Inhalt

VGH München, Urteil v. 11.07.2024 – 24 B 24.50010
Titel:

Fehlende Wiederaufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates Italien nach der Dublin III-VO 

Normenketten:
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 S. 2, Art. 7 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1, Art. 22 Abs. 7, Art. 27 Abs. 3, Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2 S. 1
AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Die vielfache Weigerung der Republik Italien, sog. Dublin-Rückkehrer (wieder) aufzunehmen, verletzt diese nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh und steht damit für sich genommenen einer Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG nicht entgegen. Die Bundesrepublik Deutschland ist nicht verpflichtet, wegen dieser Weigerung von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen. (Rn. 31 – 38)
2. Soweit sog. Dublin-Rückkehrer von Italien ausnahmsweise (wieder) aufgenommen werden, sind sie nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO mit systemischen Schwachstellen konfrontiert, da für sie keine Gefahren einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, wie sie Art. 4 GRCh verbietet, zu erwarten sind. (Rn. 22 – 26)
3. Die Anordnung einer Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt voraus, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit tatsächlich zeitnah durchgeführt werden kann. Die Rundschreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 und die seit gut 1,5 Jahren bestehende Praxis, keine sog. Dublin-Rückkehrer wieder aufzunehmen, lässt eine entsprechende positive Prognose nicht zu. (Rn. 43 – 48)
Schlagworte:
Asylrecht (Dublin-Verfahren), Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren, illegale Einreise über Italien, Unzulässigkeitsentscheidung, Selbsteintrittsrecht, fehlende Wiederaufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates, Rücküberstellung nach Italien, Dublin-Verfahren, Republik Italien, systemische Schwachstellen, Dublin-Rückkehrer, Aufnahmeersuchen
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 04.12.2023 – RO 15 K 23.50737
Fundstellen:
ZAR 2025, 101
LSK 2024, 28754
BeckRS 2024, 28754

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten hin wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 4. Dezember 2023 – RO 15 K 23.50737 – in seinen Nummern II und III aufgehoben und in seiner Nummer I dahingehend abgeändert, dass der Bescheid der Beklagten vom 16. Oktober 2023 in seinen Nummern 3 und 4 aufgehoben wird. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Klägerin hat 2/3 und die Beklagte 1/3 der Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ihren Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihre Abschiebung in die Italienische Republik (nachfolgend: Italien) angeordnet hat.
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Die 1981 geborene Klägerin ist syrische Staatsangehörige, seit 2021 verwitwet und Mutter eines 2020 geborenen Sohnes, der Kläger im Verfahren 24 B 24.50011 ist. Sie reiste zusammen mit ihrem Sohn im Mai 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 22. Mai 2023 ein Asylgesuch für sich und ihren Sohn, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung am selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 24. Juli 2023 stellte sie einen förmlichen Asylantrag. Das Bundesamt stellte im Rahmen der Abfrage vom 22. Mai 2023 für die Klägerin einen EURODAC-Treffer der Kategorie 2 vom 11. April 2023 für Italien fest. Auf das am 12. Juli 2023 an Italien gerichtete Übernahmeersuchen erfolgte keine Antwort der italienischen Behörden.
3
Im Rahmen ihrer Anhörung gab sie im Wesentlichen an, sie habe Syrien im Jahr 2012 verlassen und fünf Jahre im Libanon gelebt. Dort habe sie ihren zweiten Ehemann, einen libanesischen Staatsangehörigen, kennengelernt. Danach sei sie zwischen Syrien und Libanon gependelt, habe Syrien im Jahr 2018 endgültig verlassen und sodann zwei Jahre mit ihrem Ehemann auf Haiti gelebt. Nachdem dieser dort getötet worden sei, sei sie mit ihrem Sohn für ca. 1,5 Jahre in den Libanon zurückgekehrt. Anschließend habe sie einen Monat in Libyen verbracht, sei von dort aus nach Italien gereist und nach vier oder fünf Tagen nach Deutschland weitergereist. Ihr Sohn solle in Deutschland zur Schule gehen und studieren. Verwandte hätten sie und ihr Sohn in Deutschland keine.
4
Mit Bescheid vom 16. Oktober 2023 lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3); das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig, da Italien auf Grund der illegalen Einreise über seine Außengrenze gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei.
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Der hiergegen gestellte Eilantrag und die hiergegen erhobene Klage hatten jeweils Erfolg. Mit Beschluss vom 30. Oktober 2023 (Az.: RO 15 S 23.50736) ordnete das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung (Nr. 3) an. Mit Urteil vom 4. Dezember 2023 hob das Verwaltungsgericht Regensburg den Bescheid vom 16. Oktober 2023 im schriftlichen Verfahren auf. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei zu Unrecht erfolgt. Zwar sei Italien grundsätzlich der zuständige Staat i.S.d. § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG. Jedoch sei aufgrund der Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 und der tatsächlichen Weigerung Italiens, Dublin-Rückkehrer aufzunehmen, davon auszugehen, dass das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufwiesen, da die italienischen Behörden Dublin-Rückkehrern damit den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigerten. Indem sich die italienischen Behörden weigerten, Schutzsuchende im Rahmen des Dublin-Systems wiederaufzunehmen, machten sie diese zum Objekt politischer Interessen, worin auch eine individuelle Rechtsverletzung im Sinne von Art. 4 GRCh liege. Selbst wenn man das Vorliegen systemischer Schwachstellen verneine, sei die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin jedenfalls gemäß Art. 17 Dublin III-VO auf die Beklagte übergangen. Sie sei zur Vermeidung weiterer unzumutbarer, dem Beschleunigungsprinzip und der Effektivität des Europäischen Asylsystems zuwiderlaufender Verzögerungen verpflichtet, ohne Ermessensspielraum sofort von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.
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Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Senat zugelassenen Berufung und macht im Wesentlichen geltend, die derzeitige Rückübernahmeverweigerung Italiens reiche für einen Zuständigkeitsübergang auf Deutschland nicht aus. Vielmehr müsse geprüft werden, ob den Ausländern bei einer theoretischen Rückkehr unmenschliche Lebensbedingungen drohen würden. Das sei nicht der Fall, denn das italienische Aufnahmesystem sei ausreichend. Auch eine Verpflichtung zum Selbsteintritt der Bundesrepublik bestehe nicht.
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Die Beklagte beantragt,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 4. Dezember 2023 – RO 15 K 23.50737 – abzuändern und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Auch den Asylantrag des Sohnes der Klägerin hat das Bundesamt mit Bescheid vom 17. Oktober 2023 abgelehnt, die daraufhin erhobene Klage hatte Erfolg (VG Regensburg, U.v. 4.12.2023 – RO 15 K 23.50739); die hiergegen vom Senat zugelassene Berufung wird unter dem Aktenzeichen 24 B 24.50011 geführt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung, die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist teilweise begründet. Die Nummern 1 und 2 des Bescheids vom 16. Oktober 2023 sind in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Asylantrag der Klägerin ist zu Recht als unzulässig abgelehnt worden (I.). Auch Abschiebungsverbote hinsichtlich Italiens bestehen nicht (II.). Jedoch ist die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids (III.) und infolgedessen auch das in Nummer 4 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig (IV.). Folglich war die Berufung insoweit zurückzuweisen.
I.
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Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG abgelehnt. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl Nr. L 180 vom 29.6.2013, S. 31) – Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Dies ist aufgrund der originären Zuständigkeit Italiens der Fall. Sie ist auch nicht aus anderen Gründen auf die Beklagte übergegangen.
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1. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat zu prüfen sind. Nach Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO bestimmt sich der zuständige Mitgliedstaat nach den Kriterien der Art. 8 bis 15 Dublin III-VO in der dort genannten Rangfolge. Dabei ist gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Lässt sich anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedsstaat nicht bestimmen, ist gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat zuständig, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde.
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2. Aufgrund der illegalen Einreise der Klägerin aus einem Drittstaat nach Italien ist gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO Italien der für die Prüfung ihres Asylantrags zuständige Mitgliedstaat.
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Die Zuständigkeit Italiens ist insbesondere nicht nach Maßgabe von Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Die Beklagte hat fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. b i.V.m. Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO gemäß Art. 21 Abs. 1 UAbs. 2 Dublin III-VO ein Aufnahmeersuchen gestellt. Da Italien hierauf keine Antwort erteilt hat, ist nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO davon auszugehen, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wurde und Italien verpflichtet ist, die Klägerin aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Die Aufnahmeverpflichtung ist auch nicht wegen des Ablaufs der Überstellungsfrist in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO erloschen und deshalb die Beklagte zuständig geworden, denn die Frist ist vorliegend noch nicht angelaufen. Die Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO erst mit Rechtkraft der vorliegenden Entscheidung des Senats, weil die Klage aufgrund des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 30. Oktober 2023 aufschiebende Wirkung hat.
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3. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist die Zuständigkeit nicht nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO von Italien auf die Beklagte übergegangen.
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a) Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO ist der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, wenn es sich als unmöglich erweist, den Asylantragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaats zu überstellen und – wie hier – auch kein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags der Klägerin zuständig ist. Dies setzt voraus, dass wesentliche Gründe für die Annahme vorliegen, dass – erstens – das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die – zweitens – eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh mit sich bringen. Nur bei kumulativem Vorliegen beider Voraussetzungen ist eine Überstellung unmöglich (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 57).
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Es ist anerkannt, dass im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-Verordnung die Vermutung gilt, dass die Behandlung der Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Konvention und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten steht (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 43 ff.). Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Deshalb kann insbesondere nur bei außergewöhnlichen Umständen, deren Vorliegen grundsätzlich der Betroffene ausreichend substantiiert vortragen muss (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 6 ff.; s.a. für den Fall der bereits erfolgten Schutzgewährung durch einen Mitgliedstaat BayVGH, U.v. 28.3.2024 – 24 B 22.31136 – juris Rn. 23 ff.), die Gefahr einer Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh prognostiziert werden. Entscheidend für die Prognose ist insbesondere die zu erwartende Rückkehrsituation in wirtschaftlicher oder karitativer Hinsicht.
21
Die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung, wie sie Art. 4 GRCh verbietet, bringen systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nur dann mit sich, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese ist (erst) dann erreicht, wenn im zuständigen Mitgliedstaat die Behörden gegenüber Rückkehrern derart gleichgültig sind, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Bett, Brot und Seife“), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 29.2.2024 – C-392/22 – juris Rn. 63 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f m.w.N.; s.a. BVerwG, B.v. 13.11.2023 – 1 B 40.23 – juris Rn. 10).
22
b) Hieran gemessen, führt der Umstand, dass Italien seit längerem keine Rücküberstellungen im Dublin-Verfahren – Familienzusammenführungen und unbegleitete Minderjährige ausgenommen – mehr zulässt (vgl. die Schreiben vom 5. und 7.12.2022 des Ministero dell’Interno an die Dublin-Units der anderen Mitgliedsstaaten) nicht zu einer Zuständigkeit der Beklagten nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO. Denn hierdurch werden die Antragsteller nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 4 GRCh verletzt.
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Inwiefern aus diesen beiden Schreiben der italienischen Behörden das Eingeständnis systemischer Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO abzuleiten ist (bejahend: VG Gelsenkirchen, U.v. 12.4.2024 – 1a K 4942/22.A – juris Rn. 58, OVG NW, B.v. 13.6.2023 – 11 A 3513/20.A – juris Rn. 51 ff; VG Arnsberg, U.v. 24.1.2023 – 2 K 2991/22.A – juris Rn. 47; verneinend: OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 4/23 – juris Rn. 46 ff.; VG Berlin, U.v. 29.5.2024 – VG 9 K 668/23A, VG München U.v. 20.12.2023 – M 19 K 23.50253), kann in diesem Zusammenhang dahinstehen. Denn selbst wenn man dies bejahen wollte, fehlte es jedenfalls an einer hinreichend konkreten Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GRCh durch die verweigerte (Wieder-)Aufnahme. Die in Teilen der Rechtsprechung in diesem Zusammenhang vertretene Auffassung, die systematische Ablehnung der (Wieder-)Aufnahme von Asylantragstellern durch die italienischen Behörden führe zu deren unzulässiger Objektivierung und Instrumentalisierung (so auch UA S. 10 des angefochtenen Urteils: „Spielball“ bzw. „Objekt politischer Interessen“) und sei daher als Verletzung der Rechte aus Art. 4 GRCh anzusehen, verkennt dessen Schutzgehalt.
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Der Schutzgehalt des Art. 4 GRCh ergibt sich maßgeblich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh i.V.m. Absatz 5 Satz 1 der Präambel der GRCh). Abgesehen davon, dass ein Unterlassen nicht ohne Weiteres von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK erfasst wird, ist zentrale Verbindungslinie aller in diesen Vorschriften beschriebenen und untersagten Handlungen die Zufügung – mehr oder weniger ausgeprägter – physischer oder psychischer Leiden oder Schmerzen (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 4 Rn. 7 m.w.N.; ausführlich Bank in Dörr/Grothe/Marauhn, EMRK/GG, 3. Aufl. 2022, Kap. 11 Rn. 21 ff.). Hieran fehlt es schon deshalb, weil die Betroffenen in dem jeweils anderen Mitgliedstaat – hier die Bundesrepublik – nach den Grundsätzen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems materiell versorgt werden; auch in anderer Hinsicht wird ihnen dort kein Leid zugefügt.
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Der aus der verweigerten Rückübernahme – vorübergehend – folgende Zustand der Ungewissheit darüber, welcher Staat letztendlich das Asylverfahren durchführen wird, ist grundrechtlich ebenfalls kein Fall des Art. 4 GRCh. Hierfür mag das Asylrecht des Art. 18 GRCh zutreffender Anknüpfungspunkt sein können (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 18 Rn. 14), welcher aber in Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nicht genannt ist. Dies steht im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Dublin III-Verordnung, nämlich in einem einheitlichen Verfahren zeitnah den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat zu ermitteln und das Verfahren dort durchzuführen (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2023 – 24 ZB 23.50020 – juris Rn. 11 ff.). Denn durch die vorgesehenen Überstellungsfristen werden die Rechte der Betroffenen, baldmöglichst Klarheit über die Zuständigkeit und damit die Durchführung ihres Asylverfahrens zu haben, gesichert: Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO bestimmt, dass die Überstellung spätestens sechs Monate nach Annahme des Aufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, welcher aufschiebende Wirkung hat, erfolgen muss; wird die Überstellung nicht innerhalb dieser Frist durchgeführt, geht die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf den ersuchenden Staat über (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO). Damit ist ein Schwebezustand, selbst nachdem bestandskräftig feststeht, welcher Staat für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig ist, dem Grunde nach in der Dublin III-Verordnung angelegt, wobei der Verordnungsgeber eine Ungewissheit darüber, ob die Überstellung in den für zuständig erkannten Staat gelingt und damit das Verfahren dann dort auch tatsächlich durchgeführt wird, für die Dauer von höchstens sechs Monaten offensichtlich für zumutbar erachtet.
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Vor diesem Hintergrund ist die nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO erforderliche Verletzung von Art. 4 GRCh nicht schon deshalb zu bejahen, wenn der zuständige Mitgliedstaat die Aufnahme der betreffenden Personen von vorneherein ablehnt. Vielmehr muss sich das Tatsachengericht eine Überzeugung über die Lebensumstände, die die Klägerin in Italien im Falle einer Überstellung erwarten würden, darunter auch die Zustände in den italienischen Aufnahmeeinrichtungen, bilden (so ausdrücklich BVerwG, B.v. 13.11.2023 – 1 B 40.23 – juris Rn. 10 und 15).
27
c) Der Klägerin droht zur Überzeugung des Senats (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall ihrer Überstellung nach Italien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh. Nach Auswertung der Erkenntnismittel und der Situation für in Italien befindliche Asylantragsteller ist davon auszugehen, dass die Klägerin in Italien weder während des Asylverfahrens noch auf absehbare Zeit nach einer etwaigen Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, in der sie ihre elementarsten Bedürfnisse nicht wird befriedigen können.
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Nachdem die Klägerin vorliegend in Italien bisher keinen Asylantrag gestellt hatte, verweist der Senat hinsichtlich der Beurteilung der Situation für Dublin-Rückkehrer zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf seine vorangegangene Entscheidung (BayVGH, U.v. 15.12.2022 – 24 B 22.50020 – juris).
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An dieser Bewertung hat sich auch nach Auswertung der neueren Erkenntnismittel nichts geändert, insbesondere sind ihnen keine Anhaltspunkte zu entnehmen, dass aktuell im laufenden Asylverfahren Obdachlosigkeit oder existenzielle Armut zu befürchten wären. Grundsätzlich kann ein Asylantrag direkt gegenüber der Einwanderungsbehörde bzw. bei der Polizei (questura) gestellt werden, wofür bereits ein mündlicher Antrag ausreicht; der Antragsteller wird identifiziert und registriert (fotosegnalamento) und erhält eine weitere Vorladung (invito) um seinen förmlichen Antrag (verbalizzazione bzw. formalizzazione) zu stellen; die EUAA unterstützt seit 2017 die Quästuren hierbei (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Stand Mai 2023, S. 50f.). Auch wenn es vereinzelte Berichte gibt, dass Asylsuchenden eine Antragstellung verwehrt wurde, so scheint dies v.a. die sog. Hotspots – die Anlandungsstellen der Bootsflüchtlinge im Süden Italiens – zu betreffen (AIDA, a.a.O., S. 51), und dürfte gerade für Rückkehrer im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen nicht relevant sein. Den Erkenntnismitteln ist für Dublin-Rückkehrer folgendes Prozedere zu entnehmen: Wenn – wie hier – noch kein Asylantrag gestellt worden ist, werden die Rückkehrer direkt in der Provinz des Ankunftflughafens untergebracht; wenn Italien durch Fristablauf einer Rücküberstellung zustimmt, landen Rückkehrer üblicherweise auf den Flughäfen Rom und Mailand, wo ihnen von der Polizei eine Einladung (verbale di invito) ausgehändigt wird, der zu entnehmen ist, welche Quästur für ihr Asylverfahren zuständig ist (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 27.7.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 4). Die Unterbringung erfolgt bei Dublin-Rücküberstellungen unmittelbar und zwar zunächst im Rahmen der vom italienischen Innenministerium eingerichteten und koordinierten, aber dezentral zusammen mit Gemeinden und Nichtregierungsorganisationen betriebenen Erstaufnahmeeinrichtungen CAS (Centro Accoglienza Straordinaria) oder CPA (Centro di Prima Accoglienza), sowie unter Umständen in den Zweitaufnahmeeinrichtungen des SAI-Systems (Sistema di accoglienza e integrazione); insbesondere vulnerable Personen können direkt nach Verfügbarkeit einen Unterkunftsplatz in einer SAI-Einrichtung erhalten. Grundsätzlich kann allen anspruchsberechtigten Personen ein Unterkunftsplatz in einer Erst- oder Zweitaufnahmeeinrichtung angeboten werden (vgl. zum Ganzen: BAMF, Auskunft an OVG SH vom 4.12.23, S. 3). Asylbewerber dürfen zwei Monate nach ihrer Antragstellung legal arbeiten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, a.a.O., S. 9).
30
Vorliegend ist zudem zu beachten, dass die Klägerin zusammen mit ihrem vierjährigen Sohn zurückkehren wird. Hinsichtlich der Situation für anerkannt Schutzberechtigte, insbesondere für eine alleinerziehende Mutter mit kleinem Kind, verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen ebenfalls auf seine aktuelle Rechtsprechung (BayVGH, U.v. 21.3.2024 – 24 B 23.30860 – juris).
31
4. Die Beklagte ist entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts auch nicht nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig geworden. Ungeachtet der Frage, ob bzw. unter welchen Umständen die Beklagte zum Selbsteintritt verpflichtet sein kann (dazu siehe unten Rn. 35 ff.), ist die Zuständigkeit mangels einer Erklärung des Selbsteintritts durch die Beklagte nicht auf diese übergegangen.
32
a) Das Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ermöglicht jedem Mitgliedstaat, einen bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen. Auf diese Weise sollen die Mitgliedstaaten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den in der Verordnung festgelegten Zuständigkeitskriterien abweichen können (17. Erwägungsgrund zur Dublin III-VO). Der EuGH geht davon aus, dass jeder Dublin-Staat sehr frei ist, gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO den Selbsteintritt zu erklären, und dies aus solidarischen, politischen, humanitären oder praktischen Gesichtspunkten erfolgen kann (EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – juris Rn. 53).
33
b) Der Übergang der Zuständigkeit gemäß Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO setzt nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO einen Beschluss des Mitgliedsstaats voraus, einen beim ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz selbst zu prüfen. Eine solche Entscheidung des Mitgliedstaats ist zwar nicht formgebunden und muss auch nicht ausdrücklich ergehen (vgl. EuGH, U.v. 4.10.2018 – C-56/17 – juris Rn. 51 zu Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO; das dürfte auf Art. 17 Dublin III-VO übertragbar sein; s.a. Vollrath in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.7.2024, Art. 17 Dublin III-VO Rn. 2). Notwendig ist aber zumindest ein konkludentes Verhalten, das als eine solche Entscheidung ausgelegt werden kann. Maßgeblich ist insoweit das Verhalten der nach nationalem Recht zuständigen Behörde.
34
In der Bundesrepublik Deutschland ist die zuständige Behörde das Bundesamt. Dies ist zwar nicht ausdrücklich geregelt, ist aber Folge des in § 5 AsylG zum Ausdruck kommenden umfassenden Entscheidungsmonopols des Bundesamts für Asylanträge (vgl. hierzu Pelzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht § 5 AsylG Rn. 5 ff.; s.a. VG Düsseldorf, B. v. 29.5.2017 – 12 L 1477/17 – juris Rn. 17; Barden in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, Rn. 452; zur „Gesamtzuständigkeit“ des Bundesamts im Dublin-Verfahren HessVGH, B.v. 4.9.2023 – 3 D 1144/23 – juris Rn. 10). Vorliegend ist nicht ersichtlich, dass das Bundesamt ausdrücklich oder auch nur konkludent eine Entscheidung zum Selbsteintritt getroffen hat.
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5. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil das Bundesamt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 Dublin III-VO verpflichtet und deshalb am Erlass bzw. an der Aufrechterhaltung einer hiermit unvereinbaren Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG gehindert wäre.
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a) Ungeachtet der Frage, ob sich ein Anspruch der Klägerin auf einen Selbsteintritt mit Blick auf den Zweck des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO und das dort eingeräumte weite Ermessen (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a., juris Rn. 146) überhaupt unmittelbar aus dieser Norm oder erst im Zusammenwirken mit entsprechenden Handlungspflichten der Mitgliedstaaten auf Basis ihrer nationalen Rechtsordnungen ergeben kann (vgl. EuGH, U.v. 16.2.2023 – C-745/21 – juris Rn. 54), würde ein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Selbsteintritt das Vorliegen besonders gravierender und atypischer Umstände des Einzelfalls voraussetzen, die sich überhaupt erst zu einem Anspruch verdichten könnten.
37
Dass ein solcher Anspruch nur in ganz speziellen Ausnahmefällen in Betracht kommen kann, verdeutlicht nicht nur Erwägungsgrund 17 zur Dublin III-Verordnung, der zwar Härtefälle als Grund für eine Eintrittsmöglichkeit beschreibt, aber selbst hierfür keine Pflicht zum Selbsteintritt erkennen lässt. Auch nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis, die durch die Ermessensklausel in Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung eingeräumt wird, Gebrauch machen möchte (EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 59). Die Bandbreite der insoweit zulässigen Gründe ist groß: Neben politischen, humanitären oder auch praktischen Erwägungen (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a., juris Rn. 146; EuGH, U.v. 16.2.2023 – C-745/21 – juris Rn. 50; EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 58) kann auch eine Überlastung des Asylsystems aufgrund von Massenfluchtsituationen in einem Mitgliedstaat Grund für einen Selbsteintritt anderer Mitgliedstaaten sein (vgl. EuGH, U.v. 26.7.2017 – C-646/16 – juris Rn. 100; Hruschka in Dörig/Hocks, Münchener Anwaltshandbuch Migrations- und Integrationsrecht, 3. Aufl. 2024, § 18 Rn. 183, 186). Spiegelbildlich zum sehr weiten Ermessen kann daher dessen Verdichtung auf nur eine einzige Entscheidungsmöglichkeit hin – den Selbsteintritt – allenfalls nur unter außergewöhnlichen und schwerwiegenden Umständen eintreten. Dieser Wertung entspricht es wiederum, wenn der Gerichtshof annimmt, dass (bloße) Erwägungen des Kindeswohls einen Mitgliedstaat nicht dazu verpflichten können, von dieser Befugnis zum Selbsteintritt Gebrauch zu machen und einen Antrag, für den er nicht zuständig ist, selbst zu prüfen (EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 71).
38
b) Derartige besondere und atypische Umstände sind vorliegend für die Klägerin nicht ersichtlich und wurden auch nicht vorgetragen. Ihre Situation ist letztlich typische Folge der Anwendung der bestehenden Vorschriften der Dublin III-Verordnung und weist keine Besonderheiten auf. Es ist bereits nicht erkennbar, dass noch vor dem Anlaufen oder Ablaufen der Überstellungsfristen eine Verletzung von Rechten der Klägerin zu befürchten wäre, die in ihrer Gesamtgewichtung ein Anknüpfungspunkt für eine Selbsteintrittspflicht sein könnten. Insbesondere stellt die Verweigerung der Aufnahme der Klägerin durch Italien keine Verletzung des Art. 4 GRCh dar (vgl. oben Rn. 25 f.). Darüber hinaus ist gerade nicht erkennbar, dass eine – hier ohnehin nicht vorliegende – Verletzung von Rechten der Klägerin allein durch eine Durchführung des Asylverfahrens im Bundesgebiet vermieden werden könnte. Dies wäre aber ebenfalls eine notwendige Voraussetzung, um in Betracht ziehen zu können, dass die Beklagte zur Ausübung des Selbsteintritts (und nicht eines anderen Mittels, etwa lediglich das Unterlassen einer Überstellung) verpflichtet sein könnte (vgl. Kabis in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 29 AsylG Rn. 12). Insgesamt sind im vorliegenden Fall keine Umstände erkennbar, die es der Klägerin unzumutbar machen würden, den Ablauf der Überstellungsfrist abzuwarten.
II.
39
Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen ebenso wenig wie ein individuelles Überstellungsverbot nach Art. 4 GRCh, das ungeachtet des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO zu prüfen ist (vgl. EuGH Urt. v. 30.11.2023 – C-254/21 – Rn. 138; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 – Rn. 90 ff.).
40
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift erfasst Abschiebungsverbote, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen, soweit sie ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Mit Blick auf den Zweck der Konvention (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8) kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot meist nur die Gefahr der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten der konkreten Klagepartei im Falle seiner Rückkehr auswirken werden (vgl. näher BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 46 ff. und BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 41 ff.).
41
Vorliegend ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass besondere individuelle Umstände vorliegen, die in ihrem konkreten Fall dazu führen, dass im Falle ihrer Rückkehr nach Italien eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint und die Feststellung eines Abschiebungshindernisses erfordert.
42
2. Umstände, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG möglich erscheinen ließen, sind weder dargelegt noch ersichtlich.
III.
43
Die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids ist rechtswidrig, weil nicht feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Sie verletzt daher die Klägerin in ihren Rechten und wurde insoweit vom Verwaltungsgericht zu Recht aufgehoben. Die Berufung ist diesbezüglich zurückzuweisen.
44
Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
45
1. Es steht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, wenn sie rechtlich zulässig und auch mit großer Wahrscheinlichkeit zeitnah tatsächlich möglich ist (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 26.1.2021 – 1 C 52.20 – juris Rn. 18; OVG Hamburg, B.v. 3.12.2010 – 4 Bs 223/10 – juris Rn. 10; VG Würzburg, B.v. 5.6.2024 – W 6 S 24.50178 – juris Rn. 24; VG Regensburg, B.v. 19.9.2023 – RO 13 S 23.50675 – juris Rn. 18; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 34a AsylG Rn. 3; Müller in Hofmann, Ausländerrecht, § 34a AsylG Rn. 23).
46
a) Die tatsächliche Möglichkeit setzt u.a. die Aufnahmebereitschaft des zuständigen Mitgliedstaates (hier: Italien) voraus. Von der Aufnahmebereitschaft ist nicht nur im Falle einer ausdrücklichen Erklärung des zuständigen Mitgliedstaates im Einzelfall auszugehen, sondern regelmäßig auch dann, wenn der Zielstaat auf Grundlage entsprechender unionsrechtlicher Regelungen – hier der Dublin III-Verordnung sowie wegen des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens – zur Aufnahme verpflichtet ist (vgl. NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; s.a. Faßbender in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht § 34a AsylG Rn. 15). Dies ist hier wegen der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO der Fall.
47
b) Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist jedoch dann nicht zulässig, wenn Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen.
48
Vorliegend bestehen erhebliche konkrete Zweifel an der Aufnahmebereitschaft Italiens und damit an der tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit der Klägerin dorthin. Diese ergeben sich aus dem Gesamtbild, welches sich in den nach den Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 durchgeführten strikten Nichtaufnahmepraxis Italiens seit gut 1,5 Jahren beobachten lässt. Die sehr niedrigen Rückführungszahlen (vgl. hierzu die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 20/5868, Antwort auf Fragen 2, 4 und 19) erschüttern in Zusammenschau mit der in den Schreiben geäußerten Willenserklärung das grundsätzliche Vertrauen in die tatsächliche Aufnahmebereitschaft Italiens. Eine einzelfallbezogene Aufnahmeerklärung für die Klägerin liegt nicht vor. Folglich steht die tatsächliche Möglichkeit der Durchführung der Abschiebung nicht hinreichend sicher fest (ebenso NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – 9 K 61/23 A – juris Rn. 19 ff; VG Magdeburg, U.v. 9.4.2024 – 7 A 26/24 – juris Rn. 26 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 20.3.2024 – 22 L 497/24.A – juris Rn. 120 ff.; VG Hamburg, U.v. 19.2.2024 – 9 A 4685/22 – juris UA S. 34 ff.; anders OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 3/23 – juris Rn. 123).
IV.
49
Infolgedessen erweist sich auch die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG als rechtswidrig.
V.
50
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
51
Die Revision wird nicht zugelassen, da keine Gründe des § 132 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 VwGO vorliegen. Da der Senat hinsichtlich der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien für Dublin-Rückkehrer nicht von der aktuellen Beurteilung durch andere Oberverwaltungsgerichte abweicht, ist auch kein Raum für eine Zulassung nach § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG.