Inhalt

VGH München, Beschluss v. 08.10.2024 – 10 C 24.816, 10 C 24.1150
Titel:

Rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Rücknahme der Klage in der mündlichen Verhandlung aus Billigkeitsgründen

Normenketten:
VwGO § 121 Abs. 2, § 166 Abs. 1 S. 1
ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, § 115
Leitsätze:
1. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe scheidet grundsätzlich aus, wenn die zugrundeliegende, kostenverursachende Instanz bereits abgeschlossen ist, also nichts mehr gefördert werden kann (vgl. VGH München BeckRS 2020, 6762). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von diesem Grundsatz ist aus Billigkeitsgründen für diejenigen Fallgestaltungen eine Ausnahme zu machen, in denen der Kläger seinerseits alles Erforderliche getan hat, dem VG die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag zu ermöglichen, das Gericht aus Gründen, die allein in seiner Sphäre liegen, nicht zeitnah über den Prozesskostenhilfeantrag entscheiden hat, und der Kläger aufgrund einer Veränderung der prozessualen Situation seinerseits das Verfahren für erledigt erklärt oder die Klage zurücknimmt (stRspr, vgl. zB VGH München BeckRS 2016, 43620). (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe nach Rücknahme der Klagen in der mündlichen Verhandlung, rückwirkende Bewilligung aus Billigkeitsgründen, verzögerte Entscheidung trotz eingetretener Entscheidungsreife, Ablehnung der Prozesskostenhilfe erst in der mündlichen Verhandlung, rückwirkende Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Rücknahme der Klage, Billigkeitsgründe, verzögerte Entscheidung, Entscheidungsreife, mündliche Verhandlung, beabsichtigte Rechtsverfolgung, hinreichende Aussicht auf Erfolg
Vorinstanzen:
VG München, Beschluss vom 19.04.2024 – M 4 K 23.1201
VG München, Beschluss vom 29.02.2024 – M 24 K 23.1183, M 24 K 23.1184
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28721

Tenor

I. Die Verfahren 10 C 24.816 und 10 C 24.1150 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
II. Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 29. Februar 2024 wird den Klägern Prozesskostenhilfe für die Klageverfahren M 24 K 23.1183 und M 24 K 23.1184 bewilligt und Rechtsanwalt ... , beigeordnet (10 C 24.816).
III. Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts München vom 19. April 2024 wird dem Kläger Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren M 4 K 23.1201 bewilligt und Rechtsanwalt ... , beigeordnet (10 C 24.1150).

Gründe

1
Die Verbindung der Beschwerdeverfahren 10 C 24.816 und 10 C 24.1150 zu gemeinsamer Entscheidung erfolgt nach § 93 Satz 1 VwGO.
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1. Die Beschwerden sind zulässig. Sie sind insbesondere fristgerecht eingelegt worden. Da dem jeweils ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss keine Rechtsmittelbelehrung(M 24 K 23.1183, M 24 K 23.1184) bzw. eine falsche Rechtsmittelbelehrung(M 4 K 23.1201) beigefügt war, ist für die Einlegung der Beschwerde die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO maßgebend.
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2. Die Beschwerden der Kläger in den Verfahren 10 C 24.816 und 10 C 24.1150 (Ehepaar mit Sohn), welche sich gegen die Ablehnung der Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für ihre Klagen gegen die Rücknahmen ihrer Aufenthaltserlaubnisse und im Verfahren 10 C 24.816 (Ehepaar) auch gegen ihre Ausweisung richten, sind begründet. Den Klägern ist Prozesskostenhilfe für die erstinstanzlichen Klageverfahren zu bewilligen; die Entscheidungen des Verwaltungsgerichts sind insoweit abzuändern.
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a) Die in der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts am 29. Februar 2024 erklärten Klagerücknahmen schließen die Prozesskostenhilfegewährung nicht aus.
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Die Prozesskostenhilfe dient dazu, einem Beteiligten ohne zureichendes Einkommen und Vermögen eine beabsichtigte Rechtsverfolgung zu ermöglichen. Die Bezugnahme auf eine „beabsichtigte“ Rechtsverfolgung zeigt dabei, dass es zumindest im Regelfall um die Förderung einer konkreten, in der vom Prozesskostenhilfegesuch erfassten Instanz noch nicht abgeschlossenen Rechtsstreitigkeit gehen muss; denn die Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat nicht die Aufgabe, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten bzw. dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe scheidet daher grundsätzlich aus, wenn die zugrundeliegende, kostenverursachende Instanz bereits abgeschlossen ist, also nichts mehr gefördert werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2020 – 6 C 20.344 – juris Rn. 6; NdsOVG, B.v. 13.1.2016 – 2 PA 409/15 – juris Rn. 11; OVG NW, B.v. 4.1.2016 – 1 E 1187/15 – juris Rn. 3 m.w.N.; BayVGH, B.v. 2.6.2010 – 11 C 10.747 – juris Rn. 17 und 31 m.w.N.).
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Wegen der Klagerücknahmen liegt hier zwar keine „beabsichtigte“ Rechtsverfolgung mehr vor, da mit den auf die Rücknahmen hin ergehenden Einstellungsbeschlüssen die Rechtshängigkeit der Klagen rückwirkend entfällt (vgl. BayVGH, B.v. 27.6.2013 – 12 C 13.939 – juris Rn. 9). In der vorliegenden Situation ist jedoch aus Billigkeitsgründen Prozesskostenhilfe rückwirkend zu bewilligen.
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Von dem Grundsatz, nach einer Klagerücknahme rückwirkend keine Prozesskostenhilfe zu bewilligen, macht die Rechtsprechung aus Billigkeitsgründen für diejenigen Fallgestaltungen eine Ausnahme, in denen der Kläger seinerseits alles Erforderliche getan hat, dem Verwaltungsgericht die Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag zu ermöglichen, das Gericht aus Gründen, die allein in seiner Sphäre liegen, nicht zeitnah über den Prozesskostenhilfeantrag entscheiden hat, und der Kläger aufgrund einer Veränderung der prozessualen Situation seinerseits das Verfahren für erledigt erklärt oder die Klage zurücknimmt (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.2.2016 – 10 C 15.849 – juris Rn. 2). In diesen Fällen, in denen dem Kläger, hätte das Verwaltungsgericht nach Eintritt der Entscheidungsreife rechtzeitig über den Prozesskostenhilfeantrag entschieden, Prozesskostenhilfe gewährt worden wäre, kommt ausnahmsweise die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe in Betracht (vgl. hierzu auch BVerfG, B.v. 14.4.2010, 1 BvR 362/10 – juris Rn. 14).
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Die Kläger sind im vorliegenden Verfahren ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen. Sie haben jeweils am 20. März 2023 und somit nur wenige Tage nach Klageerhebung und Stellung der Prozesskostenhilfeanträge die Erklärungen über ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse samt entsprechender Nachweise beim Verwaltungsgericht eingereicht. Mit Schriftsatz vom 26. April 2023 sowie vom 3. bzw. 21. Juli 2023 begründeten sie ihre Klagen ausführlich, die Beklagte nahm mit Schriftsatz jeweils vom 7. Juli 2023 Stellung. Spätestens im Juli 2023 lag somit Bewilligungsreife vor und das Verwaltungsgericht hätte über die Prozesskostenhilfeanträge entscheiden müssen. Sinn und Zweck der Prozesskostenhilfe gebietet es, dass das Gericht über ein entscheidungsfähiges Prozesskostenhilfegesuch alsbald entscheidet (vgl. VGH BW, B.v. 23.4.2002 – 11 S 119/02 juris Rn. 5). Das Verwaltungsgericht lehnte die Prozesskostenhilfeanträge im Verfahren 10 C 24.816 jedoch erst im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 29. Februar 2024 ab. Im Hinblick auf die rechtlichen Ausführungen des Gerichts und auf die Zusicherungen der Beklagten war in dieser prozessualen Situation den Klägern nicht zumutbar, unmittelbar Beschwerde gegen den ablehnenden Prozesskostenhilfebeschluss einzulegen und eine Unterbrechung bzw. Vertagung der mündlichen Verhandlung zu beantragen. Dass das Verwaltungsgericht die Entscheidung über die Prozesskostenhilfeanträge über die Bewilligungsreife hinaus verzögert hat (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2013 – 12 C 13.1519 – juris Rn. 10), kann nicht zulasten der Kläger gehen. Gleiches gilt für den Kläger im Verfahren 10 C 24.1150, für dessen Verfahren eine andere Kammer des Verwaltungsgerichts zuständig war. Zwar war im Zeitpunkt der Klagerücknahme, die ebenfalls in der mündlichen Verhandlung der Klageverfahren seiner Eltern am 29. Februar 2024 erfolgte, über den Prozesskostenhilfeantrag noch nicht entschieden. Jedoch war es auch hier aufgrund der geänderten Prozesssituation, in der die Beklagte im Rahmen eines „Gesamtpaketes“ zusicherte, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, diesem nicht zumutbar, vor Klagerücknahme auf eine Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag, noch dazu bei einer anderen Kammer, zu drängen.
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b) Hinreichende Erfolgsaussichten im Sinne von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO waren gegeben.
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Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten dürfen die Anforderungen nicht überspannt werden. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit in dem Sinn, dass der Prozesserfolg schon gewiss sein muss, ist nicht erforderlich, sondern es genügt bereits eine sich bei summarischer Überprüfung ergebende Offenheit des Erfolgs. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten lassen. Das Prozesskostenhilfeverfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen. Deshalb dürfen bislang ungeklärte oder im Einzelfall schwierige Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (stRspr d. BVerfG, vgl. z.B. B.v. 4.8.2016 – 1 BvR 380/16 – juris Rn. 12; B.v. 28.7.2016 – 1 BvR 1695/15 – juris Rn. 16 f.; B.v. 13.7.2016 – 1 BvR 826/13 – juris Rn. 11 f.; B.v. 20.6.2016 – 2 BvR 748/13 – juris Rn. 12).
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Gemessen an diesen Grundsätzen waren die Erfolgsaussichten der Klageverfahren im Zeitpunkt der Bewilligungsreife zumindest als offen zu beurteilen. In den Verfahren der Eltern (M 24 K 23.1183, M 24 K 23.1184) war Streitgegenstand jeweils die Rücknahme von Aufenthaltstiteln rückwirkend ab 2000 bzw. ab 2009 sowie der Niederlassungserlaubnis, die Ausweisungsverfügungen und die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltstitel. Strittig waren dabei Fragen der Arglist der Kläger, der Kenntnis der Beklagten und damit einhergehend der Beginn der Jahresfrist für die Rücknahmen, des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses, der Ermessensentscheidung und der Verhältnismäßigkeit, nachdem der Kläger seit circa 28 Jahren, die Klägerin seit circa 14 Jahren in Deutschland zusammen mit fünf minderjährigen Kindern, von denen vier die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, leben. Im Verfahren des Sohnes (M 4 K 23.1201) war vor allem die Verhältnismäßigkeit der Rücknahmeentscheidung strittig, da der Kläger im Alter von einem Jahr in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und im Laufe seines ca. 14-jährigen Aufenthalts gute Integrationsleistungen erbracht, demgegenüber jedoch offensichtlich keine Bindungen zu seinem Herkunftsland hat. Dabei wurden jeweils erhebliche Rechtsfragen aufgeworfen, die nicht bereits im Prozesskostenhilfeverfahren geklärt werden konnten.
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c) Die Beiordnung des Prozessbevollmächtigten erfolgt gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO, weil die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.
13
d) Bedürftigkeit im Sinn von § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, § 115 ZPO liegt nach den vorgelegten aktuellen Unterlagen vor.
14
Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, weil die Kosten des Beschwerdeverfahrens gemäß § 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattet werden. Demgemäß ist auch eine Streitwertfestsetzung entbehrlich.
15
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).