittel, dass das Fahrzeug nicht Vertrags- und Gesetzeskonform sei. Es handele es sich um reine Behauptungen ins Blaue, dass in dem Fahrzeug ein Thermofenster und andere Abschalteinrichtungen eingebaut seien. Die möglichen Beweismitteln seien unzulässige Ausforschungen. Ein nachweisbarer Rechtsschutzfall sei nicht dargelegt. Es fehle an dem Nachweis eines Pflichtverstoßes. Zudem sei von einer rein wirtschaftlichen Interessenwahrnehmung, einem Fall der Kaufreue auszugehen. Der Stichentscheid sei nicht bindend. Der zugrundeliegende Anspruch sei verjährt. Ein außergerichtliches Tätigwerden sei von vornherein aussichtslos und verletzte deshalb eine Schadensminderungspflicht.
15
Wegen der Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
16
Die zulässige Klage ist begründet.
17
1. Der Feststellungsantrag unter 1. ist begründet, weil für den geltend gemachten Rechtsschutzfall Versicherungsschutz besteht und der Stichentscheid Bindungswirkung entfaltet.
18
a. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung unterfällt dem vereinbarten Privat-Rechtsschutz für Selbständige und die Klägerin ist als Ehefrau des Versicherungsnehmers versicherte Person.
19
Nach § 23 (1) a) und (3) erster Spiegelstrich ARB 2005 besteht Schadensersatz-Rechtsschutz gemäß § 2 a im privaten Bereich für den Versicherungsnehmer und seinen ehelichen Lebenspartner. Nach § 2 a ARB umfasst der Schadensersatz-Rechtsschutz die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen soweit diese nicht auf einer Vertragsverletzung oder einer Verletzung eines dinglichen Rechts an Grundstücken, Gebäuden oder Gebäudeteilen beruhen. Hier will die Klägerin Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung geltend machen.
20
b. Der Stichentscheid vom 28.11.2022 (Anlage K 4) entfaltet gemäß § 18 (2) ARB 2005 Bindungswirkung.
(1) Die Beklagte hat ihre Deckungsablehnung vom 10.09.2021 (Anlage K 3) auf fehlende Erfolgsaussichten gemäß § 18 (1) ARB 2005 gestützt.
21
Zur Begründung hat die Beklagte ausgeführt, das Fahrzeug sei nicht von einem zwingenden Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt betroffen. Es sei nicht nachgewiesen, dass die Fahrzeuge von BMW aufgrund einer unzulässigen Abschalteinrichtung die Abgaswerte nicht einhielten. Zwar stelle die Verwendung eines Thermofensters keine zulässige Abschalteinrichtung dar, ein Anspruch aus § 826 BGB setze darüber hinaus jedoch voraus, dass der Hersteller im Bewusstsein das Kraftfahrtbundesamt zu täuschen, falsche Angaben im Typengenehmigungsverfahren gemacht habe. Dabei zitierte die Beklagte aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts München vom 04.02.2020, in der hohe Anforderungen an die Sittenwidrigkeit gemäß § 826 BGB gestellt worden seien. Ferner hat die Beklagte darauf verwiesen, dass bei Fahrzeugen des Herstellers BMW das Vorliegen eines Thermofensters bestritten werde.
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(2) Mit dieser Argumentation setzt sich der Stichentscheid vom 28.11.2022 (Anlage K 4) hinreichend auseinander.
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(a) Grundsätzlich gilt: Die Stellungnahme des Rechtsanwalts in einem Stichentscheid ist eine von der Interessenvertretung losgelöste Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Sie muss in der Absicht abgegeben werden, eine abschließende Reaktion auf die Versagung des Rechtsschutzes darzustellen und so ausreichend begründet sein, dass sie – vergleichbar einer Berufungsbegründung – hinreichend erkennen lässt, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art die Meinung des Versicherers nach Ansicht des Rechtsanwalts unrichtig ist. Der Inhalt ist in erster Linie abhängig vom Umfang oder der Komplexität des Streitstoffes, von der bisherigen Kenntnis des Rechtsschutzversicherers und dem Stadium der Interessenwahrnehmung. Ein ergänzender Tatsachenvortrag in der Stellungnahme ist zulässig und zu beachten. Der Rechtsanwalt hat den entscheidungserheblichen Streitstoff darzustellen, anzugeben, inwieweit für bestrittenes Vorbringen Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann, die sich ergebenden rechtlichen Probleme unter Berücksichtigung von Rechtsprechung und Rechtslehre herauszuarbeiten und sich auch mit etwa vorhandenen Argumenten auseinander zu setzen, die gegen eine Erfolgsaussicht sprechen. Eine nur summarische und unsubstantiierte Begründung etwa derart, dass die Verneinung der Leistungspflicht durch den Versicherer abwegig und unzutreffend sei, reicht nicht aus. Andererseits muss sich der Stichentscheid nur auf die Punkte beziehen, auf die der Rechtsschutzversicherer zuvor die Deckungsablehnung gestützt hat (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3 a Rn. 49 m.w.N.).
24
(b) Diesen Voraussetzungen genügte der Stichentscheid vom 28.11.2022 (Anlage K 4).
25
Hinsichtlich eines Thermofensters hat der Stichentscheid sich insbesondere mit dessen Beweisbedürftigkeit befasst und verwiesen auf „ein Testergebnis der Deutschen Umwelthilfe vom 23. Mai 2017 und ein Schreiben der DUH an das KBA vom 5. Dezember 2017“ sowie auf – wenngleich unbenannte – „Entscheidungen aus übertragbaren Parallelverfahren (selber Motor, selbes Modell, selbe EU – Norm), in denen die Bezugsbeklagte das Vorliegen und die beschriebene Funktion des Thermofensters ersichtlich zugestanden“ (Seite 18 f. des Stichentscheids).
26
Der Stichentscheid ist nach umfassender Prüfung der Tatbestandsmerkmale des § 826 BGB zwar zu dem Ergebnis gelangt, dass die Annahme eines objektiven Sittenverstoßes gemäß § 826 BGB „keine hinreichende Aussicht auf Erfolg“ habe (Seite 28 des Stichentscheids) und sich das Begehren des Versicherungsnehmers „nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf § 826 BGB stützen“ lasse (Seite 56 des Stichentscheids).
27
Dagegen hat der Stichentscheid einen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV i.V.m. der Richtlinie 2007/46/EG i.V.m. der VO (EG) Nr. 715/2007 bejaht (Seite 56 ff. des Stichentscheids). Dabei hat er sich insbesondere auch mit der Frage eines Drittschutzes und der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Seite 58 Stichentscheids) auseinandergesetzt und dieser den Vorlagebeschluss des Landgerichts Ravensburg vom 12.02.2021, Az. 2 O 393/20, sowie die Schlussanträge des Generalanwaltes Rantos in dem Verfahren C-100/21 des EuGH entgegengehalten (Seite 59 bis 64 des Stichentscheids), die unterschiedlichen Reaktionen hierauf durch die Instanzgerichte und die Literatur eingehend dargestellt (Seite 65 bis 72 des Stichentscheids) und diese wiederum in einer umfänglichen eigenen Stellungnahme bewertet (Seite 72 bis 78 des Stichentscheids).
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Ferner hat er auch die weiteren Tatbestandsmerkmale eines Anspruchs aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV geprüft und dabei insbesondere der Annahme einer Fahrlässigkeit nach Darstellung der diesbezüglichen Rechtsprechung (Seite 81 bis 90 des Stichentscheids) und einer eigenen Abwägung „hinreichende Erfolgsaussichten“ beigemessen (Seite 91 des Stichentscheids).
29
Weiter hat er hinsichtlich der Annahme eines Schadens nach Darstellung und Auswertung der diesbezüglichen Rechtsprechung (Seite 92 bis 101 des Stichentscheids) eine „offene Rechtslage und damit vertretbare Ansicht des Versicherungsnehmers“ (Seite 98 des Stichentscheids) und daher „hinreichende Erfolgsaussichten“ (Seite 101 des Stichentscheids) attestiert.
(3) Die Beklagte kann sich nicht auf eine fehlende Bindungswirkung des Stichentscheids berufen.
30
(a) Der Zeitraum von 14 Monaten zwischen der Deckungsablehnung vom 10.09.2021 (Anlage K 3) einerseits und dem Stichentscheid vom 28.11.2022 (Anlage K 4) andererseits steht der Bindungswirkung nicht entgegen.
31
Weder nach den hier maßgeblichen Versicherungsbedingungen noch in § 128 VVG ist die Abgabe eines Stichentscheids an eine Frist gebunden. Auch die Beklagte knüpfte im Rahmen ihrer Deckungsablehnung – die ihrerseits fünf Monate nach der Deckungsanfrage und damit ebenfalls spät erfolgte – die Möglichkeit des Stichentscheides nicht an einen bestimmten Zeitraum. Von ihrem Recht zur Fristsetzung gemäß § 18 (3) ARB 2005 machte sie keinen Gebrauch. Die späte Erstellung des Stichentscheids widerspricht zwar dem Gedanken einer zügigen Klärung. Der abgegebene Stichentscheid verliert aber dadurch nicht seine Eignung, die Frage der hinreichenden Erfolgsaussichten zwischen den Parteien verbindlich zu klären.
32
(b) Der von der Beklagten geltend gemachte Verjährungseintritt hinsichtlich etwaiger Schadensersatzansprüche (Klageerwiderung vom 15.04.2023, Seite 5; Bl. 209 d.A.) wurde weder in der Deckungsablehnung vom 10.09.2021 (Anlage K 3) noch in dem auf den Stichentscheid folgenden Schreiben vom 21.12.2022 (Anlage K 6) thematisiert, obwohl der Beklagten das Jahr der Erstzulassung und der Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs bereits aus der Deckungsanfrage vom 27.03.2020 (Anlage K 2) bekannt waren. Um die vertraglich vereinbarte Bindungswirkung des Stichentscheids nicht zu entwerten, ist es dem Versicherer verwehrt, andere Ablehnungsgründe nachzuschieben (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 14. Oktober 2011 – 20 U 92/10 Rn. 20 – juris)
33
(c) Die im Stichentscheid vertretene Rechtsansicht weicht auch nicht offenbar von der wirklichen Sach- und Rechtslage erheblich ab im Sinne des § 18 (2) Satz 2 ARB 2005.
(aa) „Erheblich“ ist die Abweichung, wenn die Stellungnahme des Rechtsanwalts die Sach- oder Rechtslage gröblich verkennt. „Offenbar“ ist eine solche Unrichtigkeit erst dann, wenn sie sich dem Sachkundigen, wenn auch erst nach gründlicher Prüfung, mit aller Deutlichkeit aufdrängt. Vertritt der Rechtsanwalt von mehreren Rechtsmeinungen diejenige, die nicht der herrschenden entspricht, die aber andererseits auch nicht ganz abwegig erscheint oder die höchstrichterlich noch nicht völlig geklärt ist, dann weicht seine Meinung nicht „offenbar“ von der wirklichen Sach- und Rechtslage ab. Eine offenbar erhebliche Abweichung kann dagegen angenommen werden, wenn der Rechtsanwalt eine nicht mehr vertretbare Meinung einnimmt oder – z.B. bei bewusster Falschinformation durch den Versicherungsnehmer – von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgeht, ein wesentliches Tatbestandsmerkmal des Versicherungsfalles bei seiner Beurteilung außer Acht lässt oder wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht schlüssig ist, d.h. wenn der dem Versicherer unterbreitete Sachverhalt – seine Richtigkeit unterstellt – die vom Rechtsanwalt für hinreichend aussichtsreich gehaltene Rechtsfolge gar nicht herbeiführen kann (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3 a Rn. 52 m.w.N.).
34
(bb) Angesichts der umfassenden und zutreffenden Darstellung der damaligen Rechtsprechung scheidet die Annahme eines Abweichens von der wirklichen Sach- und Rechtslage aus.
35
Die Ausführung der Beklagten im Schreiben vom 21.12.2023 (Anlage K 6), wonach „keine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den sogenannten Abgasfällen durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abzusehen“ sei und „abzuwarten“ bleibe, „ob der Europäische Gerichtshof (EuGH) den Anträgen des Generalanwalts vom 02.06.2022 folgen wird“, greift zu kurz. Denn der Stichentscheid hat der damaligen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Drittschutz den Vorlagebeschluss des Landgerichts Ravensburg vom 12.02.2021, Az. 2 O 393/20, sowie die diesbezüglichen Schlussanträge des Generalanwaltes Rantos entgegengehalten (Seite 58 bis 64 des Stichentscheids) sowie die unterschiedlichen Reaktionen hierauf durch die Instanzgerichte und die Literatur dargestellt und somit bereits konkrete Argumente vorgebracht, die eine Änderung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes als zumindest möglich erscheinen ließen. Das genügt bereit für die Bejahung hinreichender Erfolgsaussichten (vgl. Prölss/Martin/Piontek, 32. Aufl. 2024, ARB 2010, § 1 Rn. 9 m.w.N.).
36
Im Zeitpunkt des Stichentscheids war das Urteil des BGH vom 26.06.2023, Az. VIa ZR 335/21, noch nicht bekannt, wonach dem Käufer ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV zustehen kann, dieser Anspruch aber auf den sogenannten kleinen Schadensersatz beschränkt sein soll. Daher konnte die im Stichentscheid vertretene Ansicht hinreichender Erfolgsaussichten eines auf Rückabwicklung gerichteten Begehrens damals nicht als unvertretbare Meinung eingeordnet werden. Ist im maßgeblichen Zeitpunkt die Rechtslage noch unklar und ändern sich die Erfolgsaussichten erst später – etwa aufgrund höchstrichterlicher Klärung –, so kann sich der Rechtsschutzversicherer, der die Deckung zunächst durch eine aus damaliger Sicht unberechtigte Ablehnung verzögert hat, nicht nachträglich auf die zwischenzeitliche Klärung berufen (OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.12.20216 – Az. 12 U 106/16).
37
Demzufolge ist die Pflicht der Beklagten zur Gewährung von Deckungsschutz nicht auf die Geltendmachung des Differenzschadens zu beschränken.
38
2. Der Feststellungsantrag unter 2. ist ebenfalls begründet.
39
Mit der unberechtigten Ablehnung des Stichentscheids und der daraus resultierenden Deckungspflicht durch die Beklagte hat diese eine Pflicht aus dem Versicherungsverhältnis verletzt und ist zum Ersatz der daraus resultierenden materiellen Schäden verpflichtet.
40
Die Beklagte hat die in § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB normierte Verschuldensvermutung nicht widerlegt. Vielmehr stellt sich das Beharren auf der Deckungsablehnung trotz vorangegangenen Stichentscheids zumindest als fahrlässig dar.
41
Die Klägerin hat mit der Darstellung der Beauftragung des Prozesskostenfinanzierers S. GmbH gegen eine Provision im Erfolgsfall in Höhe von 35 Prozent hinreichend konkret dargelegt, dass kausale Schäden zu erwarten sind.
3. Die Beklagte hat die Klägerin auch von den Kosten des Stichentscheides in Höhe von 819,91 EUR freizustellen.
42
Gemäß § 18 (2) ARB 2005 hat die Beklagte die anwaltlichen Gebühren des Stichentscheiders zu tragen. Zwar steht dem Rechtsanwalt grundsätzlich nur eine Geschäftsgebühr in Höhe der Mittelgebühr von 1,3 gemäß Nr. 2300 VV RVG zu. Jedoch gilt im Rahmen des Freistellungsanspruchs, dass der Versicherer, sofern er die Gebührenforderung des Rechtsanwalts für überhöht hält, dem Versicherungsnehmer Abwehrschutz gewähren muss. Die Verpflichtung des Rechtsschutzversicherers, die durch den Stichentscheid entstehenden Kosten zu tragen, umfasst damit auch die Pflicht, den Versicherungsnehmer von unbegründeten Ansprüchen freizustellen (Harbauer/Schmitt, 9. Aufl. 2018, ARB 2010 § 3 a Rn. 50).
II.
43
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, diejenige über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 S. 1 und 2 ZPO.
III.
44
Die Streitwertsetzung folgt den Angaben in der Klageschrift, die das wirtschaftliche Interesse der Klagepartei für beide Feststellungsanträge nachvollziehbar beziffern (§ 48 Abs. 1 S. 1 GKG, § 3 ZPO).