Titel:
Gleitender oder differenzierter Wahrscheinlichkeitsmaßstab hinsichtlich einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 9, Nr. 10
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2
Leitsatz:
Bei dem sog. gleitenden oder differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist nicht allein auf das Strafurteil und die ihm zugrundeliegende Straftat abzustellen, sondern die Gesamtpersönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in den Blick zu nehmen; zu den danach zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört auch die Gefahr der Begehung von anderweitigen, nicht mit dem begangenen Delikt vergleichbaren Straftaten (BVerwG BeckRS 2023, 5404). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Einmalige strafrechtliche Verurteilung, Versuchte Körperverletzung und Bedrohung, Bagatellgrenze, Generalprävention, einmalige strafrechtliche Verurteilung, einmaliges Fehlverhalten, einmalige Sondersituation, gleitender oder differenzierter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 24.04.2023 – AN 5 K 23.323
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28743
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird für das Zulassungsverfahren auf 5.000,00 EUR festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Prozesskostenhilfebewilligung und Anwaltsbeiordnung für das Zulassungsverfahren wird abgelehnt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine erstinstanzlich erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid des Beklagten vom 16. Januar 2023 weiterverfolgt (mit dem der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde – Ziffer 1, gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet wurde – Ziffer 2 – und dieses auf die Dauer von drei Jahren befristet wurde – Ziffer 3), bleibt ohne Erfolg.
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1. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; nachfolgend 1.1) und der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO; nachfolgend 1.2), deren Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 12), sodass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 – 10 ZB 15.1804 – juris Rn. 7), liegen nicht vor oder sind nicht hinreichend dargelegt.
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1.1 Die Berufung ist nicht aufgrund ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn im Zulassungsverfahren ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt worden wäre (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
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1.1.1 Soweit der Kläger vorträgt, er stelle keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar, weil mit Ausnahme des Strafbefehls, den der Beklagte seiner Entscheidung zugrunde lege, keine Verurteilungen gegen ihn bekannt seien, vermag er die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Gefahrenprognose des Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid konkret durch das Verhalten des Klägers getragen werde, nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen.
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Die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG erfordert eine Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der aufgeführten Schutzgüter eintreten wird (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 23). Insoweit gilt ein differenzierter, mit zunehmendem Ausmaß des zu erwartenden Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit (sog. gleitender oder differenzierter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, stRspr., BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 15 f. m.w.N.; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Dabei ist nicht allein auf das Strafurteil und die ihm zugrundeliegende Straftat abzustellen, sondern die Gesamtpersönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in den Blick zu nehmen; zu den danach zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehört auch die Gefahr der Begehung von anderweitigen, nicht mit dem begangenen Delikt vergleichbaren Straftaten (BVerwG, B.v. 21.2.2023 – 1 B 76.22 – juris Rn. 7, 11; U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 12).
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Gemessen an diesen Grundsätzen hat das Verwaltungsgericht (im angefochtenen Urteil unter Verweis auf seinen ablehnenden Beschluss im Prozesskostenhilfeverfahren) zu Recht eine konkrete Wiederholungsgefahr aufgrund des Verhaltens des (rechtskräftig zu einer Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen wegen Nötigung in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung verurteilten) Klägers angenommen. Soweit der Kläger dem gegenüber seine Sichtweise darstellt, wie es zu dem Vorfall gekommen sei, und erklärt, dass ihm diese Auseinandersetzung mit dem Hausmeister der Gemeinschaftsunterkunft sehr leidtue, dass die besondere Situation in der Gemeinschaftsunterkunft zu berücksichtigen sei und dass er mittlerweile von dort in eine eigene Wohnung gezogen sei, arbeiten und ein normales Leben führen wolle, wiederholt er lediglich sein erstinstanzliches Vorbringen, setzt sich aber nicht mit der Begründung des angefochtenen Urteils auseinander. Das Verwaltungsgericht begründet seine Annahme insbesondere mit der Verurteilung des Klägers wegen gefährlicher Körperverletzung (wobei er das Opfer gewürgt habe) und damit der Schwere der Straftat sowie mit der Bedeutung des betroffenen Schutzgutes der körperlichen Unversehrtheit.
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Letztlich will der Kläger mit seinem Vortrag darauf hinaus, dass es sich bei dem Vorfall um eine einmalige Sondersituation gehandelt habe, der keine Gefahr eines erneuten Schadens an einem geschützten Rechtsgut innewohne. Damit kann er jedoch nicht durchdringen. Der Anlass der Tat war ein Streit des Klägers mit dem Hausmeister der Gemeinschaftsunterkunft um ein Möbelstück, welches der Hausmeister zur Abholung durch die Sperrmüllabfuhr bereitgestellt hatte und das der Kläger – der das Möbelstück für sich reklamierte – anschließend wieder in sein Zimmer verbracht hatte. Der Tat lag folglich ein Streit zugrunde, wie er sich alltäglich wiederholen kann, und in dem keine Berechtigung des Klägers zum Einsatz körperlicher Gewalt und Todesdrohungen zu erkennen ist. Es handelte sich um einen vergleichsweise geringfügigen Anlass, auf den der Kläger mit extremer Gewaltbereitschaft reagiert hat. Dabei handelt es sich um tatsächliche Anhaltspunkte, die sehr wohl die Annahme rechtfertigen, dass es auch künftig bei vergleichbar geringfügigen Anlässen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu Schäden an den genannten Rechtsgütern durch das Verhalten des Klägers kommen kann. Auch wenn der Kläger lediglich wegen versuchter Körperverletzung verurteilt wurde, stellte seine Tat einen Angriff auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Opfers dar, mithin auf Rechtsgüter, die in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einen hohen Rang einnehmen. Die brutale Vorgehensweise des Klägers (er hatte den Hausmeister im Verlauf der Auseinandersetzung am Hals gepackt und gewürgt) und seine Bedrohung des Opfers mit dem Tod aus einem geringfügigen Anlass deuten zudem auf eine geringe Hemmschwelle des Klägers gegenüber dem Einsatz heftiger körperlicher Gewalt sowie gegenüber Bedrohungen anderer Menschen mit dem Tod und damit auf seine Gewaltbereitschaft und seine Geringschätzung der körperlichen Unversehrtheit bzw. des Lebens anderer Menschen hin. Gemessen an dem Gewicht der Rechtsgutsverletzungen durch den Kläger und den konkreten Tatumständen kann mit dem Verwaltungsgericht auch bei einer einmaligen Verfehlung von einer konkreten Wiederholungsgefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG ausgegangen werden. Es handelte sich nach den konkreten Umständen nicht um eine Sondersituation und damit um ein außergewöhnliches Singularereignis (vgl. dazu BVerfG, B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 27).
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1.1.2 Des Weiteren hat bereits das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass selbst dann, wenn man (mit dem Kläger) davon ausgehe, dass es sich bei der Anlasstat um ein einmaliges Fehlverhalten des Klägers gehandelt habe, weil dieser nur dieses eine Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten sei, eine emotional angespannte Situation aufgrund der Lebensverhältnisse in einer Gemeinschaftsunterkunft vorgelegen habe, die seit seiner privaten Wohnsitznahme fortan ausgeschlossen sei und daher keine Wiederholungsgefahr bestehe, die Ausweisung dennoch in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auch generalpräventiv verfügt worden sei, wofür keine Wiederholungsgefahr vorliegen müsse.
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Mit dieser (selbständig tragenden) Annahme des Verwaltungsgerichts, dass das Ausweisungsinteresse (zumindest auch) generalpräventiv begründet werden kann, setzt sich der Kläger jedoch nicht auseinander. Sein pauschaler Einwand, eine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung lasse sich auch nicht mit generalpräventiven Erwägungen begründen, genügt dafür nicht. Im Übrigen ist das zur Ausweisung führende Verhalten des Klägers nicht derart atypisch oder singulär, dass seine Ausweisung nicht geeignet wäre, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Taten abzuschrecken, und somit keine generalpräventive Wirkung entfalten könne. Vielmehr sprechen gerade die brutale Vorgehensweise des Klägers und die Bedrohung des Opfers mit dem Tod aus einem geringfügigen Anlass dafür, mit der Ausweisung des Klägers anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass Gewaltbereitschaft und das Einwirken auf die freie Willensentschließung anderer Menschen durch Bedrohung mit dem Tod (insbesondere bei vergleichsweise geringfügigem Anlass) sowie die dadurch zum Ausdruck kommende Geringschätzung der körperlichen Unversehrtheit und des Lebens Anderer von der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht hingenommen werden.
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1.1.3 Soweit der Kläger darauf verweist, dass das Gesetz unter § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse grundsätzlich erst bei einer Verurteilung wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten vorsehe, und dass dem gegenüber im Rahmen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (nach Änderung jetzt § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG), sofern man einen nicht mehr geringfügigen Verstoß annehme, eine Wertung und Abwägung des Vorfalls vorzunehmen sei, wobei die Argumente zu berücksichtigen seien, welche offenbar zu dem Vorfall geführt hätten, was sich dem Bescheid jedoch nicht entnehmen lasse, begründet auch dies keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.
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Zu Recht gehen der Beklagte und das Verwaltungsgericht davon aus, dass vorliegend das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG erfüllt ist. Der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (nach Änderung jetzt § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG) ist auch dann eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht (BayVGH, B.v. 14.2.2023 – 19 ZB 22.2431 – juris Rn. 13; B.v. 21.11.2022 – 19 ZB 22.1612 – juris Rn. 10; B.v. 20.10.2022 – 19 ZB 22.1211 – juris Rn. 13, jeweils mit Verweis auf SächsOVG, B.v. 17.2.2020 – 3 A 44/18 – juris Rn. 10; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 42. Ed. 1.7.2024, AufenthG § 54 Rn. 310). Die in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen sind vom Bundesgesetzgeber alle als schwerwiegend bewertet worden. Die zugrundeliegenden Handlungen sind aber ersichtlich nicht gleicher Art und auch nicht in gleicher Weise sanktioniert oder pönalisiert. Die numerisch aufgeführten schwerwiegenden Ausweisungsgründe des § 54 Abs. 2 AufenthG stehen in keinem Stufenverhältnis zueinander, sondern begründen bei Erfüllung der jeweiligen Voraussetzungen jeweils für sich genommen ein entsprechendes Ausweisungsinteresse. Gleiches gilt für die in § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG geregelten Alternativen inlandsbezogener Verstöße oder Handlungen im Ausland. Nach den Gesetzesmaterialien kommt dem Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG (nach Änderung jetzt § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG) ausdrücklich eine eigenständige Auffangfunktion zu (BayVGH, B.v. 14.2.2023 – 19 ZB 22.2431 – juris Rn. 13 mit Verweis auf BT-Drs. 18/4199, S. 6; BT-Drs. 18/4097, S. 52; SächsOVG, B.v. 17.2.2020 – 3 A 44/18 – juris Rn. 10; NdsOVG, U.v. 14.11.2018 – 13 LB 160/17 – juris Rn. 41; B.v. 20.6.2017 – 13 LA 134/17 – juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 11.1.2019 – 18 A 4750/18 – juris Rn. 6 ff.).
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Ein Rechtsverstoß ist immer dann beachtlich im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG und begründet damit ein Ausweisungsinteresse, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (BayVGH, B.v. 20.10.2022 – 19 ZB 22.1211 – Rn. 12, juris mit Verweis auf BVerwG, B.v. 18.11.2004 – 1 C 23.03 – juris Rn. 19 ff.; B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris; B.v. 19.9.2017 – 10 C 17.1434 – juris Rn. 6; B.v. 17.5.2017 – 19 CS 17.37 – juris Rn. 5; ebenso Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2024, § 54 Rn. 324). Eine Verurteilung zu 80 Tagessätzen wegen einer vorsätzlichen Tat wie im Falle des Klägers ist grundsätzlich nicht geringfügig. Die Rechtsprechung und ihr folgend auch der Senat orientiert sich insoweit an der Bagatellgrenze von 30 Tagessätzen nach Nr. 55.2.2.3.1 AVwV a.F. (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2024 – 19 ZB 23.2257, n.v.; B.v. 25.4.2022 – 19 ZB 22.561, n.v., Rn. 22; B.v. 22.3.2006 – 24 ZB 06.165 – juris Rn. 5; B.v. 21.2.2006 – 19 CS 06.232 – juris Rn. 23; B.v. 15.12.2003 – 10 B 03.1725 – juris Rn. 19 zu § 46 Abs. 2 AuslG a.F.; SächsOVG B.v. 7.1.2019 – 3 B 177/18 – juris Rn. 8; OVG LSA, B.v. 9.2.2009 – 2 M 276/08 – juris Rn. 23; ebenso Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 54 Rn. 95 a.E.).
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Anhaltspunkte dafür, dass trotz der die Bagatellgrenze erheblich überschreitenden Höhe der gegen den Kläger verhängten Geldstrafe ausnahmsweise nur ein geringfügiger Verstoß anzunehmen wäre (vgl. BayVGH, B.v. 28.5.2019 – 10 ZB 19.436 – juris Rn. 5; B.v. 20.10.2022 – 19 ZB 22.1211 – juris Rn. 17), sind nicht ersichtlich und werden vom Kläger auch nicht dargelegt.
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1.1.4 Nicht durchgreifend ist des Weiteren die Rüge, es bleibe unerwähnt, dass gegen den Strafbefehl Einspruch mit Wiedereinsetzung beantragt worden sei, weil der Einspruch des Klägers mit Beschluss des Amtsgerichts Ansbach vom 25. Juli 2023 als unzulässig verworfen wurde (wobei keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wurde) und der Strafbefehl seit dem 5. August 2023 rechtskräftig ist.
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Im Übrigen muss für die Annahme eines schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG eine Verurteilung nicht vorliegen (der Wortlaut des § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG knüpft nicht an eine Verurteilung oder sonstige Sanktionierung an), so dass es entgegen der Auffassung des Klägers nicht notwendig ist, dass der Verstoß tatsächlich geahndet worden beziehungsweise hier in Rechtskraft erwachsen ist (BayVGH, B.v. 6.8.2024 – 19 C 23.738 – juris Rn. 8 mit Verweis auf BVerwG, U.v. 17.6.1998 – 1 C 27.96 – juris Rn. 30; BayVGH, U.v. 15.12.2003 – 10 B 03.1725 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 24.6.2019 – 10 ZB 19.990 – juris Rn. 6; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 54 AufenthG Rn. 92 f.; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.4.2024, § 54 AufenthG Rn. 311 ff.; Cziersky-Reis in NK-Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 54 AufenthG Rn. 75).
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1.1.5 Soweit der Kläger schließlich vorträgt, dass im Hinblick auf seinen bereits langen Aufenthalt in Deutschland ein besonderes Bleibeinteresse zu sehen sei, wobei insbesondere berücksichtigt werden müsse, dass der Kläger im Alter von 19 Jahren nach Deutschland eingereist sei und sich nun seit fast acht Jahren im Bundesgebiet aufhalte, dass weiter positiv zu berücksichtigen sei, dass er bis zuletzt eine Arbeitserlaubnis erhalten habe und einen unbefristeten Arbeitsvertrag gehabt habe, den der Kläger lediglich aufgrund der negativen Entscheidung des Beklagten nicht habe ausüben können, vermag er damit die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nicht ernstlich in Zweifel zu ziehen.
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Das Verwaltungsgericht hat die vom Kläger bereits im erstinstanzlichen Verfahren angesprochenen Gesichtspunkte in seine Abwägung eingestellt, ist aber beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Bleibeinteressen des Klägers das schwerwiegende Ausweisungsinteresse nicht überwiegen. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, es sei insoweit zu berücksichtigen, dass sich der Kläger nach eigenen Angaben zwar seit September 2015 im Bundesgebiet aufhalte, jedoch nur auf der Grundlage von Gestattungen und zuletzt Duldungen. Er sei nach wie vor vollziehbar ausreisepflichtig. Ein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik ergebe sich aus seiner Duldungssituation nicht. Dass ihm zwischenzeitlich sowohl eine Beschäftigung als auch eine private Wohnsitznahme erlaubt worden seien, führe ebenfalls nicht zu einem Überwiegen seiner Bleibeinteressen, da sich an seiner vollziehbaren Ausreisepflicht dadurch insoweit nichts geändert habe.
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Dagegen ist nichts zu erinnern. Der Kläger kann kein vertyptes besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 oder 2 AufenthG für sich in Anspruch nehmen. Zu Recht geht das Verwaltungsgericht auch davon aus, dass die faktische Aufenthaltsdauer des (nach eigenen Angaben) am 22. September 2015 eingereisten und seit 29. November 2017 (aufgrund der bestandskräftigen Ablehnung seines Asylantrags) vollziehbar ausreisepflichtigen Klägers, der seitdem nur geduldet war, nicht zu einem vergleichbar gewichtigen Bleibeinteresse führen kann. Des Weiteren ist der Kläger im Bundesgebiet keine besonderen familiären oder wirtschaftlichen Bindungen eingegangen. Die Bleibeinteressen des Klägers treten folglich deutlich hinter dem schwerwiegenden Ausweisungsinteresse zurück, weshalb die Ausweisung auch verhältnismäßig ist.
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1.2 Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist schon nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt.
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Um den auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache gestützten Zulassungsantrag zu begründen, muss der Rechtsmittelführer eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formulieren, ausführen, weshalb diese Frage entscheidungserheblich ist, erläutern, weshalb die vorformulierte Frage klärungsbedürftig ist, und darlegen, warum der Frage eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (stRspr vgl. z.B. BayVGH, B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris Rn. 16 m.w.N.).
22
Der Kläger formuliert zwar die aus seiner Sicht grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, „ob bei einer Geldstrafe von unter 90 Tagessätzen ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinn der Vorschrift des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vorliegt“, legt aber deren grundsätzliche Bedeutung nicht dar. Indes ist in der Rechtsprechung, wie ausgeführt, bereits geklärt, dass eine vorsätzlich begangene Straftat grundsätzlich keinen geringfügigen Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift im Sinne des § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG darstellt und dass insbesondere eine Verurteilung zu einer über der Bagatellgrenze von 30 Tagessätzen liegenden Geldstrafe wegen einer vorsätzlichen Tat grundsätzlich nicht geringfügig ist (vgl. die oben genannten Rechtsprechungsnachweise). Ob dennoch ausnahmsweise nur ein geringfügiger Verstoß anzunehmen ist, hängt wie ausgeführt vom Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles ab und ist damit keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffer 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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4. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Anwaltsbeiordnung nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 und § 121 Abs. 2 ZPO war abzulehnen, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichenden Erfolgsaussichten bietet. Zur Begründung wird auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).