Titel:
Wohngeld, Aufhebung von Bewilligungsbescheiden, Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen, Überprüfung bestandskräftiger Verwaltungsakte, Rücknahme der Rücknahme, falsche Angaben bei Antragstellung, Änderung der Einkommensverhältnisse, Zusammentreffen von Erstattungsforderungen mehrerer Leistungsträger
Normenketten:
SGB X § 44 Abs. 2
SGB X § 45
SGB X § 50
Leitsatz:
Die Rücknahme von unanfechtbaren rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakten, die einen (Wohngeld-) Bewilligungsbescheid aufheben und infolge dieser Aufhebung zu erstattende Leistungen festsetzen, richtet sich unmittelbar nach § 44 Abs. 2 SGB X und nicht nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X in analoger Anwendung.
Schlagworte:
Wohngeld, Aufhebung von Bewilligungsbescheiden, Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen, Überprüfung bestandskräftiger Verwaltungsakte, Rücknahme der Rücknahme, falsche Angaben bei Antragstellung, Änderung der Einkommensverhältnisse, Zusammentreffen von Erstattungsforderungen mehrerer Leistungsträger
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28889
Tenor
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 18. Dezember 2019 in der Gestalt des Widerspruchbescheids der Regierung von U. vom 5. November 2020 verpflichtet, ihre Bescheide vom 15. April 2014 – Wohngeldnummern … zurückzunehmen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Aufhebung von bestandskräftigen Bescheiden, mit denen die Beklagte der Klägerin zuvor bewilligtes Wohngeld herabgesetzt und überzahlte Wohngeldleistungen zurückgefordert hat.
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Die Klägerin bezog ab September 2004 bis einschließlich September 2012 mit kurzen zeitlichen Unterbrechungen Wohngeld. Bei Beantragung der Wohngeldleistungen gab die Klägerin als einziges Einkommen eine durch die Deutsche Rentenversicherung (DRV) geleistete Altersrente an.
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Im Rahmen eines auf klägerischen Antrag vom 15. April 2013 durchgeführten Weiterbewilligungsverfahrens erfuhr die Beklagte, dass die Klägerin in den vorgenannten Bewilligungszeiträumen russische Rentenleistungen bezog, die sie bei früheren Antragstellungen nicht angegeben hatte. Daraufhin berechnete die Beklagte zuvor bewilligtes Wohngeld für den Gesamtzeitraum vom 1. September 2004 bis 30. September 2012 neu, änderte mit insgesamt acht Bescheiden vom 15. April 2014 frühere Bewilligungsbescheide der Neuberechnung entsprechend ab und forderte von der Klägerin einen Betrag von insgesamt 3.920,00 EUR zurück.
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Mit Bescheid vom 17. Oktober 2018 setzte die DRV unter Anrechnung der russischen Rentenleistungen die Rente der Klägerin rückwirkend ab dem 1. Januar 2004 neu fest und forderte von der Klägerin einen Betrag von 27.591,80 EUR für im Zeitraum 1. Januar 2004 bis 30. November 2018 erbrachte Leistungen zurück.
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Mit Schreiben vom 20. November 2019, bei der Beklagten eingegangen am 25. November 2019, beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Überprüfung der Bescheide vom 15. April 2014, die erneute Festsetzung des Wohngelds für die entsprechenden Zeiträume und ggf. die Neuberechnung des überzahlten Betrags.
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Mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 20. November 2019 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Fristen für eine nachträgliche Leistung gem. § 31 WoGG bzw. § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X bereits abgelaufen seien, so dass eine nachträgliche Wohngeldleistung nicht mehr möglich sei.
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Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch mit der Begründung, dass sie keine nachträgliche Wohngeldleistung fordere, sondern die Aufhebung der Rückforderung bereits geleisteten Wohngelds. Denn der den Bescheiden vom 15. April 2014 zugrundegelegte Sachverhalt habe sich durch den Erlass des Bescheids der DRV im Jahr 2018 nachträglich geändert.
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Den Widerspruch der Klägerin wies die Regierung von U. mit Widerspruchsbescheid vom 5. November 2020 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Bescheide vom 15. April 2014 jedenfalls nicht anfänglich rechtswidrig gewesen seien, sodass § 44 SGB X keine Anwendung finde. § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X, welche an sich die Aufhebung nachträglich rechtswidriger Verwaltungsakte regele, sei im Wohngeldrecht nicht anwendbar. Schließlich habe die Klägerin neben der Aufhebung der Bescheide vom 15. April 2014 auch die Neufestsetzung des Wohngelds beantragt. Daher seien die Ausschlussfristen nach § 31 WoGG, § 44 Abs. 4 Satz 3 SGB X anwendbar.
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Am 27. November 2020 hat die Klägerin Klage erhoben.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 18. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von U. vom 5. November 2020 verpflichtet, die Bescheide der Beklagten vom 15. April 2014 aufzuheben, hilfsweise über den Antrag vom 20. November 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Die Klägerin meint, es liege eine unzulässige doppelte Anrechnung der russischen Altersrente vor, weil diese Rente sowohl von der Beklagten als auch von der DRV bei ihrer jeweiligen Leistungsneuberechnung in den streitgegenständlichen Zeiträumen berücksichtigt worden sei. Die deutsche Rente sei aber gegenüber dem Wohngeld vorrangig. Daher sei die russische Altersrente allein bei der Rentenberechnung der DRV zu berücksichtigen. Somit seien die ursprünglichen Wohngeldbescheide aus den Jahren 2004 bis 2012, welche die russische Rente nicht berücksichtigten, rechtmäßig gewesen. Ferner beanstandet die Klägerin, dass die Beklagte vor Erlass der Bescheide vom 15. April 2014 keinen Datenabgleich mit der DRV durchgeführt habe. Sie ist der Auffassung, hierdurch hätte die Zugrundelegung eines unzutreffenden Sachverhalts bei Erlass der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide vermieden werden können.
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Die Beklagte beantragt,
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Sie meint, es existiere keine Rechtsgrundlage für die begehrte Rücknahme der Bescheide vom 15. April 2014. Ein automatisierter Datenabgleich finde seit dem Jahr 2013 vierteljährlich statt, ohne dass die Beklagte hierzu rechtlich verpflichtet sei. Aus dem Datenabgleich hätten sich keine Hinweise ergeben, die zu einer genaueren Überprüfung der Einkommensverhältnisse der Klägerin Anlass gegeben hätten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 1. Februar 2024 und auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Mit ihrem Hauptantrag begehrt die Klägerin im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X die Aufhebung von insgesamt acht bestandskräftigen Bescheiden der Beklagten vom 15. April 2014, mit denen in den Jahren 2004 bis 2011 ergangene Wohngeldbewilligungsbescheide ganz oder teilweise zurückgenommen und infolgedessen zu erstattende Wohngeldleistungen festgesetzt wurden.
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Diese Klage hat in vollem Umfang Erfolg. Über den klägerischen Hilfsantrag, die Beklagte zur erneuten Entscheidung über den Antrag der Klägerin vom 20. November 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verpflichten, war daher nicht zu entscheiden.
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Die Klage ist zulässig. Statthafte Klageart ist die Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO). Mit der Verpflichtungsklage kann die Verpflichtung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Eben dies ist Ziel der Klägerin: Sie begehrt die Verpflichtung der Beklagten zum Erlass von Verwaltungsakten, mit denen die Aufhebungs- und Erstattungsbescheide der Beklagten vom 15. April 2014 aufgehoben werden, dies unter gleichzeitiger Aufhebung des – diesem Begehren entgegenstehenden – Bescheids der Beklagten vom 18. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von U. vom 5. November 2020, mit dem der Antrag der Klägerin auf Überprüfung der Bescheide vom 15. April 2014 nach § 44 SGB X abgelehnt worden ist.
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Die Klage ist zudem begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 15. April 2014. Der eine Überprüfung und Aufhebung ablehnende Bescheid vom 18. Dezember 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Regierung von U. vom 5. November 2020 ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren ist § 44 Abs. 2 SGB X. Diese Vorschrift erlaubt es der zuständigen Behörde, auch bestandskräftige rechtswidrige Aufhebungs- und Erstattungsbescheide nachträglich noch zu korrigieren. Dabei steht eine Korrektur für die Vergangenheit im Ermessen der Behörde (§ 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X), während eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft verpflichtend ist (§ 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X).
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Hingegen finden andere Vorschriften des Wohngeldrechts und des Sozialverwaltungsverfahrensrechts über die Aufhebung von Verwaltungsakten im streitgegenständlichen Fall keine Anwendung.
21
Das Wohngeldgesetz und das Zehnte Buch Sozialgesetzbuch, welches das Sozialverwaltungsverfahren regelt, enthalten verschiedene Regelungen über die Aufhebung von Verwaltungsakten, namentlich §§ 27 f. WoGG und §§ 44 ff. SGB X.
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Eine Anwendung von §§ 27 f. WoGG scheidet indes im streitgegenständlichen Fall von vornherein aus, da sich ihr Anwendungsbereich auf die Aufhebung und das Unwirksamwerden von Wohngeldbewilligungen sowie den Wegfall des Wohngeldanspruchs beschränkt und nicht die hier streitgegenständliche Aufhebung von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden umfasst.
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§§ 27 f. WoGG regeln ihrem Wortlaut nach den Wegfall des Wohngeldanspruchs bei zweckwidriger Verwendung, die Anpassung des Wohngelds sowie die Unwirksamkeit eines Wohngeldbescheids bei nachträglichen Änderungen der bei Bewilligung zugrunde gelegten Verhältnisse in einem laufenden oder einem abgelaufenen Bewilligungszeitraum. Damit setzen sie voraus, dass eine rechtmäßige Wohngeldbewilligung vorliegt. In einem solchen Fall richtet sich die Änderung des Wohngeldanspruchs allein nach den Vorschriften des Wohngeldgesetzes (§ 28 Abs. 6 WoGG, § 37 Satz 1 SGB I). Einer rückwirkenden Aufhebung einer Wohngeldbewilligung auf der Grundlage von § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, Satz 3 SGB X steht deshalb der abschließende Charakter der §§ 27, 28 WoGG entgegen (BVerwG, U.v. 21.3.2002 – 5 C 4/01 – NVwZ-RR 2003, 38).
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Bei den Bescheiden vom 15. April 2014 handelt es sich allerdings nicht um Bewilligungsbescheide, sondern um Aufhebungs- bzw. Teilaufhebungs- und Erstattungsbescheide, die ihre Grundlage in den §§ 45, 50 SGB X finden. Der Argumentation im Widerspruchsbescheid vom 5. November 2020, wonach in den Bescheiden vom 15. April 2014 eine vollständige Aufhebung der früheren Bewilligungsbescheide verbunden mit einer Neubewilligung geringeren Wohngelds zu sehen sein soll (S. 6 des Widerspruchsbescheids), vermag das Gericht nicht zu folgen. Das erkennende Gericht legt die Bescheide vom 15. April 2014 unter entsprechender Heranziehung der für die Auslegung von empfangsbedürftigen Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Rechtsgrundsätze (§§ 133, 157 BGB) vielmehr so aus, dass sie die früheren Bewilligungsbescheide nur insoweit aufheben, als darin zu hohes oder vermeintlich zu hohes Wohngeld bewilligt wurde.
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Welchen Regelungsgehalt ein Verwaltungsakt hat, ist entsprechend §§ 133, 157 BGB durch Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt es nicht auf den wirklichen Willen des Erklärenden, sondern darauf an, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der für ihn erkennbaren Umstände verstehen musste (st. Rspr., z.B. BVerwG, B.v. 23.1.2018 – 8 B 30.17 – BeckRS 2018, 1933 Rn. 7). Bei der Ermittlung dieses objektiven Erklärungswertes sind alle dem Empfänger bekannten oder erkennbaren Umstände heranzuziehen, insbesondere auch die Begründung des Verwaltungsakts. Die Begründung hat einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem Regelungsgehalt. Sie ist die Erläuterung der Behörde, warum sie den verfügenden Teil ihres Verwaltungsakts so und nicht anders erlassen hat. Die Begründung bestimmt damit den Inhalt der getroffenen Regelung mit, sodass sie in aller Regel unverzichtbares Auslegungskriterium ist (st. Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 16.10.2013 – 8 C 21/12 – juris Rn. 14). Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (st. Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 17.08.1995 – 1 C 15/94 – juris Rn. 17; U.v. 20.6. 2013 – 8 C 46/12 – NVwZ 2014, 151 Rn. 37).
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Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs sind die Bescheide vom 15. April 2014 so auszulegen, dass sie allein die Aufhebung bzw. Teilaufhebung der früheren Bewilligungsbescheide regeln und zu erstattende Leistungen festsetzen, nicht aber Wohngeld für die Vergangenheit neu bewilligen. Besonders deutlich ist dies hinsichtlich der Bescheide vom 15. April 2014, die die folgenden Bewilligungsbescheide und -zeiträume betreffen: zum einen den Bewilligungsbescheid vom 2. November 2010, mit dem Wohngeld für den Zeitraum 1. Oktober 2010 bis 30. September 2011 bewilligt worden war, und zum anderen den Bewilligungsbescheid vom 31. Oktober 2011, mit dem Wohngeld für den Zeitraum 1. Oktober 2011 bis 30. September 2012 bewilligt worden war. In den Bescheiden vom 15. April 2014, die den Bescheid vom 2. November 2010 und den Bescheid vom 31. Oktober 2011 betreffen, wird ausgeführt, dass sich unter Zugrundelegung der geänderten Verhältnisse kein Wohngeld mehr errechne und daher für diese Zeiträume der Wohngeldanspruch entfalle. Werden aber frühere Bewilligungsbescheide vollständig aufgehoben mit der Begründung, es bestehe überhaupt kein Wohngeldanspruch mehr, fehlt es von vornherein an einem Anknüpfungspunkt dafür, diese Bescheide als Neubewilligungen betrachten zu können.
27
Die übrigen Bescheide vom 15. April 2014 stellen sich ebenfalls nicht als Bescheide dar, mit denen eine Leistung (Wohngeld) bewilligt wird. Ihr Regelungsgehalt beschränkt sich darauf, die früheren Bewilligungsbescheide jeweils nur insoweit aufzuheben, als darin zu hohes oder vermeintlich zu hohes Wohngeld bewilligt wurde. Zwar heißt es in den Bescheiden jeweils, dass der frühere Bewilligungsbescheid zurückgenommen und das Wohngeld neu festgesetzt werde. Im Lichte der Begründungen der Bescheide, welche sämtlich auf §§ 45, 50 SGB X als maßgebliche Rechtsgrundlage für diese Regelungen abstellen, ist dies indes so zu verstehen, dass in der „Neufestsetzung“ keine neue eigenständige Bewilligungsentscheidung zu sehen ist, sondern eine veränderte Festsetzung des bereits bewilligten Wohngelds bloß der Höhe nach in Form einer Herabsetzung, die die Wirksamkeit des jeweiligen früheren Bewilligungsbescheids im Übrigen unberührt lässt (§ 39 Abs. 2 SGB X). Dies stellt eine Teilrücknahme dar, welche sich betragsmäßig beschränkt auf den über den veränderten Wohngeldbetrag hinausgehenden Teil der früheren Wohngeldbewilligung. Hierfür spricht auch, dass die früheren Bewilligungsbescheide der Beklagten ihrem Wortlaut nach neben einer Festsetzung der monatlichen Wohngeldhöhe zusätzlich auch ausdrücklich die Bewilligung des jeweiligen Wohngeldantrags aussprachen, während die Bescheide vom 15. April 2014 nur den Begriff der „Festsetzung“ verwenden, ohne zugleich den Begriff der Bewilligung (erneut) aufzunehmen.
28
Mit der von der Klägerin begehrten Aufhebung der Bescheide vom 15. April 2014 wird daher nicht unmittelbar in einen Bewilligungsbescheid für laufende oder abgelaufene Bewilligungszeiträume eingegriffen. Stattdessen geht es ihr um die Aufhebung von Rücknahmen oder Teilrücknahmen von Bewilligungsbescheiden, die letztere wieder aufleben lassen würde. In einem solchen Fall sind die §§ 27, 28 WoGG nicht einschlägig, die – wie bereits ausgeführt – eine rechtmäßige Wohngeldbewilligung voraussetzen.
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Nachdem der Anwendungsbereich der speziellen Aufhebungs- und Unwirksamkeitsvorschriften des Wohngeldgesetzes nicht eröffnet ist, steht der abschließende Charakter der §§ 27, 28 WoGG einer Anwendung der Aufhebungsvorschriften des Zehnten Buch Sozialgesetzbuches nicht entgegen. Das Zehnte Buch gilt vielmehr gemäß § 37 Satz 1, § 68 Nr. 10 SGB I auch für den Bereich des Wohngeldrechts, soweit sich – wie hier – aus den übrigen Büchern nichts Abweichendes ergibt.
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Das Zehnte Buch Sozialgesetzbuch enthält in seinen §§ 44 bis 48 verschiedene Regelungen über die Aufhebung von Verwaltungsakten, deren Anwendung für den – nicht streitgegenständlichen – Fall der Aufhebung eines Verwaltungsakts im Rechtsbehelfsverfahren nach Maßgabe des § 49 SGB X eingeschränkt wird. Diese Vorschriften differenzieren – mit Ausnahme von § 48 SGB X – ihrem Wortlaut nach einerseits danach, ob es sich bei dem aufzuhebenden Verwaltungsakt um einen begünstigenden oder einen nicht begünstigenden Verwaltungsakt handelt, sowie andererseits danach, ob dieser Verwaltungsakt rechtswidrig oder rechtmäßig ist. Eine Sonderstellung nimmt insoweit § 48 SGB X ein, der allein darauf abstellt, ob ein Verwaltungsakt Dauerwirkung hat oder nicht.
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Die Regelungen in §§ 44 ff. SGB X sehen für im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßige bestandskräftige Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide, bei denen es sich nicht ausnahmsweise um Dauerverwaltungsakte handelt, keine Durchbrechung der Bindungswirkung mit ex tunc-Wirkung vor. Hierin liegt keine planwidrige Regelungslücke, sondern der Gesetzgeber hat insoweit der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit den Vorzug vor der materiellen Gerechtigkeit gegeben, welche erst nachträglich infrage gestellt worden ist. Dies ergibt sich aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 8/2034, S. 33 ff.). Aus dieser geht hervor, dass der Gesetzgeber bei der Regelung von Aufhebungs- und Änderungsmöglichkeiten bewusst wie ausgeführt zwischen begünstigenden und belastenden Verwaltungsakten und zwischen rechtswidrigen und rechtmäßigen Verwaltungsakten differenziert hat. Zudem unterscheidet der Gesetzgeber zwischen rückwirkenden und lediglich für die Zukunft wirkenden Änderungen. Dabei wird aus der Gesetzesbegründung deutlich, dass der Gesetzgeber im Falle rechtswidriger Verwaltungsakte der nachträglichen und rückwirkenden Herstellung materieller Gerechtigkeit zugunsten des Betroffenen höheres Gewicht einräumt als bei rechtmäßigen Verwaltungsakten. Mit den Regelungen der §§ 46, 48 SGB X hat sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden, eine Korrektur rechtmäßiger nicht begünstigender Verwaltungsakte für die Vergangenheit nur bei Dauerverwaltungsakten vorzusehen. Es fehlt insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke. Rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte können demgegenüber nach Maßgabe von § 44 SGB X und im Falle von Dauerverwaltungsakten nach § 48 SGB X mit Wirkung für die Zukunft wie auch die Vergangenheit aufgehoben werden.
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Auf das Begehren der Klägerin finden die Regelungen über die Aufhebung rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakte ohne Dauerwirkung Anwendung, da es sich bei den Bescheiden vom 15. April 2014 um eben solche Verwaltungsakte handelt.
33
Der Begriff des nicht begünstigenden Verwaltungsakts ist nicht legaldefiniert. Unter einem begünstigenden Verwaltungsakt ist nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 1 SGB X ein Verwaltungsakt zu verstehen, der ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil begründet oder bestätigt hat. Im Umkehrschluss ist jedenfalls ein Bescheid, der – wie hier die Bescheide vom 15. April 2014 – eine bereits gewährte Sozialleistung wieder entzieht und damit belastend in die Rechtsstellung des Leistungsempfängers eingreift, für diesen nicht begünstigend.
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Ist der aufzuhebende nicht begünstigende Verwaltungsakt rechtmäßig, ist § 46 SGB X anzuwenden, der allerdings nur eine Aufhebung des Verwaltungsakts für die Zukunft ermöglicht. Ist der Verwaltungsakt rechtswidrig, gilt § 44 SGB X. Hat er Dauerwirkung, findet § 48 SGB X Anwendung, unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig ist.
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Im streitgegenständlichen Fall scheidet eine unmittelbare Anwendung von § 48 SGB X, der die Aufhebung von Verwaltungsakten mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse regelt, von vornherein aus, da es sich bei den Bescheiden vom 15. April 2014 nicht um Dauerverwaltungsakte im Sinne von § 48 Abs. 1 SGB X handelt. Dauerverwaltungsakte zeichnen sich dadurch aus, dass ihnen ein Element der Zukunftsgerichtetheit innewohnt; sie erzielen zukunftsorientiert über den Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe hinaus rechtliche Wirkung (Heße in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching (Hrsg.), BeckOK SozR, 71. Ed. Stand 1.12.2023, SGB X § 48 Rn. 8; Schütze in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 76). Dies trifft auf die Bescheide vom 15. April 2014 nicht zu. Sie erschöpfen sich in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage, indem sie der Klägerin Wohngeldleistungen wieder entziehen (anders für einen Rückzahlungsbescheid, der dem Adressaten aufgibt, von einem bestimmten Zeitpunkt an ein Ausbildungsförderungsdarlehen in vierteljährlichen Raten bestimmter Höhe zurückzuzahlen, BVerwG, B.v. 27.10.1992 – 11 B 52.92 – NZS 1993, 183).
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Rechtsgrundlage für das klägerische Begehren, die Bescheide vom 15. April 2014 aufzuheben, ist vielmehr § 44 SGB X, da die nicht begünstigenden Bescheide vom 15. April 2014 nicht nur ohne Dauerwirkung, sondern zudem rechtswidrig sind. Die Rechtswidrigkeit dieser Bescheide folgt allerdings weder daraus, dass die Anwendung der §§ 45, 50 SGB X, auf welche die Beklagte die Bescheide stützte, ausgeschlossen wäre, noch daraus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 45, 50 SGB X nicht vorgelegen hätte. Vielmehr hat die Beklagte bei Erlass der Bescheide vom 15. April 2014 auf der Rechtsfolgenseite ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt.
37
Die Beklagte hat die Aufhebung der Wohngeldbewilligungen zu Recht auf § 45 SGB X gestützt. Diese Vorschrift regelt die Rücknahme eines (anfänglich) rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts, wozu auch Wohngeldbewilligungen zählen. Keine Anwendung findet demgegenüber § 48 SGB X, der die Aufhebung von Verwaltungsakten bei nachträglichen Änderungen in den Verhältnissen regelt. Denn Gegenstand der Bescheide vom 15. April 2014 ist keine Aufhebung von Wohngeldbewilligungen wegen Änderungen in den Verhältnissen der Klägerin, die erst nach Erlass des jeweiligen Bewilligungsbescheids eintraten. Vielmehr erfolgte die Aufhebung wegen eines Umstands – dem Bezug einer ausländischen Rente –, der bereits im Zeitpunkt des Erlasses des jeweiligen Bewilligungsbescheids vorlag und lediglich deshalb anfänglich nicht berücksichtigt wurde, weil er der Beklagten nicht bekannt war.
38
Der somit eröffnete Anwendungsbereich des § 45 SGB X ist auch nicht durch die Erstattungsvorschriften in den §§ 102 ff., 107 SGB X ausgeschlossen.
39
Klägerseits ist insoweit ausgeführt worden, dass die deutsche Altersrente eine gegenüber dem Wohngeld vorrangige Leistung sei, weshalb das Wohngeld nicht hätte zurückgefordert werden dürfen bzw. zuvor die DRV hätte einbezogen werden müssen. Diese Ausführungen zielen sinngemäß darauf, dass die Erstattungsvorschriften in den §§ 102 ff., 107 SGB X einer Aufhebung und Rückforderung der Wohngeldbewilligungsbescheide aus den Jahren 2004 bis 2011 durch die Beklagte entgegengestanden hätten (vgl. zur Frage, ob die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X einer Rückforderung wegen des Bezugs von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WoGG a.F.) zu Unrecht gezahlten Wohngelds entgegensteht, OVG Berlin-Bbg., B.v. 16.1.2014 – OVG 6 M 128.12 – juris Rn. 4; OVG NRW, B.v. 15.11.2018 – 12 E 726/17 – juris Rn. 7; SächsOVG, B.v. 8.1.2015 – 4 D 92/14 – juris Rn. 3; B.v. 20.7.2021 – 3 D 73/20 – juris Rn. 17). Nur wenn ein Erstattungsanspruch zwischen den Leistungsträgern bestünde, wäre nämlich eine Rücknahme durch den nachrangig verpflichteten Leistungsträger gegenüber dem Leistungsempfänger ausgeschlossen. Denn die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs. 1 SGB X schließt eine Rücknahme gegenüber dem Leistungsempfänger aus, wenn ein Erstattungsanspruch zwischen den Leistungsträgern besteht. Nach dieser Vorschrift gilt nämlich der Anspruch des Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht.
40
Erstattungsansprüche scheiden allerdings im streitgegenständlichen Fall von vornherein aus, weil sie voraussetzen, dass eine Sozialleistung materiell rechtmäßig erbracht wird. Lediglich eine Rechtswidrigkeit wegen fehlender örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit eines Leistungsträgers bleibt nach Maßgabe von § 105 SGB X unberücksichtigt (vgl. Roos in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 105 Rn. 8; Weber in Rolfs/Giesen/Meßling/Udsching (Hrsg.), BeckOK SozR, 71. Ed. Stand 1.12.2023, § 102 SGB X Rn. 6, § 105 SGB X Rn. 3, 3.1). Im Fall der Klägerin regeln die Bescheide vom 15. April 2014 indes gerade die Rückabwicklung von Leistungen, die zu Unrecht erbracht worden sein sollen. In einem solchen Fall kommt lediglich ein Erstattungsanspruch gegenüber dem Leistungsempfänger in Betracht, nicht aber gegenüber einem anderen Leistungsträger.
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Im Übrigen sind auch die sonstigen Voraussetzungen der Erstattungsvorschriften nicht erfüllt.
42
Nach § 102 Abs. 1 SGB X ist der zur Leistung verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein Leistungsträger auf Grund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Im streitgegenständlichen Fall fehlt es jedenfalls an der Vorläufigkeit der erbrachten Leistungen. Die Beklagte hat die Wohngeldleistungen nicht vorläufig erbracht.
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Hat ein Leistungsträger Sozialleistungen erbracht und ist der Anspruch auf diese nachträglich ganz oder teilweise entfallen, ist der für die entsprechende Leistung zuständige Leistungsträger nach § 103 Abs. 1 SGB X erstattungspflichtig, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Auch dies trifft im streitgegenständlichen Fall nicht zu. Denn der Anspruch der Klägerin auf Wohngeld ist nicht nachträglich entfallen, sondern er hat unter Zugrundelegung der Sachlage im Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 15. April 2014 bereits vor Erbringung der jeweiligen Wohngeldzahlung nicht bestanden.
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Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs. 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat (Satz 1 der Vorschrift). Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (Satz 2 der Vorschrift). Ein Erstattungsanspruch besteht nicht, soweit der nachrangige Leistungsträger seine Leistungen auch bei Leistung des vorrangig verpflichteten Leistungsträgers hätte erbringen müssen (Satz 3 der Vorschrift). Diese Voraussetzungen liegen im streitgegenständlichen Fall nicht vor. Es kann dahinstehen, ob mit Blick auf die Einkommensabhängigkeit des Wohngelds zwischen der Wohngeldbehörde und der DRV ein Rangverhältnis im Sinne von § 104 Abs. 1 SGB X besteht (vgl. zum Nachrang wegen Einkommensabhängigkeit der Leistung Kater in Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.), BeckOGK, Stand 15.11.2023, § 104 SGB X Rn. 29 m.w.N.). Jedenfalls fehlt es an einem Leistungsausfall seitens der DRV. Diese ist ihren Leistungsverpflichtungen im streitgegenständlichen Zeitraum rechtzeitig, zunächst sogar in überschießender Höhe nachgekommen. Die aus Sicht der Beklagten überzahlten Wohngeldleistungen stellen sich daher nicht als Vorleistungen dar, die erbracht wurden, weil ein anderer Leistungsträger – hier die DRV – seine Leistungen nicht rechtzeitig erfüllte.
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Schließlich regelt § 105 Abs. 1 Satz 1 SGB X, dass dann, wenn ein unzuständiger Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 102 Abs. 1 SGB X vorliegen, der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger erstattungspflichtig ist, soweit dieser nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Auch dies ist hier nicht der Fall. Durch diese Erstattungsvorschrift „privilegiert“ werden lediglich Verstöße gegen Regelungen der örtlichen oder sachlichen Zuständigkeit, nicht aber Fehler eines Leistungsträgers im Bereich der sonstigen materiellen Rechtsanwendung. Der Erstattungsanspruch verlangt vielmehr insoweit ein rechtmäßiges Handeln des Leistungsträgers (Roos in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 105 Rn. 8). Im Fall der Klägerin ist aber die Beklagte sachlich und örtlich zuständig; die Wohngeldbewilligungen sind – unter Zugrundelegung der Sachlage im Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 15. April 2014 – nicht wegen Verstoßes gegen Zuständigkeitsregelungen rechtswidrig gewesen, sondern weil das Einkommen in seinerzeit unzutreffender Höhe berücksichtigt worden ist.
46
Nach dem somit anwendbaren § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, es sei denn der Begünstigte hat auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut und sein Vertrauen ist unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig. Auf Vertrauen kann sich der Begünstigte allerdings nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X). In diesem Fall kann ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung jedenfalls bis zum Ablauf von zehn Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden, andernfalls kann ein Dauerverwaltungsakt nur bis zum Ablauf von zwei Jahren nach seiner Bekanntgabe zurückgenommen werden (§ 45 Abs. 3 SGB X). Außerdem muss die Behörde den Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen zurücknehmen, welche die Rücknahme des Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen (§ 45 Abs. 4 SGB X). § 44 Abs. 3 SGB X gilt entsprechend (§ 45 Abs. 5 SGB X).
47
Diese Voraussetzungen lagen bei Erlass der Aufhebungsbescheide vom 15. April 2014 vor. Die Ermäßigung des Einkommens durch die Änderung der deutschen Rente erfolgte erst im Oktober 2018, so dass sich die ursprünglichen Bewilligungsbescheide im April 2014 noch nicht als zumindest im Ergebnis richtig erwiesen. Folglich durfte die Beklagte die Bewilligungsbescheide seinerzeit im Umfang ihrer Rechtswidrigkeit nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen (§ 45 Abs. 1 SGB X) zurücknehmen. Die zu treffende Ermessenentscheidung der Beklagten umfasst sowohl das „Ob“ der Rücknahme als auch deren Umfang, ob also ein Verwaltungsakt ganz oder teilweise und ob mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen wird.
48
Diese Ermessensentscheidung der Beklagten ist gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar. Das Gericht ist nicht befugt, eigene Ermessenserwägungen an die Stelle der Erwägungen der Behörde zu setzen. Es hat sich vielmehr gemäß § 114 Satz 1 VwGO auf die Prüfung zu beschränken, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Dies bedeutet, dass das Gericht lediglich prüft, ob das Ermessen rechtmäßig, nicht auch, ob es zweckmäßig ausgeübt worden ist (BVerwG, U.v. 15.7.1964 – V C 23.63 – BeckRS 1964, 30439577; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 1). Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen (§ 114 Satz 2 VwGO).
49
Im streitgegenständlichen Fall hat die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Sie hat zwar erkannt, dass ihr Ermessen zusteht, und dieses auch ausgeübt. Es liegt jedoch ein Ermessensfehlgebrauch vor. Denn die Beklagte hat die sich aufdrängende Möglichkeit einer Rückforderung durch andere Leistungsträger – hier die DRV – nicht in ihre Ermessenserwägungen eingestellt. Damit hat sie ihr Ermessen nicht dem Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechend ausgeübt.
50
§ 45 SGB X dient dem Ausgleich zwischen dem Interesse des Einzelnen auf Aufrechterhaltung einer ihm eingeräumten günstigen Rechtsposition und dem Interesse der Allgemeinheit an einer Durchsetzung des geltenden Rechts und einer zweckentsprechenden Mittelverwendung (BT-Drs. 8/2034, S. 34; Schütze in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 2). Diesem Zweck entsprechend hat sich die Ermessensausübung an den widerstreitenden Belangen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einerseits und dem Gedanken der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes andererseits zu orientieren. Hierbei sind insbesondere die Zumutbarkeit der Folgen der beabsichtigten Rücknahme für den Betroffenen und ggf. für Dritte sowie seit Erlass des zurückzunehmenden Verwaltungsakts unter Umständen eingetretene Änderungen der Sach- oder Rechtslage zu würdigen und die widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Rücknahme in dem konkreten Fall gegeneinander abzuwägen (vgl. Schütze in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 45 Rn. 2; zu § 48 VwVfG Müller in Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOKVwVfG, 61. Ed. Stand 1.7.2023, § 48 Rn. 38). Sinn und Zweck des § 45 SGB X ist damit nicht eine Sanktionierung der Klägerin, indem sie dem Risiko doppelter Rückforderungen ausgesetzt und damit schlechter gestellt wird, als sie bei von vornherein wahrheitsgemäßen Angaben gegenüber allen Leistungsträgern gestanden hätte, sondern allein die Herstellung rechtmäßiger Zustände unter angemessener Berücksichtigung von Rechtssicherheits- und Vertrauensschutzgesichtspunkten (vgl. SächsOVG, B.v. 20.7.2021 – 3 D 73/20 – BeckRS 2021, 19943 Rn. 20). Die Vorschrift bezweckt also, unter Berücksichtigung schutzwürdigen Vertrauens des Betroffenen den Zustand herzustellen, der bei Kenntnis des wahren Sachverhalts und richtiger Rechtsanwendung eingetreten wäre.
51
Im streitgegenständlichen Fall hätte die Klägerin bei von vornherein wahrheitsgemäßen Angaben eine deutsche Rente ab Januar 2004 nur in der aus dem Bescheid der DRV vom 17. Oktober 2018 ersichtlichen Höhe erhalten. Dementsprechend hätte die Beklagte den Wohngeldbewilligungen diese niedrigere Rente und die russische Rente zugrunde gelegt. Da die deutsche Rente genau in Höhe der russischen Rente ruht (§ 31 Abs. 1 Satz 1 FRG in der vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2022 geltenden Fassung), wäre das Einkommen der Klägerin damit im Ergebnis unverändert gewesen. Dies war für die Beklagte im Zeitpunkt des Erlasses der Bescheide vom 15. April 2014 noch nicht absehbar, da der Bescheid der DRV erst im Oktober 2018 erlassen worden ist. Die Neuberechnung der DRV konnte die Beklagte daher nicht berücksichtigen, sie hätte jedoch in ihre Erwägungen einstellen müssen, dass auch andere Leistungsträger noch Rückforderungsansprüche geltend machen könnten und sich daher das Einkommen der Klägerin noch verändern könnte. Hieran fehlt es. Die Rücknahmeentscheidungen der Beklagten vom 15. April 2014 lassen nicht erkennen, dass sich die Beklagte mit dieser Frage überhaupt auseinandergesetzt hätte. Schon dies allein genügt für die Annahme eines Ermessensfehlers. Infolge dieses Fehlers ist zudem dem Risiko einer mehrfachen Belastung der Klägerin mit Rückforderungen nicht durch geeignete Schutzmaßnahmen Rechnung getragen worden. Denkbar wäre beispielsweise gewesen, aus Verhältnismäßigkeitsgründen die Entscheidungen unter einen Vorbehalt (§ 32 Abs. 2 Nr. 3 SGB X) für den Fall späterer Rückforderungen anderer Leistungsträger zu stellen oder zunächst bloß vorläufige Bescheide zu erlassen, um eine übermäßige Inanspruchnahme der Klägerin zu vermeiden.
52
Sind die Rücknahmebescheide vom 15. April 2014 somit rechtswidrig, richtet sich ihre Überprüfung und Aufhebung nach § 44 SGB X. Hiernach richtet sich des Weiteren auch die Überprüfung und Aufhebung der Festsetzung der zu erstattenden Leistung, welche jeweils mit der Rücknahme in den Bescheiden vom 15. April 2014 verbunden wurde. Denn im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X, welches sowohl die Rücknahmen als auch die Festsetzungen zu erstattender Leistungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X umfasst, schlägt der dargestellte Fehler der Rücknahmebescheide im Ergebnis auch auf die Festsetzung der zu erstattenden Leistungen nach § 50 SGB X durch.
53
Nach dessen Absatz 1 Satz 1 sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Ein Ermessen steht der Behörde insoweit nach dem Wortlaut der Vorschrift zwar nicht zu, so dass ein auf § 50 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 SGB X beruhender Festsetzungsbescheid nicht selbst an einem Ermessensfehler leiden kann. Nachdem aber Leistungen nach § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X nur insoweit zu erstatten sind, als ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, wirken sich Fehler bei der Aufhebung des Verwaltungsakts, die zu deren Unwirksamkeit (§ 39 Abs. 2 SGB X) führen, auch auf die zu erstattende Leistung aus. Denn mit dieser Verknüpfung von Aufhebung und Erstattungsverlangen macht § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X den Bestand der Rücknahmeentscheidung zur Voraussetzung der Festsetzung der zu erstattenden Leistung (vgl. BayVGH, B.v. 15.5.1985 – 12 CS 84 A.2718 – NVwZ 1985, 663). Die Rücknahmeentscheidung ist ein rechtsgestaltender Verwaltungsakt, der Grundlage und Anlass für Folgemaßnahmen, insbesondere das Erstattungsverlangen, bildet. Fällt mit Aufhebung der Rücknahmeentscheidung nach § 44 SGB X die Grundlage der Folgemaßnahme „Erstattungsverlangen“ rückwirkend weg, kann die Festsetzung des Erstattungsverlangens keinen Bestand haben. Andernfalls lägen infolge der Aufhebung der Rücknahmeentscheidung mit dem Wiederaufleben des bewilligenden Verwaltungsakts und dem Erstattungsverlangen sich widersprechende Entscheidungen der Verwaltung hinsichtlich der Frage des Behaltendürfens der erbrachten Leistungen vor. Wird die Wirksamkeit der Aufhebungsentscheidung im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X infrage gestellt, ist daher auch die mit der Aufhebung verbundene, ebenfalls zur Überprüfung gestellte Festsetzung zu erstattender Leistungen am Maßstab des § 44 SGB X zu prüfen und der Fortbestand von Rücknahme- und Festsetzungsbescheid möglichst einheitlich zu klären.
54
§ 44 SGB X regelt in seinen Absätzen 1 und 2 unterschiedliche Korrekturmöglichkeiten, die sich in ihren Voraussetzungen und ihren Rechtsfolgen unterscheiden. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Nach Satz 2 der Vorschrift gilt dies nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat. Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, wobei er auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden kann (§ 44 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB X).
55
Eingeschränkt wird die Überprüfungsmöglichkeit in zeitlicher Hinsicht durch § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden im Fall der Rücknahme eines Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. § 31 Satz 1 WoGG verkürzt diese Frist im Wohngeldrecht auf zwei Jahre.
56
Insbesondere auf diese Bestimmung hat die Beklagte ihre Ablehnung einer Überprüfung der Bescheide vom 15. April 2014 gestützt. Sie meint, dass die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X i.V.m. § 31 WoGG eine Überprüfung und Aufhebung der Bescheide vom 15. April 2014 von vornherein ausschließe.
57
Dem ist nicht zu folgen. Die vorgenannte Regelung (sog. „Verfallfrist“) wird zwar über ihren Wortlaut hinaus dahin ausgelegt, dass kein Anspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsakts besteht, wenn die begehrte Rücknahme des Verwaltungsakts wegen Ablaufs der Verfallfrist von zwei Jahren (§ 31 Satz 1 WoGG) keine Auswirkungen mehr haben kann (vgl. Sandbiller in Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.), BeckOGK, Stand 15.5.2023, § 44 SGB X Rn. 85). Die Verwaltung hat dementsprechend schon eine Rücknahmeentscheidung nicht mehr zu treffen, wenn die rechtsverbindliche, grundsätzlich zurückzunehmende Entscheidung ausschließlich Leistungen für eine Zeit betrifft, die außerhalb der durch den Rücknahmeantrag bestimmten Verfallfrist liegt (BSG, U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 19/13 R – juris Rn. 16 m.w.N.).
58
Mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zur Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs. 4 SGB X auf die Überprüfung länger zurückliegender Rückforderungsbescheide (BSG, U.v. 12.12.1996 – 11 Rar 31/96 – juris Rn. 17; U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 19/13 R – juris Rn. 20; BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 20) ist allerdings davon auszugehen, dass diese Regelung auf Aufhebungs- und Rückforderungsbescheide keine, auch keine entsprechende Anwendung findet (a.A. VG München, U.v. 24.4.2008 – M 15 K 07.1099 – juris Rn. 31).
59
Gegen eine unmittelbare Anwendung spricht schon der Wortlaut der Vorschriften, die eine nachträgliche Leistungserbringung voraussetzen, während es im streitgegenständlichen Fall darum geht, ob bereits erbrachte Leistungen vom Empfänger behalten werden dürfen und von ihm bereits geleistete Erstattungsbeträge zurückgezahlt werden müssen. Für dieses Verständnis des unmittelbaren Anwendungsbereichs der § 44 Abs. 4 SGB X, § 31 WoGG und zugleich gegen eine entsprechende Anwendung dieser Vorschriften spricht der Zweck der Verfallfrist. Dieser liegt die Überlegung zugrunde, dass laufende Sozialleistungen wegen ihres Unterhaltscharakters und des Gegenwärtigkeitsprinzips nicht für einen längeren Zeitraum nachgezahlt werden sollen. Das Wohngeld wird zur wirtschaftlichen Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens als Zuschuss zur Miete oder zur Belastung für den selbst genutzten Wohnraum geleistet (§ 1 WoGG). Im Falle rückwirkender Leistung von Wohngeld ist die Zahlung der Miete bzw. Belastung allerdings bereits erfolgt und die entsprechenden Forderungen sind bereits finanziell überbrückt. Nach Sinn und Zweck des Sozialstaatsprinzips und in Abwägung des Grundsatzes der Rechtssicherheit und der Haushaltsklarheit ist daher nach der Vorstellung des Gesetzgebers eine rückwirkende Leistung über zwei Jahre hinaus im Wohngeldrecht nicht erforderlich (BT-Drs. 16/6543 S. 107 zu § 31; vgl. auch Sandbiller in Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.), BeckOGK, Stand 15.5.2023, § 44 SGB X Rn. 85; Zimmermann, WoGG, 1. Aufl. 2014, § 31 Rn. 2). Damit ist die Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden nicht vergleichbar. Eine Finanzierungslücke infolge zu Unrecht nicht erbrachter Sozialleistungen, die vom Leistungsempfänger anderweitig überbrückt worden ist und deren nachträgliche Deckung daher durch die Verfallfrist eingeschränkt wird, bestand in dieser Fallkonstellation nicht. Bei der Rücknahme von Aufhebungs- und Erstattungsbescheiden geht es nicht darum, nachträglich erstmals eine Leistung zu erbringen und damit nachträglich einen tatsächlich letztlich bereits anderweitig überbrückten Bedarf zu decken. Vielmehr geht es um die Abwendung der Rückforderung einer zur Bedarfsdeckung bereits erhaltenen Leistung, d.h. um das Behaltendürfen dieser Leistung und die Rückzahlung eines ggf. bereits zu Unrecht erstatteten Betrags (vgl. BSG, U.v. 12.12.1996 – 11 Rar 31/96 – juris Rn. 18; U.v. 13.2.2014 – B 4 AS 19/13 R – juris Rn. 20 f.; Sandbiller in Rolfs/Körner/Krasney/Mutschler (Hrsg.), BeckOGK, Stand 15.5.2023, § 44 SGB X Rn. 86). Dem kommt nicht der Unterhaltscharakter laufender Sozialleistungen zu (vgl. BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 20 zur Rücknahme der Heranziehung zum Kostenersatz nach dem außer Kraft getretenen § 92a BSHG).
60
Ein Anspruch der Klägerin auf Aufhebung der Bescheide vom 15. April 2014 aus § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X besteht allerdings deshalb nicht, weil dessen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt sind. § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X setzt voraus, dass sich der aufzuhebende Verwaltungsakt auf zu Unrecht nicht erbrachte Sozialleistungen oder zu Unrecht erhobene Beiträge bezieht. Dies trifft auf die Bescheide vom 15. April 2014 nicht zu. Mit diesen wurden weder der Klägerin Sozialleistungen zu Unrecht versagt, noch wurden von ihr Beiträge zu Unrecht erhoben. Vielmehr wurden ihr bereits bewilligte und erbrachte Sozialleistungen wieder entzogen und zu erstattende Leistungen nach § 50 SGB X festgesetzt.
61
Damit kommt der Auffangtatbestand des § 44 Abs. 2 SGB X zum Zuge. Diese Vorschrift stellt – anders als § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X – an den Regelungsinhalt des Verwaltungsakts keine weitergehenden Anforderungen, als dass es sich um einen nicht begünstigenden Verwaltungsakt handeln muss. Insbesondere betrifft die Vorschrift nicht nur Verwaltungsakte mit Dauerwirkung. Die in § 44 Abs. 2 SGB X getroffene Unterscheidung der Wirkungen einer Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft und einer Rücknahme (auch) für die Vergangenheit ist zwar nur bei Dauerverwaltungsakten möglich. Eine Regelung, die – wie § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X – eine Rücknahme „für die Vergangenheit“ vorsieht, ist damit aber nicht auf Dauerverwaltungsakte beschränkt; denn ex-tunc-Wirkung kann auch der Rücknahme eines Nicht-Dauerverwaltungsakts zukommen (BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 18).
62
Soweit der Hinweis des Bundesverwaltungsgerichts in einer Entscheidung aus dem Jahr 1990, dass § 44 Abs. 2 SGB X die Möglichkeit einer Rücknahme mit Wirkung auch für die Zukunft voraussetze und daher auf die Rücknahme eines Aufhebungs- und Rückforderungsbescheids nicht passe (BVerwG, U.v. 15.11.1990 – 5 C 78/88 – juris Rn. 14), dahin verstanden werden kann, dass die Bestimmung nicht auf Verwaltungsakte angewendet werden könne, die ausschließlich abgeschlossene Sachverhalte oder einmalige Leistungen in der Vergangenheit betreffen, hat das Bundesverwaltungsgericht hieran in einer weiteren Entscheidung vom 5. Oktober 1999 nicht festgehalten (BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 18). Stattdessen hat es ausgeführt, § 44 Abs. 2 SGB X gelte für alle rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakte im Anwendungsbereich des Sozialgesetzbuchs, ohne dass es auf ihren Regelungsinhalt im Übrigen ankomme (BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 18).
63
Dem ist zuzustimmen. § 44 Abs. 2 SGB X findet auch in der streitgegenständlichen Fallkonstellation der Rücknahme unanfechtbarer Bescheide, die jeweils die Aufhebung eines Bewilligungsbescheids und die Erstattung der auf seiner Grundlage erbrachten Sozialleistungen zum Gegenstand haben, Anwendung. Dies ergibt sich aus der Funktion des § 44 Abs. 2 SGB X als Auffangregelung, wenn – wie hier – der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X nicht eröffnet ist. Dieser Regelungsgehalt einschließlich der Auffangfunktion des § 44 Abs. 2 SGB X ergibt sich aus der Auslegung der Vorschrift anhand ihres Wortlauts, der Gesetzessystematik, ihrer Entstehungsgeschichte und ihres Telos. Einer analogen Anwendung des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 15.11.1990 – 5 C 78/88 – juris Rn. 13; BSG, U.v. 12.12.1996 – 11 Rar 31/96 – juris Rn. 15; U.v. 13.7.2022 – B 7/14 AS 57/21 R – juris Rn. 24; SächsOVG, U.v. 13.9.2012 – 1 A 383/10 – juris Rn. 30) bedarf es daher nicht (ebenso VG München, U.v. 24.4.2008 – M 15 K 07.1099 – juris Rn. 30; SG Speyer, U.v. 8.9.2017 – S 16 AS 1980/15 – juris Rn. 74 ff.).
64
Der Regelungsgehalt einer gesetzlichen Norm ergibt sich aus deren Wortlaut, wobei nicht am förmlichen Buchstaben des Gesetzes zu kleben ist, sondern unter Berücksichtigung des Gesetzeswortlauts, der Gesetzessystematik und der Entstehungsgeschichte der Norm zu erforschen ist, was der Gesetzgeber mit der auszulegenden Norm zu welchem Zweck anordnen wollte (Meyer in v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 97 Rn. 187, 190). Denn im Rahmen der Gesetzesauslegung hat der Richter keine eigenen Wertungen vorzunehmen, sondern die im Gesetz zum Ausdruck gebrachten Wertungen des Gesetzgebers zu ermitteln und nachzuvollziehen (Hillgruber in Dürig/Herzog/Scholz, GG, 102. EL August 2023, Art. 97 Rn. 62; Meyer in v. Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 97 Rn. 186). Die Gerichte dürfen sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen, sondern müssen die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren. Eine Interpretation, die sich über den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegsetzt, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG, B.v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14 – NJW 2018, 2542 Rn. 73).
65
Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption im Gesetz zugrunde liegt, kommt neben Wortlaut und Systematik den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu. In Betracht zu ziehen sind hier die Begründung eines Gesetzentwurfs, der unverändert verabschiedet worden ist, die darauf bezogenen Stellungnahmen von Bundesrat (Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG) und Bundesregierung (Art. 76 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Stellungnahmen, Beschlussempfehlungen und Berichte der Ausschüsse. In solchen Materialien finden sich regelmäßig die im Verfahren als wesentlich erachteten Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe und Personen (BVerfG, B.v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14 – NJW 2018, 2542 Rn. 74).
66
Die Beachtung des klar erkennbaren Willens des Gesetzgebers ist Ausdruck demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dies trägt dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Rechnung. Das Gesetz bezieht seine Geltungskraft aus der demokratischen Legitimation des Gesetzgebers, dessen artikulierter Wille den Inhalt des Gesetzes daher mitbestimmt. Jedenfalls darf der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers nicht übergangen oder verfälscht werden. So verwirklicht sich auch die in Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG vorgegebene Bindung der Gerichte an das „Gesetz“, denn dies ist eine Bindung an die im Normtext zum Ausdruck gebrachte demokratische Entscheidung des Gesetzgebers, dessen Erwägungen zumindest teilweise in den Materialien dokumentiert sind (BVerfG, B.v. 6.6.2018 – 1 BvL 7/14 und 1 BvR 1375/14 – NJW 2018, 2542 Rn. 75).
67
Im Fall des § 44 Abs. 2 SGB X sprechen die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Regelung für die Anwendung der Vorschrift auch auf in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Sachverhalte oder einmalige Leistungen in der Vergangenheit. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Wortlaut der Vorschrift und der Gesetzessystematik.
68
Der Gesetzeswortlaut lässt zwar nicht bereits eindeutig allein auf dieses Verständnis der Norm schließen, er steht ihm aber auch nicht entgegen, sondern spricht eher sogar dafür. Nach dem Wortlaut des § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, soweit § 44 Abs. 1 keine Anwendung findet. Nach Satz 2 der Vorschrift kann er auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Damit differenziert die Norm in ihren Sätzen 1 und 2 dem Wortlaut nach zwischen einer Aufhebung für die Vergangenheit und einer Aufhebung für die Zukunft. Diese Formulierung kann nach allgemeinem Sprachgebrauch so verstanden werden, dass § 44 Abs. 2 SGB X die Möglichkeit einer Rücknahme mit Wirkung auch für die Zukunft voraussetzen will. Ebenso gut kann dies jedoch auch dahingehend verstanden werden, dass der Gesetzgeber mit der gewählten Formulierung allein zum Ausdruck bringen wollte, dass die Rücknahme für die Vergangenheit im Ermessen der Behörde steht, die Rücknahme für die Zukunft hingegen zwingend ist, ohne damit den Anwendungsbereich der Vorschrift auf eine bestimmte Art von Verwaltungsakten, nämlich auf solche, die (noch) Wirkungen für die Zukunft entfalten, zu beschränken. Hierfür spricht die Formulierung „im Übrigen“ in § 44 Abs. 2 SGB X. In dieser Formulierung findet die Funktion des Absatzes 2 als Auffangregelung Ausdruck und ist zugleich der Hinweis darauf enthalten, dass der sachliche Geltungsbereich des Absatzes 1 enger ist als derjenige des Absatzes 2 (BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 13). Der Wortlaut allein legt daher nahe, dass jeder rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakt in den Anwendungsbereich des § 44 SGB X fällt oder nur solche, die (noch) Wirkungen für die Zukunft entfalten. Er gibt dies jedoch nicht zwingend vor.
69
Gleiches gilt für die Gesetzessystematik. Dass der Gesetzgeber in § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB X zunächst die Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft regelt und im Anschluss in Satz 2 der Norm die Aufhebung für die Vergangenheit, kann sowohl so verstanden werden, dass die in Satz 2 geregelte Rücknahme für die Vergangenheit eigenständigen Charakter gegenüber Satz 1 hat, als auch so, dass mit der Stellung nach Satz 1 zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass dessen Regelungsinhalt, die Möglichkeit zur Rücknahme für die Zukunft, zur Tatbestandsvoraussetzung von Satz 2 gemacht werden sollte.
70
Auch die systematische Stellung und Funktion des § 44 Abs. 2 SGB X als Auffangtatbestand des § 44 Abs. 1 SGB X lässt keinen eindeutigen Rückschluss auf den Regelungsgehalt des § 44 Abs. 2 SGB X zu. Diese Auffangfunktion des § 44 Abs. 2 SGB X ergibt sich daraus, dass er seinem Wortlaut nach „im Übrigen“ gilt, mithin soweit § 44 Abs. 1 SGB X keine Anwendung findet.
71
Allerdings zeigen die Gesetzesmaterialien und die Entstehungsgeschichte deutlich auf, welche gesetzgeberische Konzeption der Regelung in § 44 Abs. 2 SGB X zugrunde liegt. Sie dokumentieren die konkrete Vorstellung von Bedeutung, Reichweite und Zielsetzung dieser Norm. Der mehrdeutige Wortlaut der Norm ist daher im Lichte der Entstehungsgeschichte und des in dieser zum Ausdruck kommenden Telos des Gesetzes dahin auszulegen, dass die Norm nicht nur für Verwaltungsakte gilt, die zumindest auch mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben werden können.
72
Der Gesetzgeber wollte mit Schaffung des § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. (jetzt § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X) einen Grundsatz verallgemeinern, der seinerzeit in den §§ 627, 1300 RVO, § 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) niedergelegt und aus Sicht des Gesetzgebers für das gesamte Sozialrecht geboten war (BT-Drs. 8/2034, S. 34). Nach diesen Vorschriften hatte der zuständige Leistungsträger eine Neufeststellung vorzunehmen, wenn er sich bei erneuter Prüfung davon überzeugte, dass die Leistung zu Unrecht abgelehnt, entzogen, eingestellt oder zu niedrig festgestellt worden war. Mit Blick auf den klaren, eindeutig abweichenden Wortlaut des § 44 Abs. 1 SGB X von den vorgenannten Vorschriften ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber damit den wesentlichen Grundgehalt dieser Vorschriften fortschreiben wollte statt diese lediglich mit anderen Worten zu übernehmen (BSG, U.v. 21.6.1983 – 4 RJ 69/82 – juris Rn. 10).
73
Der Regelungsgehalt des § 42 Abs. 2 SGB X a.F. (jetzt § 44 Abs. 2 SGB X) sollte demgegenüber nach der Vorstellung des historischen Gesetzgebers § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG entsprechen und vor allem Fälle erfassen, in denen von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist, der Betroffene jedoch die falsche Tatsachengrundlage zu vertreten hat (BT-Drs. 8/2034, S. 34). Denn eine Rücknahme nach Absatz 1 Satz 1 der Norm war in einem solchen Fall nach Absatz 1 Satz 2 ausgeschlossen. Danach galt die Rücknahmepflicht nach § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. nicht, wenn die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts auf Angaben beruhte, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hatte.
74
Dass § 44 Abs. 2 SGB X der Regelung des § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nachempfunden wurde, spricht für ein weites Verständnis des Anwendungsbereichs des § 44 Abs. 2 SGB X, da nach § 48 Abs. 1 Satz VwVfG im Grundsatz jeder rechtswidrige Verwaltungsakt aufhebbar ist. Dies gilt jedenfalls für – von § 42 SGB X a.F. / § 44 SGB X n.F. allein erfasste – rechtswidrige belastende Verwaltungsakte, während § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG die Aufhebung rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte besonderen Voraussetzungen unterwirft (vgl. zum Grundsatz freier Rücknehmbarkeit und seinen Einschränkungen BT-Drs. 7/910, S. 69; Müller in Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 61. Ed. Stand 1.7.2023, § 48 Rn. 22).
75
Dem stehen die im Wortlaut voneinander abweichenden Formulierungen des § 44 Abs. 2 SGB X und des § 48 VwVfG nicht entgegen, wie die Entstehungsgeschichte des § 44 Abs. 2 SGB X zeigt.
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Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sah zunächst vor, § 44 Abs. 2 SGB X letztlich – abgesehen von seiner Beschränkung auf nicht begünstigende Verwaltungsakte – wie § 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG zu formulieren. So lautete die Vorschrift in der Entwurfsfassung der Bundestagsdrucksache 8/2034 wie folgt: „Im Übrigen kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.“ In der zweiten Beratung des Bundestags wurde dies in einem Redebeitrag als Vorschlag interpretiert, „dass belastende rechtswidrige Bescheide für die Vergangenheit und die Zukunft aufzuheben sind“ (BT-Plenarprotokoll …).
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Auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde diese Formulierung des § 42 Abs. 2 SGB X a.F. in die noch heute – jetzt allerdings in § 44 Abs. 2 SGB X enthaltene – gültige Fassung geändert. Diese Änderung sollte lediglich eine Klarstellung bringen (BT-Drs. 8/4022, S. 82). Eine inhaltliche Änderung war also nicht gewollt. Doch räumt der Wortlaut der Vorschrift dem Leistungsträger nunmehr eindeutig kein Ermessen mehr ein, soweit es um die Aufhebung eines Verwaltungsakts für die Zukunft geht. Es kann dahinstehen, ob die Erläuterung der Umformulierung durch den Ausschuss so zu verstehen ist, dass er davon ausging, dass sich das zuvor dem Wortlaut nach bestehende Ermessen bei der Rücknahme rechtswidriger belastender Verwaltungsakte mit Wirkung für die Zukunft stets auf Null reduzieren würde und deshalb (faktisch) von einer Rücknahmepflicht auszugehen sei. Denn jedenfalls wird aus der dargestellten Intention der am Gesetzgebungsprozess Beteiligten deutlich, dass eine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Norm auf solche Verwaltungsakte, die mit Wirkung auch für die Zukunft aufgehoben werden können (so noch BVerwG, U.v. 15.11.1990 – 5 C 78/88 – juris Rn. 14), ebenso wenig gewollt war wie eine Beschränkung auf Verwaltungsakte, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden (so aber BSG, U.v. 10.12.1985 – 10 RKg 14/85 – juris Rn. 25). Ersteres folgt insbesondere daraus, dass § 44 Abs. 2 SGB X dem § 48 VwVfG nachgebildet worden ist, der eine solche Beschränkung in seiner bei Erlass des § 42 Abs. 2 SGB X a.F. geltenden Fassung nicht kannte (und im Übrigen auch heute nicht kennt). Letzteres ergibt sich daraus, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers § 42 Abs. 2 SGB X a.F. gerade auch diejenigen Fälle „auffangen“ sollte, die deshalb nicht unter die Rücknahmeregelung des § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. / § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X n.F. fallen, weil der Betroffene zu vertreten hat, dass bei Erlass des Verwaltungsakts von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden ist (BT-Drs. 8/2034, S. 34). Ausgehend von dem eindeutig Leistungs- und Beitragsbescheide umfassenden Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. / § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X n.F. findet § 44 Abs. 2 SGB X daher auch Anwendung auf die Rücknahme eines Aufhebungsbescheids, der die für einen zeitlich zurückliegenden Bewilligungszeitraum getroffene Leistungsbewilligung im Wege der Rücknahme ihrer Aufhebung nachträglich bestätigt. Da der Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 Satz 1 SGB X a.F. / § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X n.F. wie dargestellt an den Anwendungsbereich von Absatz 1 Satz 1 anknüpft, umfasst er gerade auch Rücknahmen eines Leistungsentzugs, wie aus der Anlehnung der Regelung in Absatz 1 Satz 1 an §§ 627, 1300 RVO, § 79 AVG und § 93 RKG hervorgeht. Diese sahen eine Neufeststellung explizit auch dann vor, wenn sich der zuständige Leistungsträger bei erneuter Prüfung davon überzeugte, dass die Leistung zu Unrecht entzogen worden war, ohne hiervon Leistungen in zeitlich zurückliegenden Bewilligungszeiträumen auszunehmen. Dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber grundsätzlich auch bei der rechtswidrigen Entziehung einer zunächst bewilligten Leistung eine nachträgliche Korrekturmöglichkeit für geboten hielt und mit der Regelung des § 44 Abs. 2 SGB X schaffen wollte.
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Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der Gesetzgeber mit den §§ 42 ff. SGB X Rücknahme- und Widerrufsvorgänge im Sozialrecht – ungeachtet fachrechtlicher Sonderregelungen – zusammenfassend in einem Gesetzbuch normieren wollte (vgl. BT-Plenarprotokoll …). Dies legt nahe, dass der Gesetzgeber bei Erlass dieser Normen davon ausgegangen ist, damit alle regelungsbedürftigen Rücknahme- und Widerrufsvorgänge, mithin auch die Aufhebung rechtswidriger Leistungsentziehungen für in der Vergangenheit liegende Bewilligungszeiträume geregelt zu haben. Dementsprechend und im Lichte der dargestellten Anlehnung der § 42 Abs. 1 und 2 SGB X an §§ 627, 1300 RVO, § 79 AVG, § 93 RKG und § 48 VwVfG ist der Anwendungsbereich des § 44 Abs. 2 SGB X weit auszulegen, und zwar dahingehend, dass er auch für die Rücknahme eines Verwaltungsakts mit dem Ziel, die Aufhebung leistungsbewilligender Bescheide und die Rückforderung von Leistungen durch einen Leistungsträger rückgängig zu machen und damit den Rechtsgrund für das Behaltendürfen dieser Leistungen durch den Empfänger wieder aufleben zu lassen, gilt.
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Der im streitgegenständlichen Fall somit anwendbare § 44 Abs. 2 SGB X stellt die Rücknahme auch für die Vergangenheit in das pflichtgemäße Ermessen des zuständigen Leistungsträgers. Dabei darf das Ermessen nur dem Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechend ausgeübt werden (§ 114 Satz 1 VwGO). Dieser besteht darin, durch eine Rücknahme für die Vergangenheit die wahre Rechtslage (wieder-) herzustellen, soweit dies Billigkeitsgesichtspunkten entspricht (Schütze in Schütze (Hrsg.), SGB X, 9. Aufl. 2020, § 44 Rn. 26).
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Dabei gibt § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X weder der Rechtssicherheit (d.h. dem Fortbestand der Entscheidung) noch der materiellen Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang; beide Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips haben im Rahmen dieser Vorschrift vielmehr gleichen Rang (BSG, U.v. 24.2.1987 – 11b RAr 60/86 – juris Rn. 23). Denn im Gegensatz zu § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB X, die die Rücknahme bei Vorliegen ihrer Tatbestandsvoraussetzungen als gebundene Entscheidung gestalten, stellt § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X die Rücknahme in das Ermessen des Leistungsträgers. Gerade in diesen vom Gesetzgeber selbst vorgenommenen Abstufungen zeigt sich, dass die Ermessensausübung bei der Rücknahme eines Bescheids, mit dem ein Bewilligungsbescheid aufgehoben und infolge dieser Aufhebung zu erstattende Leistungen festgesetzt werden, nicht mit Blick auf den Gedanken der materiellen Gerechtigkeit hin zu einer Rücknahme als Regelfall determiniert ist (vgl. BVerwG, U.v. 5.10.1999 – 5 C 27/98 – juris Rn. 13; B.v. 5.11.2008 – 5 PKH 8/08 – juris Rn. 8). Deshalb kann weder allein die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheids zu dessen Rücknahme verpflichten noch kann die eingetretene Bindungswirkung entscheidender Grund für die Ablehnung der Rücknahme sein (BSG, U.v. 24.2.1987 – 11b RAr 60/86 – juris Rn. 23). Welche zusätzlichen Umstände in die Ermessenserwägungen einzustellen sind, hängt vom Einzelfall ab. Zusätzliche Kriterien können insbesondere die wirtschaftlichen Folgen für den Betroffenen, der Umfang des für den Vollzug der Rücknahme erforderlichen Verwaltungsaufwands im Verhältnis zum Erfolg, das Maß des eigenen Verschuldens sowie der Unredlichkeit und Bösgläubigkeit des Betroffenen sowie sonstige Billigkeitsgesichtspunkte sein.
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Die Beklagte hat bisher kein Ermessen auf der Grundlage von § 44 Abs. 2 Satz 2 SGB X ausgeübt. Da das Gericht sein Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Behörde setzen darf, kann in einem solchen Fall, in dem das Bestehen des Anspruchs von einer Ermessensausübung der Behörde abhängt, das Gericht grundsätzlich keine Spruchreife herbeiführen. Dies bedeutet, es kann die Behörde lediglich zur erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) verpflichten, nicht aber abschließend über das Bestehen oder Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs als solchen entscheiden. Dies gilt allerdings nur im Grundsatz. Ist nämlich das Ermessen auf Null reduziert, kommt ausnahmsweise ein Verpflichtungsausspruch in Betracht (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 49). Eine solche Ermessensreduktion auf Null liegt dann vor, wenn das Ermessen fehlerfrei nur noch in eine Richtung ausgeübt werden kann, weil jede andere Ermessensentscheidung fehlerhaft wäre (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 49 m.w.N.).
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Im streitgegenständlichen Fall ist das Ermessen der Beklagten zugunsten der Klägerin in dem Sinne auf Null reduziert, dass sich die Beklagte nur noch für die Rücknahme der Aufhebungs- und Festsetzungsbescheide in vollem Umfang und mit Wirkung ex tunc entscheiden kann.
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Dies folgt aus dem Zweck des § 44 Abs. 2 SGB X, durch eine Rücknahme für die Vergangenheit die wahre Rechtslage (wieder-) herzustellen, soweit dies Billigkeitsgesichtspunkten entspricht. Denn im streitgegenständlichen Fall sind keine Anhaltspunkte für Umstände ersichtlich, die gegen eine Rücknahme sprechen könnten. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin zu der Rechtswidrigkeit der Rücknahme der Bewilligungsbescheide beigetragen haben könnte oder dass der Beklagten durch den Vollzug der Rücknahmen der rechtswidrigen Aufhebung der Bewilligungsbescheide und der Rückabwicklung von erstatteten Leistungen ein unverhältnismäßiger Aufwand entstehen könnte. Die Rechtswidrigkeit der Bescheide vom 15. April 2014 beruht vielmehr allein auf einem Ermessensfehler der Beklagten, nicht etwa auf unzureichenden oder falschen Angaben der Klägerin. Dies spricht dafür, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Klägerin von vornherein gegenüber allen Leistungsträgern wahrheitsgemäße Angaben gemacht hätte.
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Es wäre ermessensfehlerhaft, den Umstand, dass die Klägerin nicht von sich aus darauf hingewiesen hat, dass die russische Rente noch nicht auf die deutsche Rente angerechnet wurde und daher die DRV Rentenbescheide für die Vergangenheit ändern könnte, zu ihren Lasten zu berücksichtigen (vgl. Widerspruchsbescheid vom 5.11.2020, S. 5). Denn sie hat im Rücknahme- und Erstattungsverfahren nach §§ 45, 50 SGB X auch nicht das Gegenteil behauptet, sondern hierzu überhaupt keine Angaben gemacht, nachdem sie hierzu auch weder befragt noch ihr mitgeteilt worden war, dass dies für die Entscheidung der Beklagten relevant sein könnte, zumal die von der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum seinerzeit vorgelegten Bescheide der DRV einen Abzug wegen einer ausländischen Rente nicht ansatzweise erkennen lassen. Dementsprechend lässt sich hieraus unter den konkret gegebenen Umständen keine Unredlichkeit und kein (Mit-) Verschulden der Klägerin an der Rechtswidrigkeit der Rücknahme- und Erstattungsbescheide, um deren Aufhebung es geht, ableiten.
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Des Weiteren wäre es ermessensfehlerhaft, den Verwaltungsaufwand der Beklagten im streitgegenständlichen Fall höher zu bewerten als die Durchsetzung materieller Gerechtigkeit, ohne dass es weiterer Aufklärung des zu erwartenden Verwaltungsaufwands bedarf. Dem Vorbringen der Beklagten und den sonstigen Umständen lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der Verwaltungsaufwand über das bei der Aufhebung von Rücknahme- und Festsetzungsbescheiden und der Rückgängigmachung von Vollzugsmaßnahmen, insbesondere der Rückzahlung von erstatteten Leistungen, typische Maß hinausgehen könnte. Das Vorbringen der Beklagten beschränkt sich insoweit auf Ausführungen zu programmtechnischen Hindernissen einer rückwirkenden Wohngeldberechnung. Soweit die Beklagte im Klageverfahren darauf hingewiesen hat, dass das von ihr zur Wohngeldberechnung verwendete Computerprogramm Wohngeld erst ab dem 1. Januar 2011 rückwirkend berechnen könne, lässt dies indes nicht auf einen unverhältnismäßigen Aufwand schließen. Um den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Klägerin von vornherein gegenüber allen Leistungsträgern wahrheitsgemäße Angaben gemacht hätte, bedarf es im streitgegenständlichen Fall keiner Neuberechnung des Wohngelds. Es ist offensichtlich, dass dieser Zustand nur hergestellt werden kann, indem die Bescheide vom 15. April 2014 vollständig aufgehoben werden. Dies folgt daraus, dass die deutsche Rente genau in Höhe des in Euro umgerechneten Betrags der russischen Rente ruht (§ 31 Abs. 1 Satz 1 FRG in der vom 1. Januar 2002 bis 31. Dezember 2022 geltenden Fassung), so dass sich das Einkommen der Klägerin damit im Ergebnis als unverändert darstellt.
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Dass die Beklagte und die DRV die russische Rente in ihren Rücknahmebescheiden im Rahmen der Neuberechnung der Leistungshöhen mit unterschiedlichen Eurobeträgen berücksichtigt haben, ist im Ergebnis unerheblich und wirkt sich nicht auf den Umfang der Aufhebung der Bescheide vom 15. April 2014 aus. Denn das Zusammentreffen von deutscher und russischer Rente stellt sich im Fall der Klägerin mit Blick auf die Regelung des § 31 Abs. 1 Satz 1 FRG so dar, dass das Renteneinkommen der Klägerin sich stets auf den Betrag der deutschen Rente einschließlich des ruhenden Teils der deutschen Rente summiert. Lediglich die Zusammensetzung dieses Betrags ändert sich je nach Höhe der russischen Rente, die aber zu keinem Zeitpunkt in den streitgegenständlichen Zeiträumen die deutsche Rente überstieg. Da der Wohngeldentscheidung nach allen in den streitgegenständlichen Bewilligungszeiträumen geltenden Fassungen des Wohngeldgesetzes das zum Zeitpunkt der Antragstellung im Bewilligungszeitraum zu erwartende Einkommen zu Grunde zu legen war (§ 11 Abs. 1 WoGG i.d.F. vom 23.1.2002, BGBl. I S. 474; § 24 Abs. 2 WoGG i.d.F. vom 24.9.2008, BGBl. I S. 1856), und die Bestimmung voraussichtlicher Umrechnungskurse mit großen Prognoseunsicherheiten verbunden ist, ist mit Blick auf die dargestellte Systematik der Anrechnung der russischen Rente auf die deutsche Rente im Rahmen der Wohngeldberechnung in den streitgegenständlichen Bewilligungszeiträumen beim klägerischen Einkommen aus Rente im Ergebnis stets von einem Betrag in der Höhe der (zu erwartenden) deutschen Rente einschließlich des ruhenden Teils der deutschen Rente auszugehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn nicht offensichtlich davon auszugehen ist, dass die DRV eine anzurechnende ausländische Rente überhaupt nicht berücksichtigt oder systematisch unzutreffend ermittelt und anrechnet, insbesondere unrichtig in Euro umrechnet. Hierfür ist im streitgegenständlichen Fall jedenfalls nach Erlass der Bescheide der DRV vom 17. Oktober 2018 nichts ersichtlich. Insbesondere ist von einer offensichtlich voraussichtlich falschen Rentenanrechnung durch die DRV mit Blick auf den Prognosecharakter der Einkommensermittlung, der auch in Rücknahmeverfahren zu berücksichtigen ist, nicht bereits dann auszugehen, wenn Beklagte und DRV eine ausländische Rente nachträglich bloß geringfügig voneinander abweichend beziffern und sich – wie hier – anhand der Dokumentation der Umrechnung der Wohngeldbehörde nicht hinreichend nachvollziehen lässt, dass diese den Vorgaben des § 17a SGB IV in der jeweils maßgeblichen Fassung genügt. Diese Vorschrift regelt zwar nicht unmittelbar für den Bereich des Wohngeldrechts, wie in fremder Währung erzieltes und in der Sozialversicherung zu berücksichtigendes Einkommen in Euro umzurechnen ist. Jedoch findet die Vorschrift beim Zusammentreffen einer deutschen Rente mit einer ausländischen Rente Anwendung (§ 1 Abs. 1 Satz 1 SGB IV, vgl. auch DRV, GRA SGB zu § 17a SGB IV, Ziffer 3) und ist daher insoweit auch von der Wohngeldbehörde zu berücksichtigen.
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Fehler bei den ursprünglichen Wohngeldberechnungen, welche es rechtfertigen könnten, die Bescheide vom 15. April 2014 nicht in vollem Umfang aufzuheben, sind von keinem der Verfahrensbeteiligten vorgetragen worden und drängen sich auch nicht auf.
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Nach alledem war dem Hauptantrag in vollem Umfang stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 SGB X. Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.