Titel:
Erfolglose Asylklage (Türkei, Kurde, HDP)
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 3, § 3b, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Angehörige der kurdischen Volksgruppe unterliegen in der Türkei keiner Gruppenverfolgung. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Allein die Mitgliedschaft in der HDP ist in der Türkei kein Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die türkischen Strafnormen der Präsidentenbeleidigung, der Verletzung der Privatsphäre und der Beleidigung eines Amtsträgers, noch die diesbezüglich in der Türkei angewandte Strafpraxis begründet für sich genommen eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aus politischen Gründen. (Rn. 32 – 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylantrag eines türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, keine Gruppenverfolgung von kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei, politisches Engagement im Umfeld der HDP, Strafverfolgung wegen Präsidentenbeleidigung und Beleidigung eines Amtsträgers in den sozialen Medien, Asylantrag, Türkei, kurdische Volkszugehörigkeit, Gruppenverfolgung, HDP, Strafverfolgung, Präsidentenbeleidigung, Beleidigung eines Amtsträgers, Verletzung der Privatsphäre
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28708
Tenor
1.Die Klage wird abgewiesen.
2.Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3.Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie jeweils hilfsweise die Zuerkennung des subsidiären Schutzes und die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten.
2
Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger vom Volk der Kurden sowie sunnitischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 26. August 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. August 2022 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.
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Im Rahmen der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 14. Dezember 2022 gab der Kläger an, er habe mit seinen Eltern und Geschwistern in … in der Provinz … gelebt, wo er offiziell gemeldet sei, und zunächst in einer Teppichwäscherei gearbeitet. Auf seiner Instagram-Seite habe er Beiträge darüber gepostet, wie die Kurden unterdrückt, verfolgt und ausgegrenzt würden. Im April 2022 sei er zum HDP-Gebäude in … gegangen, vor dem ein gepanzerter Wagen der Polizei gestanden habe. Die uniformierten Beamten hätten ihn aufgefordert, seinen Ausweis zu zeigen, um zu überprüfen, ob er ein Terrorist sei oder nicht. Als er geantwortet habe, dass er kein Terrorist sei, sondern zu HDP wolle, um dort Mitglied zu werden, hätten ihn die Beamten aufgefordert, in den gepanzerten Wagen zu steigen, wo sie sein Handy an sich genommen hätten. Die Beamten hätten daraufhin gesagt, dass sie einen Terroristen entdeckt hätten, ihn geschlagen und aufgefordert, keine Beiträge mehr zu posten. Andernfalls würden sie ihm die Zunge abschneiden. Anschließend sei er mit einem Fußtritt aus dem Wagen gestoßen worden und gestürzt. Er sei dann sogleich nach Hause zu seinen Eltern gegangen und habe diesen von dem Vorfall erzählt. Freunde und Bekannte hätten ihm gesagt, dass er nicht mehr in … bleiben solle. Deshalb sei er nach … bei … gegangen, wo er in einem Hotel als Security gearbeitet habe. Auch dort habe er seine Instagram-Seite weiterhin genutzt und gepostet, weil er seine kurdische Herkunft nicht habe verleugnen können. Am 10. August 2022 seien drei Polizisten in Zivil zu ihm gekommen und hätten ihn aufgefordert, sie zu einer Vernehmung zu begleiten. Die Polizisten hätten ihn mit dem Auto an einen abgelegenen Ort gebracht. Dort habe einer der Polizisten seine rechte und ein anderer seine linke Hand festgehalten; der Fahrer habe angefangen, ihn zu schlagen, und ihm das Knie in den Bauch gestoßen, woraufhin er zu Boden gegangen sei. Währenddessen hätten ihm die beiden anderen Polizisten in den Rücken und gegen den Kopf getreten. Einer der Polizisten habe über das Handy einen Videochat geöffnet und seinem Gesprächspartner gesagt, er sende Grüße von dessen Freund. Es sei ihm dann sofort eingefallen, dass es sich bei dem Gesprächspartner um die Polizisten gehandelt habe, die ihn in … kontrolliert hätten; er glaube, dass die Polizisten miteinander befreundet seien, wisse es aber nicht. Als Passanten vorbeigekommen seien, hätten die Polizisten von ihm abgelassen. Bevor sie gegangen seien, hätten sie ihm gedroht, dass er nicht vor ihnen weglaufen könne, sondern sie ihn wiederfinden und dann töten würden. Auch hätten sie ihn davor gewarnt, Anzeige zu erstatten. Wegen dieses Vorfalls habe er große Angst bekommen und seine Eltern angerufen, die ihn gebeten hätten, nach Hause zu kommen. Daraufhin sei er nach … zurückgekehrt, wo sie seine Ausreise geplant hätten. Am 16. August 2022 sei er vom Flughafen …, wo er die Kontrollschleusen ohne Probleme habe passieren können, nach Serbien geflogen und von dort in einem LKW weiter nach Deutschland gereist. Bei einer Rückkehr in die Türkei befürchte er, getötet zu werden, da uniformierte Polizisten zum Haus seiner Eltern gekommen seien und nach ihm gefragt hätten. In der Türkei habe er die HDP unterstützt, sei jedoch (noch) kein Mitglied gewesen. Er habe Bücher für Selahattin Demirtas geschrieben und verkauft, an Meetings und etwa fünf bis sechs Demonstrationen teilgenommen sowie Pressemitteilungen der HDP in den sozialen Medien geteilt. In Deutschland sei er nicht mehr politisch aktiv, erstelle aber weiterhin Beiträge in den sozialen Medien. In der Türkei sei er nicht offiziell angeklagt worden, und es sei auch kein Verfahren gegen ihn anhängig.
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Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. Dezember 2022, zugestellt am 3. Januar 2023, lehnte die Beklagte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), die Asylanerkennung (Ziffer 2) sowie die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3) ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG fest (Ziffer 4), drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung bzw. im Fall der Klageerhebung nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens die Abschiebung vorrangig in die Türkei an und setzte den Lauf der Ausreisefrist bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist aus (Ziffer 5). In Ziffer 6 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Gegen diesen Bescheid hat der anwaltlich vertretene Kläger am 5. Januar 2023 Klage erhoben.
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Soweit die Beklagte im Bescheid vom 28. Dezember 2022 – zum damaligen Zeitpunkt zutreffend – davon ausgegangen sei, dass gegen ihn weder eine Anklage erhoben noch ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei, habe sich dies inzwischen geändert. Hierzu seien jeweils in türkischer Sprache nebst deutscher Übersetzung ein Antrag auf Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft … vom 23. Mai 2023 sowie ein entsprechender Beschluss des … Strafrichters … vom 23. Mai 2023 vorzulegen, in welchem darüber berichtet werde, dass er nicht habe aufgefunden werden können und welche Vorgänge bei seiner Verhaftung durchgeführt werden müssten. Des Weiteren sei eine Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft … an das Strafgericht … vom 23. Oktober 2023 in Vorlage zu bringen, mit welcher er auf Grund einer Beleidigung des ehemaligen türkischen Innenminister Süleyman Soylu wegen des Straftatbestands der öffentlichen Beleidigung eines Amtsträgers angeklagt worden sei. Den Ermittlungsbehörden sei bekannt, dass er zum damaligen Zeitpunkt in … untergebracht gewesen sei. Damit sei der Nachweis zu führen, dass ihm bei einer Rückkehr in die Türkei eine Inhaftierung und mithin auch eine politische Verfolgung drohe. Er habe eine unverhältnismäßig hohe Strafe zu erwarten, welche dem Politmalus unterliege.
- 1.
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Die beklagte Bundesrepublik Deutschland wird unter Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. Dezember 2022, Az.: …, verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Halbsatz 1 AsylG zuzuerkennen.
- 2.
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Die Beklagte wird hilfsweise verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen; hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Hinblick auf die Türkei vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Selbst etwaige justizielle Sanktionen ließen keine Anhaltspunkte für eine politisch motivierte Strafverfolgung erkennen. Bereits die legale Ausreise über den Flughafen … stelle ein starkes Indiz dafür dar, dass der Kläger – jedenfalls zum Zeitpunkt der Ausreise – nicht im Fokus der türkischen Behörden gestanden habe. Auch habe der Kläger nichts vorgetragen, was im Nachgang ein entsprechendes Interesse geweckt und damit einen Politmalus verursacht haben könnte. Es sei daher von einer legitimen Strafverfolgung auszugehen.
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Mit Beschluss vom 26. August 2024 hat die Kammer die Verwaltungsstreitsache dem Berichterstatter zur Entscheidung als Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 16. September 2024 wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte sowie hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei auf die aktuelle Auskunftsliste – Stand 27. Mai 2024 – Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, die trotz Ausbleibens eines Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte, erweist sich als zulässig, aber in der Sache unbegründet.
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Die Klage konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. September 2024 verhandelt und entschieden werden, da die Beteiligten in der jeweils ordnungsgemäßen und fristgerechten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden waren (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 28. Dezember 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO. Zum gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung steht dem Kläger weder ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder auf die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Auch die Ausreiseaufforderung nebst Abschiebungsandrohung sowie das auf § 11 Abs. 1 AufenthG gestützte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich als rechtmäßig.
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Zur Vermeidung von Wiederholungen wird zunächst gemäß § 77 Abs. 3 AsylG auf den angefochtenen Bescheid vom 28. Dezember 2022 Bezug genommen, dessen Feststellungen und Begründung das Gericht folgt. Hierzu ist – auch mit Blick auf den maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – Folgendes zu ergänzen:
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG.
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Ein Ausländer ist gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Buchst. a AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Mögliche Verfolgungshandlungen sind in § 3a AsylG und mögliche Verfolgungsgründe in § 3b AsylG geregelt. Dabei bestimmt § 3a Abs. 3 AsylG, dass zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG genannten Verfolgungshandlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen muss. § 3c AsylG benennt Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, und § 3d AsylG solche, die Schutz bieten können. § 3e Abs. 1 AsylG regelt die Voraussetzungen, unter denen sich ein Ausländer auf die Inanspruchnahme internen (Verfolgungs-)Schutzes verweisen lassen muss.
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19). Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 32; U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 16).
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Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung kann zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage aus dem klägerischen Vorbringen nicht hergeleitet werden.
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a) Mit Blick auf seine kurdische Volkszugehörigkeit besteht für den Kläger keine begründete Furcht vor (Gruppen-)Verfolgung.
22
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass Angehörige der kurdischen Volksgruppe in der Türkei keiner Gruppenverfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG unterliegen (SächsOVG, B.v. 9.4.2019 – 3 A 358/19 – juris Rn. 13; U.v. 6.3.2024 – 5 A 3/20.A – juris Rn. 41 ff.; BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 – 2 A 321/20 – juris Rn. 16; OVG SH, B.v. 31.3.2021 – 5 LA 43/21 – juris Rn. 16; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 31; VGH BW, U.v. 17.11.2022 – A 13 S 3741/20 – juris Rn. 49 ff.). Nichts anderes ergibt sich aus der vom Gericht zugrunde gelegten Auskunftslage. Ausweislich des Berichts des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 20. Mai 2024 sind türkische Staatsbürger nichttürkischer Volkszugehörigkeit keinen staatlichen Repressionen aufgrund ihrer Abstammung unterworfen (S. 10). Auch Repressionen nichtstaatlicher Gruppen gegenüber einer bestimmten Personengruppe wegen ihrer Abstammung oder Nationalität sind hiernach nicht bekannt (S. 16).
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Das Gericht folgt darüber hinaus der ebenfalls gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung, wonach Kurden in der West-Türkei eine interne Schutzmöglichkeit im Sinne des § 3e Abs. 1 AsylG offensteht (BayVGH, B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 8; B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 7; OVG Berlin-Bbg, U.v. 7.10.2022 – OVG 2 B 16.19 – juris Rn. 33; VGH BW, U.v. 17.11.2022 – A 13 S 3741/20 – juris Rn. 63 ff.). Alle türkischen Staatsangehörigen genießen grundsätzlich Freizügigkeit in der Türkei (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 232). In den letzten Jahrzehnten ist etwa die Hälfte der kurdischen Bevölkerung in die West-Türkei ausgewandert, sowohl um dem bewaffneten Konflikt zu entkommen, als auch auf der Suche nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. In städtischen Zentren, vor allem im Westen der Türkei, wächst eine kurdische Mittelschicht (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 188).
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b) Auch aus dem individuellen Fluchtvorbringen des Klägers kann eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht hergeleitet werden.
25
aa) Mit Blick auf die im Rahmen der behördlichen Anhörung geltend gemachten Übergriffe und (Todes-)Drohungen durch Polizeibeamte in … sowie in … droht dem Kläger bereits deshalb keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, weil seine diesbezüglichen Angaben durch verschiedene Unstimmigkeiten und Widersprüche geprägt sind und sich daher zur Überzeugung des Gerichts als unglaubhaft erweisen.
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Nicht nachvollziehbar ist bereits das durch den Kläger behauptete Vorgehen der Polizeibeamten in …, die ihn vor dem dortigen HDP-Gebäude kontrolliert und unter Ausspruch von Drohungen sowie physischer Gewaltanwendung von ihm verlangt haben sollen, keine Beiträge mehr in den sozialen Medien zu veröffentlichen, ohne jedoch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren einzuleiten. Sollten die Beamten den Äußerungen des Klägers in den sozialen Medien eine potentielle strafrechtliche Relevanz beigemessen haben und deshalb über ein wie auch immer geartetes Verfolgungsinteresse an dessen Person verfügen, hätte es insbesondere nahegelegen, sogleich ein entsprechendes Ermittlungsverfahren gegen den Kläger einzuleiten. Warum die Polizeibeamten in … einerseits auf ein derart naheliegendes Vorgehen hätten verzichten sollen, erschließt sich jedenfalls dann nicht, wenn sie andererseits – wie vom Kläger behauptet – den Aufwand betrieben haben sollen, diesen nach seinem Umzug nach … durch zivile Beamte der dortigen Polizei aufspüren zu lassen, damit diese ihn erneut durch Anwendung physischer Gewalt und das Aussprechen von Drohungen von weiteren Äußerungen in den sozialen Medien abhalten würden. Dies gilt umso mehr, als bereits die Drohungen und die Gewaltanwendung durch die Polizeibeamten in … den Kläger offenbar nicht davon abbringen konnten, sich weiterhin in den sozialen Medien zu äußern.
27
Ebenso wenig erschließt es sich dem Gericht, wie es den Polizeibeamten in … überhaupt gelungen sein soll, den Kläger dort aufzuspüren, wenn dieser nach eigenen Angaben weiterhin in der Wohnung seiner Eltern in … gemeldet gewesen sein will. Da anderweitige Umstände, auf Grund derer die Polizei in … Kenntnis von dem dortigen Aufenthalt des Klägers erlangt haben könnte, weder vorgetragen noch im Ansatz ersichtlich sind, erscheint allenfalls eine entsprechende Benachrichtigung durch die Polizeibeamten aus … denkbar. Auch in diesem Fall wäre indes nicht erklärlich, woher die Polizeibeamten in … von dem Aufenthalt des Klägers in … hätten Kenntnis erlangen sollen, wenn dieser nach eigenen Angaben in der Wohnung seiner Eltern in … gemeldet war.
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Nicht auflösbare Ungereimtheiten bestehen schließlich hinsichtlich des durch den Kläger geschilderten Vorgehens der Zivilpolizisten in … Das Gericht vermag bereits im Ausgangspunkt nicht nachzuvollziehen, warum sich die zivilen Beamten der Polizei in … dazu hätten hinreißen lassen sollen, den ihnen völlig unbekannten Kläger auf Bitten der Polizeibeamten aus … den geschilderten extralegalen Maßnahmen zu unterziehen und hierbei jedenfalls nicht ausgeschlossene Nachteile für ihre eigene berufliche Karriere in Kauf zu nehmen. Dies gilt umso mehr, als auch für die Polizeibeamten in … selbst – wie dargelegt – eine Möglichkeit bestanden hätte, gegen die von ihnen beanstandeten Äußerungen des Klägers in den sozialen Medien durch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens vorzugehen. Doch auch wenn man der Befürchtung des Klägers folgen wollte, wonach die Zivilpolizisten in … letztlich vorgehabt hätten, ihn zu töten, vermag dies nicht zu erklären, warum sie den Kläger letzten Endes hätten freilassen sollen. Sollten sich die Beamten – wie durch den Kläger behauptet – tatsächlich in Folge eines unerwarteten Auftauchens von Passanten an der weiteren Umsetzung einer entsprechenden Tötungsabsicht gehindert gesehen haben, wäre vielmehr davon auszugehen gewesen, dass sie den Kläger erneut in das Polizeifahrzeug verbracht hätten, um ihr Vorhaben an einem anderen geeigneten Ort abschließen zu können. Durch die behauptete Freilassung hätten die Beamten dem Kläger dagegen die Möglichkeit eröffnet, mit den Passanten in Kontakt zu treten und diese als mögliche Zeugen für eine etwaige Strafanzeige wegen der vorgetragenen Misshandlungen zu gewinnen.
29
bb) Auch auf Grund des durch den Kläger geltend gemachten politischen Engagements für die HDP droht diesem keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung.
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Die HDP ist eine linkskurdische Partei, welcher seitens der Regierung enge Verbindungen zu der als terroristische Organisation eingestuften PKK sowie zu deren politischer Dachorganisation KCK vorgeworfen werden. Die Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK betrifft insofern nicht selten auch Mitglieder der HDP. Nach eigenen Angaben der HDP sollen sich derzeit mehr als 5.000 Parteifunktionäre und -mitglieder in Haft befinden. Eine Mitgliedschaft in der HDP allein stellt indes keinen Grund für die Einleitung strafrechtlicher Maßnahmen dar (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, S. 7; vgl. auch BayVGH, B.v. 7.6.2021 – 24 ZB 21.30687 – juris Rn. 7). Dies gilt erst recht für Personen, die, ohne selbst Parteimitglied zu sein, lediglich mit der HDP sympathisieren oder in deren Umfeld unterstützend tätig werden.
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Letzteres trifft auch auf den Kläger zu, der nach eigenen Angaben kein Mitglied der HDP ist, sondern sich lediglich in deren Umfeld, etwa durch das Schreiben und den Verkauf von Büchern, die Teilnahme an Meetings und Demonstrationen sowie das Teilen von Pressemitteilungen der Partei in den sozialen Medien, engagiert haben will. Es bestehen daher keinerlei Anhaltspunkte für eine herausgehobene Stellung des Klägers innerhalb der HDP, auf Grund derer ihn der türkische Staat als bedeutsamen politischen Gegner ansehen könnte. Der Kläger hat im Übrigen nicht geltend gemacht, gerade wegen des dargelegten Engagements für die HDP Probleme mit den türkischen (Sicherheits-)Behörden gehabt zu haben, geschweige denn deshalb strafrechtlich verfolgt zu werden. Hinzu kommt, dass der Kläger nach eigenen Angaben seit seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland – von der Erstellung von Beiträgen in den sozialen Medien abgesehen – nicht mehr politisch tätig sein will.
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cc) Schließlich droht dem Kläger mit Blick auf die in der Türkei geführten Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung und Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonaufnahmen sowie die dort erhobene Anklage wegen Beleidigung eines Amtsträgers wegen seiner Pflicht zur Überzeugung des Gerichts keine beachtlich wahrscheinliche Gefahr einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung aus politischen Gründen.
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Aus dem vorgelegten Haftbefehlsantrag der Generalstaatsanwaltschaft … vom 23. Mai 2023 und dem daraufhin ergangenen Beschluss des … Strafrichters … vom 23. Mai 2023 ergibt sich zunächst, dass gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonaufnahmen (Art. 134 Abs. 2 des türkischen Strafgesetzbuchs – „Türk Ceza Kanunu“ – TCK) zulasten eines … geführt wird, bei dem es sich laut Aussage des Klägers in der mündlichen Verhandlung um einen Polizeibeamten handeln soll, und, nachdem der Kläger trotz Vorladung nicht bei der Generalstaatsanwaltschaft erschienen war, zum Zweck der Vernehmung Haftbefehl erlassen wurde. Wie sich aus der darüber hinaus in Vorlage erbrachten Klageschrift der Generalstaatsanwaltschaft … am 23. Oktober 2023 ergibt, ist gegen den Kläger außerdem eine Anklage wegen einer – zulasten des ehemaligen türkischen Innenministers Süleyman Soylu begangenen – Beleidigung eines Amtsträgers (Art. 125 Abs. 1, 3 Buchst. a, Abs. 4 TCK) erhoben worden. Aus dem erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft … vom 29. Mai 2024 folgt zudem ein Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung (Art. 299 Abs. 1 und 2 TCK), welches auf Grund von insgesamt fünf durch den Kläger in den sozialen Medien getätigten Äußerungen mit Bezug zum türkischen Staatspräsidenten Erdogan eingeleitet wurde. Nach Auffassung des Gerichts handelt es sich hierbei um echte Unterlagen. So konnte der Kläger auf entsprechende Aufforderung in der mündlichen Verhandlung sämtliche der vorgelegten Dokumente in UYAP vorzeigen. Auch erbrachte die für sämtliche der vorgelegten Unterlagen mithilfe des darauf jeweils angebrachten Dokumentencodes („Evrak Kodu“) oder QR-Codes in UYAP durchgeführte Dokumentenverifikation die Meldung „Evrak Doğrulama Başarılı“ und damit die Bestätigung, dass die betreffenden Dokumente aus dem UYAP-System stammen (vgl. Bericht des Auswärtigen Amts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Republik Türkei, 20.5.2024, Anlage: Merkblatt e-Devlet der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Ankara vom Oktober 2023). Allerdings folgt für den Kläger aus den betreffenden Verfahren keine begründete Furcht vor einer flüchtlingsrechtlich relevanten politischen Verfolgung durch den türkischen Staat.
34
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann sich grundsätzlich auch aus einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Strafverfolgung oder Bestrafung ergeben (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG). Dabei setzt die gesetzliche Regelung zum einen voraus, dass die geltend gemachte Verfolgung gerade wegen eines oder mehrerer der fünf in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten und in § 3b AsylG näher definierten Verfolgungsgründe droht. Im Hinblick auf diese Kausalität kann die Flüchtlingseigenschaft somit nur zuerkannt werden, wenn sich die Verfolgungsfurcht auf mindestens eines dieser Kriterien gründet. Schon aus diesem Grund scheidet ein gleichsam automatischer Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus. Zum anderen kann eine unverhältnismäßige Strafverfolgung zwar gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG als Verfolgung gelten, jedoch bedarf es angesichts des einschränkenden Wortlauts („können“) einer konkreten Betrachtung der weiteren Umstände wie etwa der konkreten Strafverfolgungspraxis. Auch dies schließt einen gleichsam automatischen Schluss vom Straftatbestand auf die Flüchtlingseigenschaft aus (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 10 f.).
35
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 16a Abs. 1 GG ist eine Verfolgung dann eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Dies gilt indes dann nicht, wenn die staatliche Maßnahme allein dem – grundsätzlich legitimen – staatlichen Rechtsgüterschutz dient oder sie nicht über das hinausgeht, was auch bei der Ahndung sonstiger krimineller Taten ohne politischen Bezug regelmäßig angewandt wird. Das Asylgrundrecht gewährt keinen Schutz vor drohenden (auch massiven) Verfolgungsmaßnahmen, die keinen politischen Charakter haben. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet (sog. Politmalus). Solange sich ein solcher Politmalus nicht von vornherein ausschließen lässt, haben die Gerichte den diesbezüglichen Sachverhalt in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 24; BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 13). Diese Grundsätze gelten nicht nur für das Asylgrundrecht, sondern auch für Verfahren, die auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG gerichtet sind (BVerfG, B.v. 4.12.2012 – 2 BvR 2954/09 – juris Rn. 25; BVerwG, B.v. 3.8.2006 – 1 B 20.06 – juris Rn. 2).
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Gemessen hieran bedarf es im ersten Schritt einer Bewertung, ob schon allein die Strafnorm eine politische Verfolgung darstellt und deshalb asylbegründend wirken kann. Die Bewertung setzt voraus, dass zunächst Inhalt und Reichweite der fraglichen Rechtsnorm bestimmt werden. Dies muss anhand ihres Wortlauts erfolgen, ggf. ist zur Bestimmung der Reichweite des Verbots die Ermittlung der ausländischen Rechtsauslegung und -anwendung erforderlich. Neben der Bewertung der Strafnorm ist festzustellen, ob die Strafverfolgungspraxis des Heimatstaats einen eigenen Verfolgungscharakter aufweist und ob die verhängte Strafe eine unverhältnismäßige, (auch) an asylerhebliche Merkmale anknüpfende Sanktion darstellt. Die Frage, ob ein im Herkunftsland anhängiges Strafverfahren eine politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts ist, hängt von der Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften durch die dortigen Strafgerichte ab. Entscheidend ist, ob der Staat lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten will oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolgt, den Straftäter wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger asylerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Nur im letztgenannten Fall liegt eine politische Verfolgung vor (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 14 m.w.N.).
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In Anwendung dieser Grundsätze stellen weder die in Bezug auf den Kläger angewandten Strafnormen für sich genommen (1) noch die diesbezüglich in der Türkei angewandte Strafpraxis (2) eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aus politischen Gründen dar. Ferner bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte für eine Absicht des türkischen Staates, den Kläger durch die Strafverfolgung im Sinne eines sog. Politmalus wegen seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals zu treffen (3).
38
(1) Eine flüchtlingsrechtlich relevante politische Verfolgung folgt nicht bereits aus der abstrakten Strafandrohung der Präsidentenbeleidigung (Art. 299 TCK), der Beleidigung eines Amtsträgers (Art. 125 Abs. 1 und 3 Buchst. a TCK) oder Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial (Art. 134 Abs. 2 TCK).
39
Die abstrakte Strafandrohung der Präsidentenbeleidigung in Art. 299 TCK ist nicht per se verwerflich, sondern dient grundsätzlich dem legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 16), insbesondere dem Schutz des Ansehens von Amtsträgern wie dem Staatsoberhaupt. Entsprechendes gilt für den Straftatbestand der Beleidigung eines Amtsträgers in Art. 125 Abs. 1 und 3 Buchst. a TCK. Auch die abstrakte Strafandrohung der Verletzung der Privatsphäre durch die Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial (Art. 134 Abs. 2 TCK) dient im Ausgangspunkt dem legitimen staatlichen Schutz der Privatsphäre und des Persönlichkeitsrechts.
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Das Gericht verkennt nicht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 19. Oktober 2021 (Nr. 42048/19) die auch gegen den Kläger angewandte Strafnorm des Art. 299 TCK für mit der durch Art. 10 EMRK geschützten Meinungsfreiheit unvereinbar erklärt und hierzu ausgeführt hat, dass es das Interesse des Staates, den Ruf seines Staatsoberhaupts zu schützen, nicht rechtfertigen könne, dem Staatsoberhaupt ein Privileg oder einen besonderen Schutz gegenüber dem Recht auf Information und Meinungsäußerung über ihn zu gewähren. Zwar sei es völlig legitim, dass zur Vertretung der Institutionen des Staates berufene Personen von den zuständigen Behörden als Garanten der institutionellen öffentlichen Ordnung geschützt würden; die beherrschende Stellung, die diese Institutionen einnähmen, gebiete es den Behörden aber, bei der Anwendung des strafrechtlichen Mittels Zurückhaltung zu üben.
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Allerdings hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dort ausschließlich zu prüfen, ob ein Strafverfahren nach Art. 299 TCK mit der Meinungsfreiheit vereinbar ist, nicht aber wie hier, ob der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. Darüber hinaus hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die dort zugrundeliegende Entscheidung über die Anordnung der Untersuchungshaft in den Blick genommen und nicht pauschal von der Strafvorschrift auf einen Eingriff in die Meinungsfreiheit geschlossen, sondern sich bei seiner Abwägung ausdrücklich immer wieder auf die „Umstände des vorliegenden Falls“ gestützt (BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 20).
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Hinzu kommt, dass hinsichtlich der Konventionswidrigkeit von Strafverfahren wegen Beleidigung eines Staatsoberhaupts eine Divergenz zwischen den einzelnen Sektionen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besteht, die eine Bindungswirkung für die nationalen Gerichte (vgl. dazu BVerfG, B.v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04 – juris Rn. 47 ff.) ausschließt (vgl. dazu VG Augsburg, U.v. 29.6.2022 – Au 3 K 20.31411 – juris Rn. 51; VG Düsseldorf, B.v. 25.4.2024 – 28 L 714/24.A – juris Rn. 61 ff.).
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(2) Auch die von den türkischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichten hinsichtlich der Delikte der Präsidentenbeleidigung nach Art. 299 TCK, der Beleidigung eines Amtsträgers nach Art. 125 Abs. 1 und 3 Buchst. a TCK sowie der Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial nach Art. 134 Abs. 2 TCK angewandte Strafpraxis stellt als solche keine flüchtlingsrechtlich relevante politische Verfolgung dar.
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Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel stellt sich die aktuelle Strafverfolgungspraxis des türkischen Staates hinsichtlich des Straftatbestands der Präsidentenbeleidigung nach Art. 299 TCK wie folgt dar: Gemäß Art. 299 TCK kann eine Präsidentenbeleidigung mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft werden; bei Begehung in der Öffentlichkeit wird die zu verhängende Strafe um ein Sechstel erhöht. Laut der Europäischen Kommission erhalten Personen, die der Präsidentenbeleidigung beschuldigt werden, häufig Gefängnisstrafen, bedingte Strafen oder Bußen (SFH, Türkei: Teilen und „Liken“ von „kritischen“ Inhalten auf Facebook, 29.10.2020, S. 11). Das türkische Verfassungsgericht hat für die Strafgerichte einen Kriterienkatalog für Verfahren gemäß Art. 299 TCK erstellt und weist im Sinne der Angeklagten mitunter Urteile wegen Mängeln zurück an die unteren Gerichtsinstanzen. Dennoch sieht das Verfassungsgericht die Ehre des Präsidenten als Verkörperung der Einheit der Nation als besonders schützenswert an. Nach Angaben des türkischen Justizministeriums wurden im Jahr 2020 mehr als 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung eingeleitet und 9.773 Fälle strafrechtlich verfolgt, darunter auch 290 Kinder und 152 ausländische Staatsbürger. Seit der Amtsübernahme Erdogans im Jahr 2014 gab es 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, von denen sich 39.000 vor Gericht verantworten mussten. Nach Angaben eines Professors für Rechtswissenschaften an der Bilgi Universität kam es in diesem Zeitraum in knapp 13.000 Fällen zu einer Verurteilung, wobei in 3.600 Fällen eine Haftstrafe verhängt wurde.
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106 der Schuldsprüche betrafen Kinder unter 18 Jahren, von denen zehn zu Haftstrafen verurteilt wurden. Von der Verfolgung sind sowohl ausländische als auch türkische Staatsbürger im In- und Ausland betroffen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 60).
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Im Beschluss vom 9. Februar 2023 (13a ZB 22.30152 – juris Rn. 19), auf den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof ausgeführt, dass nach Angaben der Beklagten im Jahr 2019 etwa 10.000 Verfahren auf Grund des Art. 299 TCK zu einer Verurteilung geführt hätten, wohingegen es in der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Gül insgesamt nur 233 Verurteilungen gegeben habe.
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Die Häufigkeit der Einleitung und Durchführung von Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung mag im Vergleich zu jener in Deutschland befremden. Die hohe Zahl der Ermittlungsverfahren mag auch durch die vergleichsweise niedrige Begehungsschwelle, z.B. durch Äußerungen im Internet, die an der Person des Staatsoberhaupts polarisierte Bevölkerung sowie einen gewissen Verfolgungseifer türkischer Staatsorgane erklärt werden. Die Vielgestaltigkeit der Verfahrensergebnisse zeigt jedoch keinen Automatismus von der Einleitung eines Strafverfahrens zu einer tatsächlichen Verurteilung und Strafvollstreckung (VG Augsburg, U.v. 10.5.2023 – Au 6 K 22.30983 – juris Rn. 64). So kam es hinsichtlich der rund 160.000 Anklagen wegen Präsidentenbeleidigung, die nach den vom Gericht zugrunde gelegten Erkenntnismitteln seit dem Amtsantritt von Präsident Erdogan im Jahr 2014 erhoben worden waren, in etwa 39.000 Fällen zu gerichtlichen Verfahren, was einer Quote von etwa 24,4% entspricht. Von den etwa 13.000 Fällen, in denen es tatsächlich zu einer Verurteilung kam, wurde in 3.600 Fällen, also etwa 27,7% der Fälle, eine Haftstrafe verhängt. Mit Blick auf das Jahr 2020 ergibt sich – ausgehend von 31.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung und einer strafrechtlichen Verfolgung in 9.773 Fällen – eine tatsächliche Verfolgungsquote von etwa 31,5%. In Anbetracht dessen kann aus der Strafverfolgungspraxis der türkischen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte allein nicht der Schluss gezogen werden, dass dem Kläger eine politische Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsrechts drohe.
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Nichts anderes gilt mit Blick auf die Strafverfolgungspraxis hinsichtlich der Delikte der Beleidigung eines Amtsträgers nach Art. 125 Abs. 1 und 3 Buchst. a TCK und der Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial nach Art. 134 Abs. 2 TCK, welcher der Kläger ausweislich der vorgelegten Dokumente ebenfalls beschuldigt wird. Den Erkenntnismitteln ist zwar zu entnehmen, dass der Vorwurf der Beleidigung eines Amtsträgers oft zur Begründung von Strafverfahren gegen Journalisten herangezogen wird (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Türkei, 7.3.2024, S. 112). Auch insoweit geht aus den Erkenntnismitteln aber gerade nicht hervor, dass die Einleitung entsprechender Strafverfahren automatisch und zwangsläufig zu einer Verurteilung und Strafvollstreckung führen würde. Hinsichtlich des Straftatbestands der Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial, der seinem Wortlaut nach bereits nicht auf den Schutz von Amtsträgern beschränkt ist, sondern vielmehr auch dem Schutz der Privatsphäre von Privatpersonen dient, ergeben sich aus den Erkenntnismitteln weder Anhaltspunkte für eine relevante Heranziehung in Strafverfahren mit politischem Bezug noch für einen Automatismus von der Einleitung eines Strafverfahrens zu einer tatsächlichen Verurteilung und Strafvollstreckung.
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(3) Es bestehen im vorliegenden Einzelfall schließlich keine Anhaltspunkte, dass der türkische Staat mit den gegen den Kläger ergriffenen Strafverfolgungsmaßnahmen über den dahinterstehenden legitimen staatlichen Rechtsgüterschutz hinausgehend die Absicht verfolgen würde, diesen im Sinne eines sog. Politmalus wegen seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals zu treffen.
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Ob sich der Kläger durch die in den sozialen Medien getätigten Äußerungen, in welchen er den türkischen Präsidenten Erdogan unter anderem als „Hund“, „Mörder“ und „Diktator“ bezeichnet, ihn des „Genozids an den Kurden“ bezichtigt und ihm vorgeworfen hatte, „keine Ehre“ und „keine Ethik“ zu besitzen, sowie ihm unter Bezugnahme auf ein Bild einer an den Füßen aufgeknüpften Puppe in Aussicht gestellt hatte, dass dies auch sein Ende sein werde, der Präsidentenbeleidigung nach Art. 299 TCK strafbar gemacht hat oder nicht, obliegt allein der Prüfung der türkischen Strafgerichtsbarkeit und entzieht sich der Bewertung des Verwaltungsgerichts. Gleiches gilt hinsichtlich der Frage, ob die durch den Kläger in den sozialen Medien erfolgte Bezeichnung des ehemaligen türkischen Innenministers Soylu als „Sohn eines Hundes“ und „degenerierten Adeligen“ eine Strafbarkeit wegen Beleidigung eines Amtsträgers nach Art. 125 Abs. 1 und 3 Buchst. a TCK sowie die in Bezug auf den Polizeibeamten … in den sozialen Medien erhobenen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs eine solche wegen Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial nach Art. 134 Abs. 2 TCK begründen. Die betreffenden Äußerungen des Klägers in den sozialen Medien haben – ungeachtet der Frage, aus welchem Anlass heraus sie jeweils erfolgt sein mögen – abstrakt scharfe Kritik, wenn nicht in Teilen bloße Schmähkritik, an den hiervon jeweils betroffenen Personen zum Gegenstand und stellen vor diesem Hintergrund für die türkischen Strafverfolgungsbehörden einen Anlass zu Ermittlungen und ggf. auch zur Anklageerhebung dar. Es ist daher jedenfalls nicht ersichtlich, dass die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe der Präsidentenbeleidigung, der Beleidigung eines Amtsträgers und der Verletzung der Privatsphäre durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial erfunden oder „aus der Luft gegriffen“ wären und dieser willkürlich mit Strafverfahren überzogen würde. Ob bei gleicher Sachlage in Deutschland eine Strafverfolgung eingeleitet würde, kann dahinstehen. Denn die vom Grundgesetz geprägte deutsche Strafrechtsordnung kann jedenfalls nicht als Maßstab für die Strafrechtsordnungen anderer Länder herangezogen werden (VG Augsburg, U.v. 10.5.2023 – Au 6 K 22.30983 – juris Rn. 66).
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Es ist weder vorgetragen noch anderweitig zu ersehen, dass die gegen den Kläger in der Türkei geführten Strafverfahren gegen grundlegende prozessuale Werte und das Gebot der Verfahrensfairness verstoßen würden. Ausweislich der hierzu vorgelegten Dokumente ist es bislang in keinem der gegen den Kläger geführten Strafverfahren zu einer Verurteilung gekommen. In dem Ermittlungsverfahren wegen Verletzung der Privatsphäre des …durch Veröffentlichung von Bild- und Tonmaterial wurde auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft … vom 23. Mai 2023 durch Beschluss des … Strafrichters … von selben Tag Haftbefehl zum Zweck der Vernehmung des Klägers erlassen, nachdem dieser trotz Vorladung nicht bei der Generalstaatsanwaltschaft erschienen und nicht auffindbar gewesen war. Sowohl in dem Haftbefehlsantrag der Generalstaatsanwaltschaft … als auch in dem Beschluss des … Strafrichters … wurde darauf hingewiesen, dass der Kläger nach der Vernehmung wieder freizulassen sei. In dem Strafverfahren wegen Beleidigung eines Amtsträgers, die der Kläger zulasten des früheren türkischen Innenministers Soylu begangen haben soll, wurde durch die Generalstaatsanwaltschaft … am 23. Oktober 2023 Anklage zum Strafgericht … erhoben. In dem gegen den Kläger geführten Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung wurde mit Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft … vom 29. Mai 2024 – ausweislich der Übersetzung des in der mündlichen Verhandlung anwesenden Dolmetschers – zum Zweck der Vernehmung des Klägers ebenfalls ein Haftbefehl beantragt.
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Anhand der hierdurch dokumentierten Verfahrensabläufe ist nicht ersichtlich, dass dem Kläger eine härtere als die sonst übliche Behandlung widerfahren wäre oder das Vorgehen des türkischen Staates über das hinausginge, was zur Gewährleistung eines legitimen staatlichen Rechtsgüterschutzes erforderlich ist. Dies gilt auch im Hinblick auf den gegen den Kläger durch den … Strafrichter … erlassenen Haftbefehl, der auf der Grundlage von Art. 98 Abs. 1 der türkischen Strafprozessordnung („Ceza Muhakemesi Kanunu“ – CMK) im Ermittlungsverfahren erlassen wurde, weil der Kläger auf entsprechende Ladung der Generalstaatsanwaltschaft … nicht erschienen war und somit seine Aussage nicht hatte eingeholt werden können (vgl. dazu die Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Karlsruhe vom 5.1.2021, S. 1). Prozessualer Hintergrund dieses Vorgehens mag die Bestimmung des Art. 247 Abs. 3 CMK gewesen sein, wonach ein Beschuldigter ohne Anhörung nicht verurteilt werden kann (vgl. dazu die Auskunft des Auswärtigen Amts an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 13.12.2019, S. 2). Im Übrigen ist nicht zu erkennen, dass dem Kläger eine angemessene Äußerungsmöglichkeit oder Verfahrensvertretung willkürlich vorenthalten worden wäre. Des Weiteren war es dem Kläger möglich, über das UYAP-Bürgerportal Zugang zu allen vorgelegten Unterlagen zu erhalten, so dass keine Anhaltspunkte für eine willkürliche Beschränkung der Akteneinsicht – etwa durch einen den Aktenzugang sperrenden Geheimhaltungsvermerk – ersichtlich sind (vgl. zu diesen Aspekten VG Augsburg, U.v. 10.5.2023 – Au 6 K 22.30983 – juris Rn. 69).
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Mit Blick auf das Strafverfahren wegen Präsidentenbeleidigung ist schließlich zu berücksichtigen, dass der Kläger ausweislich des hierzu vorgelegten Schreibens der Generalstaatsanwaltschaft … vom 29. Mai 2024 die zugrundeliegenden Äußerungen über den türkischen Präsidenten Erdogan in den sozialen Medien am 28. September 2022, am 12. Oktober 2022, am 10. November 2022, am 22. Februar 2023 sowie am 20. März 2023 – und mithin erst nach der bereits am 30. August 2022 erfolgten Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland – getätigt hat. Entsprechendes gilt für die am 28. September 2022 in den sozialen Medien erfolgte Bezeichnung des ehemaligen türkischen Innenminister Soylu als „Sohn eines Hundes“ und „degenerierten Adeligen“, die den Gegenstand der durch die Generalstaatsanwaltschaft … am 23. Oktober 2023 erhobenen Anklage wegen Beleidigung eines Amtsträgers bildet. Auch den türkischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichten müsste sich bei dieser Sachlage aufdrängen, dass die betreffenden Äußerungen des Klägers im Wesentlichen asyltaktisch motiviert waren (vgl. zu diesem Aspekt VG Augsburg, U.v. 29.6.2022 – Au 3 K 20.31411 – juris Rn. 55; VG Düsseldorf, B.v. 25.4.2024 – 28 L 714/24.A – juris Rn. 74). Zwar hat der Kläger im Rahmen der behördlichen Anhörung geltend gemacht, er habe bereits vor seiner Ausreise aus der Türkei Beiträge in den sozialen Medien, etwa zur Situation der Kurden in der Türkei, veröffentlicht. Offenbar hat die türkische Justiz diesen aber keine strafrechtliche Relevanz beigemessen, weil andernfalls davon auszugehen wäre, dass die gegen den Kläger auf Grund seiner Äußerungen in den sozialen Medien eingeleiteten Strafverfahren auch hierauf erstreckt worden wären. Gegen eine aus Sicht der türkischen Behörden bestehende strafrechtliche Relevanz der durch den Kläger vor seiner Ausreise getätigten Äußerungen in den sozialen Medien spricht ferner die Tatsache, dass der Kläger ungehindert legal auf dem Luftweg aus der Türkei ausreisen konnte, gegen diesen bis dato kein Straf- und Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war und es diesem – wie in der mündlichen Verhandlung angegeben – nach der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich war, beim türkischen Konsulat die Ausstellung eines Reisepasses zu beantragen und zu erhalten.
54
c) Weitere Umstände, die einen Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen könnten, sind nicht ersichtlich.
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2. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Stichhaltige Gründe für die Annahme, dass ihm in der Türkei ein ernsthafter Schaden droht, sind nicht ersichtlich. Mit Blick auf die vorstehenden Ausführungen zur Flüchtlingseigenschaft fehlt es namentlich an stichhaltigen Anhaltspunkten für eine dem Kläger drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG).
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3. Der Kläger hat ferner keinen Anspruch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
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Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte, dass es dem arbeitsfähigen und vor seiner Ausreise berufstätigen Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nicht gelingen würde, zumindest das notwendige wirtschaftliche Existenzminimum sicherzustellen. Insoweit ist der Kläger zudem auf die Unterstützung seiner in der Türkei ansässigen Familienangehörigen zu verweisen.
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4. Keine rechtlichen Bedenken bestehen auch mit Blick auf die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger gesetzte Ausreisefrist.
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Die Abschiebungsandrohung hat ihre Rechtsgrundlage in § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Nach § 38 Abs. 1 AsylG hatte die Beklagte dem Kläger eine Ausreisefrist von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu setzen.
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5. Nicht zu beanstanden ist schließlich die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG. In Bezug auf die behördliche Ermessensentscheidung über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots, die auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgelegt wurde, sind Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO nicht zu ersehen.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.