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LG Augsburg, Urteil v. 08.02.2024 – 8 Ks 401 Js 103057/23
Titel:

Werfen von Kieselsteinen aus einem LKW auf entgegenkommende Fahrzeuge

Normenkette:
StGB § 223, § 224, § 303, § 315, § 315b
Leitsatz:
Das Werfen mit faustgroßen Kieselsteinen aus der Fahrerkabine eines Lkws heraus auf die Gegenspur im Bewusstsein, dass die betroffenen Fahrzeuge insbesondere im Bereich der Windschutzscheibe getroffen werden könnten, um auf diese Weise entgegenkommende Fahrzeuge zu beschädigen und einen Unglücksfall herbeizuführen, kann ua einen vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr (in der Absicht handelnd, einen Unglücksfall herbeizuführen) darstellen (Ergänzung zu BGH BeckRS 2021, 40398).  (Rn. 6 – 16 und 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Werfen von Steinen, Gegenfahrbahn, Herbeiführen eines Unglücksfalls
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2923

Tenor

I. Der Angeklagte F. N… ist schuldig des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, jeweils in der Absicht handelnd, einen Unglücksfall herbeizuführen, in Tateinheit mit Sachbeschädigung in 12 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall darüber hinaus in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, in einem weiteren Fall darüber hinaus in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, in einem weiteren Fall darüber hinaus in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung und in 9 weiteren Fällen jeweils darüber hinaus in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung, davon in 3 Fällen jeweils darüber hinaus in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung.
II. Er wird hierwegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren 6 Monaten verurteilt.
III. Dem Angeklagten wird die Fahrerlaubnis entzogen. Sein Führerschein wird eingezogen. Vor Ablauf von weiteren 3 Jahren darf ihm die Verwaltungsbehörde keine neue Fahrerlaubnis erteilen.
IV. Der Angeklagte trägt die Kosten des Verfahrens, seine notwendigen Auslagen sowie die notwendigen Auslagen des Nebenklägers.
Angewandte Strafvorschriften:
§§ 223 Abs. 1 und Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, 230 Abs. 1, 303 Abs. 1, 303c, 315b Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1a, 22, 23 Abs. 1, 52, 53, 69, 69a StGB

Entscheidungsgründe

(abgekürzt nach § 267 Abs. 4 StPO)
A. Prozessgeschichte
1
Das Verfahren wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft auf die 12 Fälle gegenüber den Geschädigten … (TEA 4), … (TEA 3), Dr. … (TEA 26), … (TEA 27), … (TEA 28), … (TEA 37), … (TEA 39), … (TEA 43), … (TEA 44), … (TEA 2), … (TEA 1) und … (TEA 58) aus der Anklageschrift vom 11.08.2023 beschränkt und im Übrigen gemäß § 154 Abs. 2 StPO entsprechend eingestellt, da die für die eingestellten Taten zu erwartende Strafe neben der für die verbleibenden Taten zu erwartende Strafe nicht beträchtlich ins Gewicht gefallen wäre.
2
Aufgrund der gegenständlichen Anklage vom 11.08.2023 wurde das Hauptverfahren gegen den Angeklagten im Umfang der nach Einstellung verbleibenden 12 Fälle eröffnet und die insgesamt 6 Sitzungstage andauernde Hauptverhandlung am 11.01.2024 begonnen.
B. Persönliche Verhältnisse
I. Familiäre Verhältnisse, beruflicher Werdegang, Vermögensverhältnisse
II. Suchtmittel, Erkrankungen
3
Der Angeklagte ist Nichtraucher. Er konsumiert Alkohol im sozialüblichen Rahmen, darüber hinaus aber weder Betäubungsmittel oder sonstige psychotrope Substanzen. Der Angeklagte hat keine psychischen Erkrankungen und befand sich nie in psychiatrischer Behandlung.
III. Voreintragungen
4
Der Auszug aus dem Bundeszentralregister des Angeklagten vom 30.11.2023, welcher von diesem als richtig anerkannt wurde, enthält keinen Eintrag.
IV. Haftdaten
5
Der Angeklagte befindet sich seit dem 10.02.2023 ununterbrochen in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt ..., zuletzt aufgrund des Haftbefehls des Landgerichts Augsburg vom 13.11.2023, Az.: 8 Ks 401 Js 103057/23, dem der Sachverhalt aus der Anklageschrift vom 11.08.2023 im Umfang der nach Einstellung verbleibenden 12 Fälle zugrunde liegt.
C. Festgestellter Sachverhalt
6
Der Angeklagte war bei der Firma A…, 8… G. als Lkw-Fahrer angestellt. Im Rahmen seiner Tätigkeit war dem Angeklagten jedenfalls ab Juni 2022 der Lkw mit dem amtl. Kennzeichen … für seine tägliche Arbeit fest und ausschließlich zugewiesen.
7
Zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt vor dem 29.06.2022 entschloss sich der Angeklagte dazu, im Bereich der B17/B2 mit faustgroßen, maximal 90,00 Gramm schweren Kieselsteinen aus der Fahrerkabine seines Lkw's heraus auf die Gegenspur zu werfen, um auf diese Weise ihm entgegenkommende Fahrzeuge zu beschädigen. Der Angeklagte kannte aufgrund seiner Arbeit die örtlichen Verhältnisse sehr gut und wusste daher, dass in diesem Bereich die Geschwindigkeit auf 60 km/h (B17) bzw. 80 km/h und 120 km/h (B2) beschränkt ist und die Fahrer der jeweiligen Fahrzeuge ihm möglicherweise mindestens mit dieser Geschwindigkeit entgegenkommen würden, während er sich gleichzeitig mit seiner Eigengeschwindigkeit von 60 km/h bzw. 80 km/h (außerorts) auf diese zubewegen würde. Ferner war dem Angeklagten bewusst, dass er den exakten Auftreffpunkt der Steine in jedem Fall dem Zufall überlassen würde, er die betroffenen Fahrzeuge insbesondere im Bereich der Windschutzscheibe treffen könnte, sodass in jedem Einzelfall der von ihm verwendete Kieselstein geeignet sein würde, die Windschutzscheibe zu beschädigen.
8
In allen Fällen handelte der Angeklagte, um einen Unglücksfall herbeizuführen.
9
Strafantrag wurde durch die jeweiligen Geschädigten, mit Ausnahme der Geschädigten B…, form- und fristgerecht gestellt. Die Staatsanwaltschaft bejaht darüber hinaus das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung.
10
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Fälle:
I. Tat innerhalb der „60-er-Zone“
11
Am 29.06.2022 fuhr der Angeklagte in dem sich aus Anlage I ergebenden einen Fall mit dem ihm zugewiesenen Lkw, amtl. Kennzeichen …, im Bereich der B17 zwischen der … und der Unterführung … mit einer Eigengeschwindigkeit von etwa 60 km/h, als er einen Stein in Richtung des ihm mit etwa 65 km/h Geschwindigkeit entgegenkommenden Fahrzeugs warf.
12
Der Angeklagte nahm billigend in Kauf, dass der ihm entgegenkommende Fahrzeugführer infolge des Einschlags des Steines verletzt werden könnte. Der Angeklagte verursachte zudem einen Schaden an dem Fahrzeug in Höhe von 912,56 EUR, was er ebenfalls zumindest billigend in Kauf nahm.
Anlage I (Tat innerhalb der 60-er-Zone)

TEA

Geschädigter Fahrzeug

Datum Uhrzeit

Tatort Fahrtrichtung (Geschädigter)

Beschädigung/Schadenshöhe

4

Alfa Romeo

29.06.2022

ca. 11.42 Uhr

B 17 Abschnitt Höhe

Norden

Windschutzscheibe Glassplitter im Fahrzeug Kratzer an Stirn

912,56 EUR

II. Tat innerhalb der „80-er-Zone“
13
Am 20.07.2022 fuhr der Angeklagte in dem sich aus Anlage II ergebenden einen Fall mit dem ihm zugewiesenen Lkw, amtl. Kennzeichen … im Bereich der B17/B2 zwischen der Unterführung … und der Brücke … G. mit einer Eigengeschwindigkeit von etwa 80 km/h, als er einen Stein in Richtung des ihm mit mindestens 70 km/h Geschwindigkeit entgegenkommenden Fahrzeugs warf.
14
Der Angeklagte nahm billigend in Kauf, dass die ihm entgegenkommende Fahrzeugführerin infolge des Einschlags des Steines verletzt werden könnte. Der Angeklagte verursachte zudem einen Schaden an dem Fahrzeug in Höhe von mindestens 1.200,- EUR, was er ebenfalls zumindest billigend in Kauf nahm.
Anlage II (Tat innerhalb der 80-er-Zone)

TEA

Geschädigte Fahrzeug amtl. Kennzeichen

Datum Uhrzeit

Tatort Fahrtrichtung (Geschädigte)

Beschädigung/Schadenshöhe

3

KIA – Sportage

20.07.2022

ca. 11.45 Uhr

B2, Bereich Autobahnauffahrt A8

Süden

Windschutzscheibe Glassplitter Fahrzeug

1.200,- EUR

III. Taten innerhalb der „120-er-Zone“
15
Im Zeitraum zwischen dem 27.10.2022 und dem 07.02.2023 fuhr der Angeklagte in den sich aus Anlage III ergebenden 10 Fällen jeweils mit dem ihm zugewiesenen Lkw, amtl. Kennzeichen … im Bereich der B 2 zwischen der Brücke …, G. und der Anschlussstelle M. mit einer Eigengeschwindigkeit von etwa 80 km/h, als er jeweils einen Stein in Richtung der ihm mit einer Geschwindigkeit zwischen 80 km/h und 122 km/h entgegenkommenden Fahrzeuge warf.
16
Der Angeklagte nahm billigend in Kauf, dass die ihm entgegenkommenden Fahrzeugführer infolge des Einschlags und ggf. auch infolge eines Durchschlags des Steines verletzt werden könnten. Der Angeklagte verursachte zudem die in der Anlage III aufgeführten Verletzungen der Fahrzeugführer und Schäden an den Fahrzeugen, die er ebenfalls jeweils zumindest billigend in Kauf nahm.
Anlage III (Taten innerhalb der 120-er-Zone)

TEA

Geschädigte Fahrzeug amtl. Kennzeichen

Datum Uhrzeit

Tatort Fahrtrichtung (Geschädigte)

Beschädigung/Schadenshöhe

26

Dr. …

BMW X 6

27.10.2022

ca. 07.55 Uhr

B2 ca. 1 km nach AS N1.

Süden

Dach/Dachfenster

8.002,51 EUR

27

Hyundai Kona

09.11.2022

ca. 10.20 Uhr

B2, Höhe M1.

Süden

Windschutzscheibe

1.516,32 EUR

28

Opel Astra

09.11.2022

ca. 16.00 Uhr

B2 – Bereich AS M1, 2. Brücke vor AS Norden

Windschutzscheibe, Glassplitter Innenraum Angststörung

1.337,31 EUR

37

Dacia Dokker

17.11.2022

ca. 14.03 Uhr

B2, G., Höhe M2.-Ring

Norden

Windschutzscheibe durchschlagen Druckschmerz an Brust

501,51 EUR

39

Opel GT

17.11.2022

ca. 08.22 Uhr

B2 Höhe AS H1./B1.

Süden

Windschutzscheibe, Glassplitter Innenraum Kratzer Gesicht/Hand

2.887,63 EUR

43

BMW 3-er

21.11.2022,

ca. 09.10 Uhr

B2, Höhe D1.

Norden

Motorhaube, Windschutzscheibe

3.653,45 EUR

44

BMW X2

21.11.2022,

ca. 08.30 Uhr

B2 südl. AS N1.

Süden

Windschutzscheibe Glassplitter Innenraum Schnittwunde Hand

1.400,- EUR

2

Fiat Ducato

07.02.2023

ca. 12.46 Uhr

B2 zwischen AS St. und

Süden

Windschutzscheibe durchschlagen

1.056,30 EUR

1

Audi Q5,

07.02.2023

ca. 12.52 Uhr

B2, Höhe W1.

Süden

Windschutzscheibe Glassplitter Innenraum

1.706,27 EUR

58

…,

Hyundai 120

24.10.2022

ca. 12.32 Uhr

B2 Höhe A1.

Süden

2.666,56 EUR

D. Beweiswürdigung
I. Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen
17
Die Feststellungen zur Person beruhen auf den glaubhaften Angaben des Angeklagten und dem verlesenen Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 30.11.2023, den der Angeklagte als richtig anerkannt hat.
II. Feststellungen zum Sachverhalt
18
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und aufgrund aller sonstiger aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung stammender Umstände steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Angeklagte die Taten so begangen hat, wie es in den unter lit. C. getroffenen Feststellungen im Einzelnen dargelegt ist. Die getroffenen Sachverhaltsfeststellungen beruhen maßgeblich auf der geständigen Einlassung des Angeklagten, die durch die Beweisaufnahme bestätigt und ergänzt werden konnte.
1. Einlassung des Angeklagten
19
Der Angeklagte legte zu Beginn der Hauptverhandlung ein Geständnis ab, indem er die nach Einstellung verbliebenen 12 Fälle in tatsächlicher Hinsicht vollumfänglich einräumte.
20
Zum Hintergrund der Taten erklärte der Angeklagte, dass er als gelernter Mechaniker seit Jahren als Kraftfahrer tätig sei, allein seit 5 Jahren für die Firma A… in G.. Gegenstand der bisherigen Fahrten sei der Transport von Schüttgütern gewesen, sämtliche Fahrten seien von ihm allein bewältigt worden, Tagesleistungen von über 500 Kilometern und Tagesschichten von 9 bis 10 Stunden seien die Regel gewesen, teilweise sei er sogar bis zu 12 Stunden unterwegs gewesen. Über die Jahre hinweg habe sich die Einsamkeit des Fernfahrers eingestellt, mit der er als sonst geselliger Mensch nicht zurechtgekommen sei. Mehr oder weniger aus Langeweile heraus habe er vor der hier verfahrensgegenständlichen Serie an Taten bereits begonnen, Gegenstände aus dem Fahrzeug zu werfen. Zu Beginn seien es die Reste von Äpfeln, teilweise auch Bananenschalen gewesen, die er aus dem Fenster geworfen habe, alsbald habe er auch damit begonnen, im Fußraum befindliche Kieselsteine aus dem Fenster zu werfen, auch auf die Gegenfahrbahn. Letztendlich habe er sich auch dazu verstiegen, faustgroße Steine gezielt auf andere Fahrzeuge zu werfen. Bei den jeweiligen Fahrten habe er höchstens drei Steine im Führerhaus deponiert gehabt, die sodann als Wurfobjekte zum Einsatz gekommen seien.
21
Er habe kleinere Steine ausgewählt, die gut in der Hand gelegen hätten, um mit diesen zunächst während der Fahrt zu spielen. Irgendwann habe er die Steine einfach aus dem Fenster geworfen. Ausgeholt habe er dabei nicht. Es sei alles sehr zufällig gewesen.
22
Er habe jeweils damit gerechnet, dass es zu einem Unfall kommen könnte. Wenn er aber tatsächlich von einem Unfall Kenntnis erlangt hätte, hätte er sofort aufgehört. Denn das Leben sei wichtiger als alles andere. Allerdings habe er nichts dahingehend erfahren, dass es tatsächlich zu Unfällen gekommen sei, weil er sich über deutschsprachige Medien nicht informiert habe.
23
Motivation und Triebfeder für die Taten sei letztendlich zum einen die Langeweile während des Berufes gewesen, zum anderen aber auch eine gewisse innere Unruhe und Unzufriedenheit, die er in einer Lebensphase verspürt habe, in der er mit sich selbst nicht mehr im Reinen gewesen sei und in der sich auch private Probleme gehäuft hätten. Die Taten hätten zu einer Art Beruhigung geführt. Ein Teil des Ärgers sei dann weggewesen. Es sei irgendwie eine Erleichterung gewesen.
2. Beweisaufnahme
24
Das Geständnis des Beschuldigten wurde durch die in der Hauptverhandlung gewonnenen Beweisergebnisse bestätigt und ergänzt.
25
Die Feststellungen der Kammer beruhen neben den glaubhaften Angaben des Beschuldigten insbesondere auf den glaubhaften Aussagen der Zeugen (Fahrer bzw. Beifahrer) B…, B…, Dr. V… S… M… R…, R…, H…, E…, B…, S… und P… und den glaubhaften Aussagen der Zeugen (aufnehmende Polizeibeamte) PHMin …, POM …, … …, POMin …, POM …, POM … PHM … POKin … PHM …, PM …, POM … und PHMin … die sich jeweils zwanglos in die Einlassung des Beschuldigten einfügen. Die Feststellungen wurden plausibel abgerundet durch die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. E… (Bayerisches Landeskriminalamt), dessen Untersuchungen der beschädigten Fahrzeuge in den abgeurteilten Fällen ergab, dass die Schadensbilder auf einen gezielten Bewurf mit einem Stein schließen lassen.
26
Das Tatgeschehen konnte durch die sachverständigen Ausführungen und Schlussfolgerungen des technischen Oberrats Dr. M… (Bayerisches Landeskriminalamt) zur Frage, welche kinetischen Energien die Steine vor und ggf. nach dem Durchschlagen einer Windschutzscheibe (noch) besitzen, weiter aufgeklärt werden.
27
Bei den Feststellungen, welche Verletzungen und ihre Schwere bei den Insassen der Fahrzeuge hätten eintreten können, hat sich die Kammer nach eigener kritischer Prüfung den sachverständigen Ausführungen und Schlussfolgerungen des Rechtsmediziners Prof. Dr. A… vom Institut für Rechtsmedizin an der ...-Universität M3. angeschlossen und sich diese zu eigen gemacht. Der Sachverständige Prof. Dr. A… hat insbesondere nachvollziehbar dargelegt, dass selbst bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h das Eintreten einer tödlichen Verletzung oder eines tödlichen Unfalls in den konkreten Konstellationen sehr unwahrscheinlich gewesen sei. Hierfür hätte es einer Verkettung ungünstigster Umstände bedurft. Schließlich seien aber Ermittlungen zu über 50 Fällen geführt worden und in keinem einzigen dieser Fälle sei es auch nur ansatzweise zu einer lebensbedrohlichen Situation gekommen.
E. Schuldfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit
28
Die insoweit sachverständig beratene Kammer gelangte nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und Würdigung der vollumfänglich nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. S… zu dem Ergebnis, dass die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht seiner Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln unter Berücksichtigung sämtlicher bei der Erstattung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens differentialdiagnostisch in Erwägung zu ziehenden Störungen zu den Tatzeitpunkten weder aufgehoben noch erheblich vermindert war (§§ 20, 21 StGB).
29
Der der Kammer als forensisch äußerst erfahren, sorgfältig und bewährt bekannte Sachverständige Dr. S…, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Inhaber des Zertifikats „Forensische Psychiatrie“ (DGPPN), stützte sein Gutachten auf den Eindruck und die Befunde aus dem Explorationsgespräch am 03.05.2023, die Gesundheitsakte der Justizvollzugsanstalt ... sowie sämtliche Anknüpfungstatsachen, die sich aus der Hauptverhandlung, seinen Beobachtungen während dieser Hauptverhandlung und der Kenntnis der zur Verfügung gestellten Ermittlungsakten ergaben.
30
Der Sachverständige Dr. S… kam zu dem Ergebnis, dass bei dem Angeklagten eine rechtserhebliche Beeinträchtigung oder gar Aufhebung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB zu den Tatzeitpunkten nicht vorgelegen habe.
31
Der Sachverständige legte zunächst dar, dass fernab jeglicher Überlegungen zu dem Tatmotiv zunächst einmal festzustellen sei, dass sich aus den erhobenen eigenen Angaben, aus der studierten Aktenlage und den eingesehenen Informationen der Justizvollzugsanstalt keine Hinweise auf überdauernde psychiatrische Krankheitsbilder ergeben hätten.
32
Es gäbe insbesondere keinen Hinweis auf eine wie auch immer geartete Suchterkrankung.
33
Dass die Grundpersönlichkeit keine psychiatrische Pathologie aufweise, sei insbesondere durch die im Wesentlichen unauffällige biographische Anamnese untermauert worden – sowohl beruflich wie partnerschaftlich würden sich keine persönlichkeitsbedingten Probleme zeigen. Auch bestünde eine leere strafrechtliche Vorgeschichte. Zur Abrundung dieser Bewertung sei grundsätzlich der Einsatz verschiedener Persönlichkeitsfragebögen von Interesse gewesen, welche allerdings aufgrund der völlig fehlenden Deutschkenntnisse keinen Einsatz hätten finden können. Allerdings sei hier aufzuführen, dass es keine zwingende Indikation für diese Persönlichkeitsfragebögen gegeben hätte, eben da sich im Rahmen der 2½-stündigen Anamneseerhebung keine relevanten Hinweise für eine Persönlichkeitsstörung gefunden hätten. Es sei diesbezüglich abschließend allerdings kritisch anzumerken, dass sich eine nicht unerhebliche Supernormalität gezeigt habe. Diese Supernormalität würde dazu beitragen, dass bestimmte Auffälligkeiten überspielt oder minimiert werden würden. Es sei insoweit denkbar, dass es Persönlichkeitsauffälligkeiten gäbe. Es sei allerdings nicht denkbar, dass eine schwere psychische Störung durch Supernormalität vollkommen „vertuscht“ werde.
34
Es fänden sich keine Hinweise auf eine Intelligenzminderung.
35
Gerade aufgrund der vorgeworfenen Taten sei eine dezidierte Untersuchung auf eine psychotische Störung und eine affektive Störung im Sinne einer manisch-depressiven Erkrankung erfolgt. Auch diese Krankheitsbilder hätten sich nicht feststellen lassen.
36
Es hätten sich auch keinerlei Hinweise auf Reaktionen aufgrund besonderer affektiver Erregung im Sinne einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung gefunden.
37
Diagnostisch zusammenfassend sei insoweit festzustellen, dass bei dem Angeklagten keine psychiatrische Diagnose festgestellt werden könne. Insoweit bleibe auch die Frage nach den Motiven der Taten im Dunklen. Er habe hierbei geltend gemacht, dass private Probleme, gewisse Unstimmigkeiten mit dem Arbeitgeber und der Wechsel von 2-achsigen LKWs auf 4-achsige LKWs ursächlich gewesen seien. Bei der Vielzahl der Taten und der Art und Weise dieser würde man sich natürlicherweise nach dem Sinn dieser fragen und Motive suchen. Denn es handle sich um Tatgeschehen, in deren Rahmen der Proband scheinbar keinerlei ersichtlichen Nutzen erfahre. Das Motiv für diese Tatgeschehen sei aber jedenfalls keine wie auch immer geartete psychiatrische Erkrankung.
38
Insgesamt hätten sich also keine Hinweise dafür ergeben, dass bei dem Angeklagten eine schwere psychische Störung vorliege, die man einem der 4 Eingangsmerkmale im Sinne des §§ 20, 21 StGB zuordnen könnte. Für eine erheblich verminderte oder gar aufgehobene Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB hätten sich keine Hinweise ergeben.
39
Die Kammer folgte nach eigener kritischer Prüfung vollumfänglich den Einschätzungen des Sachverständigen Dr. S…. Die Ausführungen des Sachverständigen konnten aufgrund der Ergebnisse der Beweisaufnahme – sowie auch anhand des Eindrucks des Angeklagten – vollumfänglich nachvollzogen werden. Die Kammer war sich hierbei bewusst, dass sie über die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB aufgrund einer umfassenden Würdigung der Anknüpfungstatsachen eigenständig zu entscheiden hat und der Sachverständige hierbei nur eine beratende Funktion ausübt. Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. S… in der Hauptverhandlung waren jeweils vollständig, sehr gut nachvollziehbar und sorgfältig begründet und wurden vollumfänglich aktuellen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht. Auch deckten sich die Ausführungen des Sachverständigen, soweit sie auf Anknüpfungstatsachen bzw. Zeugenaussagen in der Hauptverhandlung Bezug nahmen, mit den eigenen Feststellungen der Kammer.
40
Auch die Kammer ist zu der Überzeugung gelangt, dass keine Anhaltspunkte für eine Aufhebung oder Einschränkung der Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten vorliegen.
F. Rechtliche Würdigung
41
Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hat sich der Angeklagte wie tenoriert des vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr, jeweils in der Absicht handelnd, einen Unglücksfall herbeizuführen, in Tateinheit mit Sachbeschädigung in 12 tatmehrheitlichen Fällen, davon in einem Fall darüber hinaus in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, in einem weiteren Fall darüber hinaus in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, in einem weiteren Fall darüber hinaus in Tateinheit mit versuchter Körperverletzung und in 9 weiteren Fällen jeweils darüber hinaus in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung, davon in 3 Fällen jeweils darüber hinaus in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1 und Abs. 2, 224 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2, 230 Abs. 1, 303 Abs. 1, 303c, 315b Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1a, 22, 23 Abs. 1, 52, 53 StGB schuldig gemacht.
G. Strafzumessung
I. Strafrahmen
42
Die Strafen entnahm die Kammer jeweils unter Anwendung des § 52 Abs. 2 StGB in allen 12 Fällen dem Strafrahmen des § 315 Abs. 3 Nr. 1a) StGB. In keinem der Fälle war bei Gesamtwürdigung aller tat- und täterbezogenen Umstände die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens für einen minder schweren Fall nach § 315b Abs. 3 Hs. 2 StGB geboten. Auch das Vorliegen vertypter Strafmilderungsgründe war in keinem der Fälle ersichtlich.
II. Strafzumessung im engeren Sinne
43
Die Kammer hat bei der konkreten Strafzumessung in allen 12 Fällen jeweils eine umfassende Gesamtabwägung aller tat- und täterbezogenen Umstände, sowohl der strafmildernden als auch der strafschärfenden, vorgenommen.
44
Zu Gunsten des Angeklagten war in allen Fällen insbesondere zu berücksichtigen, dass er im Hauptverfahren ein von Reue und Einsicht getragenes Geständnis ablegte.
45
Strafmildernd berücksichtigte die Kammer ferner in allen Fällen insbesondere, dass der Angeklagte keine Einträge im Bundezentralregister hat.
46
Schließlich wertete die Kammer zu Gunsten des zuvor haftunerfahrenen Angeklagten in allen Fällen insbesondere auch die Dauer der erlittenen Untersuchungshaft unter Berücksichtigung seiner Haftempfindlichkeit.
47
Strafschärfend wertete die Kammer in allen Fällen dagegen, dass der Angeklagte mehrere Straftatbestände tateinheitlich verwirklicht hat.
48
Zu Lasten des Angeklagten waren in allen Fällen ferner die Höhe der Sachschäden an den jeweiligen Fahrzeugen zu berücksichtigen.
49
In den Fällen der Geschädigten … (TEA 4), … (TEA 28), … (TEA 37), … (TEA 39) und … (TEA 44) wurden darüber hinaus strafschärfend die Verletzungen der Geschädigten und ihr konkretes Ausmaß berücksichtigt.
50
Unter Berücksichtigung all dieser Umstände hielt die Kammer für die unter lit. C festgestellten Taten folgende Einzelfreiheitsstrafen für tat- und schuldangemessen, wobei die Tat gegenüber der Geschädigten … (TEA 37) aufgrund der vollendeten gefährlichen Körperverletzung am schwersten wiegt:

B… (TEA 4)

1 Jahr 6 Monate

B… (TEA 3)

1 Jahr 2 Monate

Dr. V… (TEA 26)

1 Jahr 6 Monate

S… (TEA 27)

1 Jahr 6 Monate

M… (TEA 28)

1 Jahr 9 Monate

R… (TEA 37)

2 Jahre

R… (TEA 39)

1 Jahr 9 Monate

E… (TEA 43)

1 Jahr 6 Monate

H… (TEA 44)

1 Jahr 9 Monate

B… (TEA 2)

1 Jahr 6 Monate

S… (TEA 1)

1 Jahr 6 Monate

P… (TEA 58)

1 Jahr 6 Monate

III. Gesamtstrafenbildung
51
Unter nochmaliger umfassender Abwägung sämtlicher für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte hat die Kammer die oben genannten Einzelstrafen unter Berücksichtigung des sachlichen und zeitlichen Zusammenhangs und unter Erhöhung der Einsatzstrafe von 2 Jahren zu einer tat- und schuldangemessenen Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten zusammengeführt.
H. Entziehung der Fahrerlaubnis und Anordnung einer Sperrfrist zur Wiedererteilung
52
Dem Angeklagten war gemäß § 69 StGB seine deutsche Fahrerlaubnis zu entziehen.
53
Aus den von ihm begangenen Taten ergibt sich, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, § 69 Abs. 1 StGB. Dass der Angeklagte bereit war, zur Erreichung seiner kriminellen Ziele die Sicherheit des Straßenverkehrs zu beeinträchtigen und er deshalb ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, ergibt sich aus den Taten (Symptomcharakter der Anlasstaten). Der Angeklagte hat das von ihm geführte Kraftfahrzeug jeweils bewusst zur Tatbegehung im fließenden Verkehr eingesetzt. Dabei hat er sich absichtlich und in besonders grober und verkehrsgefährdender Weise über die Regeln zur Straßenbenutzung hinweggesetzt und auch mehrere Verkehrsstraftaten nach §§ 315 b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3, 315 Abs. 3 Nr. 1a StGB begangen.
54
Diese Ungeeignetheit des Angeklagten zum Führen von Kraftfahrzeugen ist zwischenzeitlich auch nicht weggefallen, sondern besteht heute noch fort.
55
Eine Sperre zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis von weiteren drei Jahren nach § 69 a StGB erachtet die Kammer, insbesondere unter Berücksichtigung der gesamten Persönlichkeit des Angeklagten, seiner Zuverlässigkeit, seines Vorlebens, seines Verhaltens bei und nach der Tat sowie der gesamten Tatumstände und der oben im Einzelnen geschilderten Erwägungen unter lit. G., auf die Bezug genommen wird, als angemessen, ausreichend, aber auch erforderlich, um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, sein Verhalten im Zusammenhang mit der Teilnahme am Straßenverkehr zu überdenken und zu einem verantwortungsbewussten Kraftfahrer heranzureifen. Bedacht worden ist dabei insbesondere der erhebliche charakterliche Mangel, der sich in den Taten gezeigt hat. Der Angeklagte hat durch seine Verhaltensweise eine weit überdurchschnittliche Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs verursacht. Es wurden die Vielzahl und die Schwere der Verstöße berücksichtigt. Dabei hat die Kammer aber insbesondere auch berücksichtigt, dass dem Angeklagten mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 09.02.2023 die Fahrerlaubnis bereits vorläufig entzogen ist.
56
Angesichts des Umstands, dass eine Einwirkung auf die Persönlichkeit des Angeklagten durch den Strafvollzug möglich erscheint, erachtet die Kammer diese befristete Sperre aber zur Abwendung der Gefahr auch als ausreichend.
I. Kosten
57
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 464, 465, 472 StPO.