Inhalt

VGH München, Beschluss v. 10.10.2024 – 7 ZB 23.317
Titel:

Schulrechtliche Ordnungsmaßnahme (Verweis) wegen unerlaubten Fernbleibens vom Unterricht

Normenketten:
BayEUG Art. 56 Abs. 4 S. 3, Art. 86 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Art. 88 Abs. 1 Nr. 1
BayVwVfG Art. 35
Leitsätze:
1. Mildeste Ordnungsmaßnahme ist der schriftliche Verweis (Art. 86 Abs. 2 Nr. 1 BayEUG), der als bloße Missbilligung bzw. als erzieherischer Akt in der Art einer Abmahnung mangels Regelungswirkung keinen Verwaltungsakt iSv Art. 35 BayVwVfG darstellt. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die nach pädagogischen Gesichtspunkten vorzunehmende Beurteilung der Person und deren Verhaltens durch die für den Verweis zuständige Lehrkraft (Art. 88 Abs. 1 Nr. 1 BayEUG) entzieht sich einer vollständigen Erfassung nach rein rechtlichen Kriterien und bedingt daher sachnotwendig als pädagogisches Urteil einen gerichtlich nicht kontrollierbaren Wertungsspielraum. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schulrechtliche Ordnungsmaßnahme (Verweis) wegen unerlaubten Fernbleibens vom Unterricht., schulrechtliche Ordnungsmaßnahme, Verweis, Fernbleiben vom Unterricht, Missbilligung, Regelungswirkung, Verwaltungsakt, Wertungsspielraum, gerichtliche Kontrolle
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 17.01.2023 – M 3 K 20.1888
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28775

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Klägerin besuchte im Schuljahr 2019/2020 die Jahrgangsstufe 7 der staatlichen Realschule T.
2
Am 21. Januar 2020 verließ sie zusammen mit zwei weiteren Schülerinnen und mit Erlaubnis ihrer Lehrerin, Frau G., zu Beginn der Englischstunde den Unterricht, um mit der Sozialpädagogin der Jugendsozialarbeit an Schulen, Frau S., ein Gespräch führen zu können. Die Klägerin kehrte nicht mehr in die laufende Englischstunde zurück.
3
Die Lehrerin Frau G. erteilte der Klägerin unter dem 30. Januar 2020 einen Verweis, weil sie unerlaubt vom Englischunterricht ferngeblieben sei. Sie habe es unterlassen, in den Unterricht zurückzukehren, obwohl die Sozialpädagogin nicht in ihrem Büro angetroffen worden sei.
4
Nach einer „Gegenvorstellung“ des Vaters der Klägerin bei der Schulleitung erteilte Frau G. der Klägerin am 19. Februar 2020 einen, den ersten ersetzenden, (neuen) Verweis. In dem Verweis wird im Vergleich zum ersten zusätzlich ausgeführt, dass sich an der Tür zum Büro der Sozialpädagogin ein Schild befunden habe, wonach sich Frau S. bei der Schulleitung aufhalte, und dass die Klägerin sowie die beiden anderen Schülerinnen bei dem Gespräch mit der Lehrkraft am 23. Januar 2020 auf die Frage, warum sie nicht im Sekretariat nach der Sozialpädagogin gefragt hätten, nur mit Schulterzucken und auf den Einwand der Lehrkraft, sie würden dort ja auch hingehen, wenn sich ein Lehrer verspäte, sehr verlegen reagiert hätten.
5
Die gegen den Verweis vom 19. Februar 2020 erhobene Klage auf Feststellung, dass dieser rechtswidrig ist, wurde vom Verwaltungsgericht abgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Verweis beruhe auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage und sanktioniere in nicht zu beanstandender Weise das Fehlverhalten der Klägerin, nicht mehr in den Unterricht zurückgekehrt zu sein, obwohl die Sozialpädagogin nicht angetroffen worden sei. Der Vortrag der Klägerin im Klageverfahren, sie und ihre zwei Mitschülerinnen hätten im Sekretariat nach Frau S. fragen wollen, seien aber wegen des zu großen Besucherandrangs zum Verlassen des Raums aufgefordert worden, sei nicht entscheidungserheblich.
6
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Rechtschutzbegehren weiter. Sie bringt im Wesentlichen vor, dass dem streitgegenständlichen Bescheid ein unklarer bzw. widersprüchlicher Sachverhalt zugrunde liege, keine vorwerfbare Pflichtwidrigkeit gegeben sei, insbesondere die erteilte Erlaubnis, den Unterricht zu verlassen, dem Verweis entgegenstehe, und nicht berücksichtigt worden sei, dass die Klägerin das Sekretariat tatsächlich aufgesucht habe, dort aber abgewiesen worden sei.
7
Der Beklagte tritt dem Berufungszulassungsantrag entgegen.
8
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
9
Der zulässige Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Der von der Klägerin geltend gemachte Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist nicht in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Art und Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor. An der Richtigkeit des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts bestehen keine ernstlichen Zweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
10
Ernstliche Zweifel i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind anzunehmen, wenn in der Antragsbegründung ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. etwa BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – NJW 2009, 3642) und die Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente auf das Ergebnis durchschlagen (BVerwG, B.v. 10.3.2004 – 7 AV 4.03 – DVBl 2004, 838/839). Schlüssige Gegenargumente in diesem Sinne liegen dann vor, wenn der Rechtsmittelführer substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufzeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung im Ergebnis unrichtig ist (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – NVwZ 2011, 546/548). Welche Anforderungen an Umfang und Dichte der Darlegung zu stellen sind, hängt wesentlich von der Intensität ab, mit der die Entscheidung begründet worden ist (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 64 m.w.N.).
11
Durch die von der Klägerin im Zulassungsverfahren vorgebrachten Einwendungen werden die Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich in Frage gestellt und keine Gesichtspunkte aufgezeigt, die weiterer Klärung in einem Berufungsverfahren bedürften. Das Verwaltungsgericht ist in nicht zu beanstandender Weise von der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Verweises ausgegangen.
12
1. Nach Art. 86 Abs. 1 BayEUG können zur Sicherung des Bildungs- und Erziehungsauftrags Ordnungsmaßnahmen gegenüber Schülerinnen und Schülern getroffen werden, soweit andere Erziehungsmaßnahmen nicht ausreichen. Mildeste Ordnungsmaßnahme ist der schriftliche Verweis (Art. 86 Abs. 2 Nr. 1 BayEUG), der als bloße Missbilligung bzw. als erzieherischer Akt in der Art einer Abmahnung mangels Regelungswirkung keinen Verwaltungsakt i.S.v. Art. 35 BayVwVfG darstellt (vgl. BayVGH, U.v. 10.3.2010 – 7 B 09.1906 – juris Rn. 19 zum verschärften Verweis).
13
Die nach pädagogischen Gesichtspunkten vorzunehmende Beurteilung der Person und deren Verhaltens durch die für den Verweis zuständige Lehrkraft (Art. 88 Abs. 1 Nr. 1 BayEUG) entzieht sich einer vollständigen Erfassung nach rein rechtlichen Kriterien und bedingt daher sachnotwendig als pädagogisches Urteil einen Wertungsspielraum. In diesen Bereich spezifisch pädagogischer Wertungen und Überlegungen haben die Verwaltungsgerichte nicht korrigierend einzugreifen; sie können nicht anstelle der zuständigen Lehrkraft eigene pädagogische Erwägungen anstellen, zu denen sie sachgerecht auch in der Regel nicht in der Lage wären. Trotz dieser Grenzen der gerichtlichen Kontrolle haben die Gerichte aber den gegen die Ordnungsmaßnahme erhobenen Einwendungen nachzugehen und die pädagogische Bewertung der Schule auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Sie haben insbesondere zu kontrollieren, ob der Verweis gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstößt. Der gerichtlichen Überprüfung unterliegt es ferner, ob die Schule frei von sachfremden Erwägungen entschieden und ob sie ihre Entscheidungen auf Tatsachen und Feststellungen gestützt hat, die einer sachlichen Überprüfung Stand halten (vgl. BayVGH, B.v. 28.1.2008 – 7 CS 07.3380 – juris Rn. 14 zur Ordnungsmaßnahme der Entlassung).
14
2. Von diesen Grundsätzen ist das Verwaltungsgericht bei der Prüfung des streitgegenständlichen Verweises in nicht zu beanstandender Weise ausgegangen.
15
a) Soweit klägerseits eingewandt wird, das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass dem Verweis vom 19. Februar 2020 ein nicht nachvollziehbarer bzw. widersprüchlicher Sachverhalt zugrunde liege, rechtfertigt dieses Vorbringen nicht die Annahme ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Der Bevollmächtigte der Klägerin verweist insoweit auf die Unterschiede in den Ausführungen der beiden Verweise unter der Überschrift „Ergebnis des Gesprächs“. Während im streitgegenständlichen Verweis dort der Text „Meine Frage, warum sie nicht zum Sekretariat gegangen seien, konnten die drei Schülerinnen nur mit einem Schulterzucken beantworten. Auch auf meinen Einwand, dass sie dort ja auch hingehen, wenn sich ein Lehrer verspäten würde, reagierten die Schülerinnen alle sehr verlegen.“ enthalten sei, finde sich dieser im ersetzten ersten Verweis vom 30. Januar 2020 nicht.
16
Mit diesem Vorbringen kann die Klägerin nicht durchdringen. Weder ist in einer den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO genügenden Art nachvollziehbar dargelegt noch sonst ersichtlich, warum wegen des angeführten Nachtrags die Sachverhaltsdarstellung im streitgegenständlichen Verweis widersprüchlich bzw. unklar sein soll. Der von der Klägerin aufgezeigte Passus stellt im Vergleich zu den Angaben im ersten Verweis lediglich eine Ergänzung des Ergebnisses der Anhörung der Schülerinnen um einen weiteren Aspekt dar. Es ist weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich, dass diese Ergänzung die Frage bzw. den Einwand der Lehrkraft und die Reaktion der betroffenen Schülerinnen unrichtig wiedergeben würde. Wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausführt, hat die von der Klägerin angeführte Ergänzung unabhängig davon keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit des Verweises (s. nachfolgend b).
17
b) Der erstmals in der Remonstration vom 2. März 2020 und im Klageverfahren erfolgte Vortrag, die Klägerin und ihre zwei Mitschülerinnen hätten das Sekretariat wegen ihres Anliegens aufgesucht, seien von dort aber aufgrund des Besucherandrangs des Raumes verwiesen worden, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Der Senat geht mit dem Verwaltungsgericht davon aus, dass dieser Einwand die Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Verweises nicht entfallen lässt.
18
Wie vom Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, liegt – auch unter Berücksichtigung der erfolgten Ergänzung des Verweises unter der Überschrift „Ergebnis des Gesprächs“ – die geahndete Pflichtwidrigkeit nicht im unterlassenen Aufsuchen des Sekretariats. Sie ist vielmehr darin zu sehen, dass die Klägerin entgegen ihrer Verpflichtung zur Teilnahme am Unterricht aus Art. 56 Abs. 4 Satz 3 BayEUG während der gesamten Englischstunde nicht in den Unterricht zurückgekehrt ist, sondern vor der Tür der Sozialpädagogin gewartet hat, obwohl sich ein Schild an der Tür mit dem Hinweis auf deren Besprechung bei der Schulleitung befunden hat. Dies folgt unzweifelhaft aus den maßgeblichen Ausführungen von Frau G. im streitgegenständlichen Verweis. Dort wird unter der Überschrift „Begründung“ im ersten Absatz der Grund für den Verweis genannt, nämlich das unerlaubte Fernbleiben vom Englischunterricht; im zweiten Absatz wird dazu angegeben, dass die Mädchen der gesamten Unterrichtsstunde im Fach Englisch ferngeblieben sind, obwohl sich die Sozialpädagogin – wie auf dem Schild geschrieben – bei der Schulleitung aufgehalten hat. Dafür, dass Frau G. im unterlassenen Aufsuchen des Sekretariats keine (mit) entscheidende Pflichtverletzung gesehen hat, spricht auch, dass der erste Verweis diesen Aspekt noch nicht enthalten hat und gleichwohl ergangen ist.
19
Anders als die Klägerin meint, lässt das Aufsuchen des Sekretariats die Rechtmäßigkeit des Verweises wegen unerlaubten Fernbleibens vom Unterricht auch nicht entfallen. Obwohl die Klägerin hierzu nach Art. 56 Abs. 4 Satz 3 BayEUG verpflichtet gewesen wäre, hat sie es unterlassen, den Englischunterricht unverzüglich aufzusuchen, nachdem sie des Sekretariats verwiesen worden war. Stattdessen hat sie es vorgezogen, zum Büro der abwesenden Sozialpädagogin trotz des an der Tür vorhandenen Schildes zurückzukehren und dort bis zur nächsten Unterrichtsstunde zu warten.
20
c) Entgegen der Auffassung der Klägerin war das längere Zuwarten vor dem Büro der Sozialpädagogin auch nicht von der Erlaubnis der Englischlehrerin gedeckt, den Unterricht für das Gespräch mit dieser zu verlassen. Das Verwaltungsgericht legt dies ausführlich und überzeugend dar. Mit dem Einwand im Zulassungsverfahren, die Klägerin sei der Auffassung gewesen, die Sozialpädagogin werde in Kürze zurückkehren, weshalb das Warten von der Erlaubnis umfasst gewesen sei, hat sich das Verwaltungsgericht beschäftigt. Dessen diesbezügliche Begründung wird durch den klägerischen Vortrag im Zulassungsverfahren nicht ernstlich in Frage gestellt. Es liegt auf der Hand und hätte der Klägerin als Schülerin einer 7. Jahrgangsstufe – auch ohne entsprechenden vorausgegangenen Hinweis der Lehrkraft – bewusst sein müssen, dass die Erwartung eines baldigen Erscheinens der Sozialpädagogin kein Warten bis zum Ende der Englischstunde rechtfertigt, sondern der Unterricht jedenfalls nach wenigen Minuten und nicht erst am Ende der Englischstunde wieder zu besuchen war. Dies gilt jedenfalls dann, wenn – wie hier – für eine zeitnahe Rückkehr von Frau S. keine konkreten Anhaltspunkte gegeben waren. Das mit dem Aufsuchen des Unterrichts verbundene „Stören“ ist unvermeidlich und rechtfertigt entgegen der Ansicht der Klägerin kein Fernbleiben von diesem.
21
Nach alledem war der Antrag auf Zulassung der Berufung abzulehnen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 3 und § 52 Abs. 2 GKG und entspricht der Streitwertfestsetzung im erstinstanzlichen Verfahren.
22
Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).