Inhalt

VG Regensburg, Beschluss v. 07.10.2024 – RO 7 S 24.1892
Titel:

Erfolgloser Eilantrag der Nachbarn gegen Baugenehmigung für bestehende Schreinerwerkstatt - Einschränkung Gebietserhaltungsanspruch

Normenketten:
VwGO § 80, § 80a, § 113 Abs. 1 S. 1
BauGB § 34
BauNVO § 4, § 6
BayBO Art. 2 Abs. 4 Nr. 19, Art. 60
BayVwVfG Art. 37 Abs. 1, Art. 44 Abs. 1
Leitsätze:
1. Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Nachbarantrag auf vorläufigen Rechtsschutz entfällt grundsätzlich mit der Fertigstellung des streitgegenständlichen Bauvorhabens, wenn der Nachbar eine Beeinträchtigung durch das Gebäude als solches vorläufig abwehren will. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn sich der Nachbar (auch) in der Nutzung der genehmigten baulichen Anlage in seinen Rechten verletzt sieht. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Gebietserhaltungsanspruch gibt grundsätzlich allen Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben in diesem Gebiet zur Wehr zu setzen. Der Nachbar hat bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Abwehranspruch des Nachbarn scheidet in Ausnahmefällen aus, wenn ein baugebietswidriges Vorhaben nur geringes bodenrechtliches Gewicht besitzt und deswegen ein „Umkippen“ des Gebietscharakters nicht zu befürchten ist. (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein besonders schwerwiegender Bestimmtheitsmangel, der ausnahmsweise zur Nichtigkeit einer Baugenehmigung führt, liegt insbesondere dann vor, wenn die Unbestimmtheit nicht nur einzelne Modalitäten der Leistungsangebote und des Betriebsablaufs, die für die genaue Reichweite einer potenziellen Nachbarrechtsverletzung von Bedeutung sein können, erfasst, sondern den eigentlichen Kerngegenstand des von der Baugenehmigung gestatteten Vorhabens selbst. (Rn. 72) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einschränkung des Gebietserhaltungsanspruchs, Bestimmtheitsgebot, Abgrenzung allgemeines Wohngebiet von Mischgebiet, Erlöschen der Baugenehmigung, Gebot der Rücksichtnahme, keine unzumutbaren Geruchs- und Staubbeeinträchtigungen, keine unzumutbaren Lärmimmissionen, Rechtsschutzbedürfnis, geringe bodenrechtliche Relevanz, Nichtigkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.12.2024 – 15 CS 24.1787
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28673

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird auf 3.750,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für eine bestehende Schreinerwerkstatt.
2
Die Antragsteller sind Miteigentümer des Grundstücks mit der Fl.-Nr. …1 der Gemarkung … (wie alle nachfolgend genannten Fl.-Nrn.), das mit einem Wohnhaus und Garagen bebaut ist.
3
Westlich des Grundstücks der Antragsteller befindet sich ein öffentlicher Parkplatz (Fl.-Nr. …2). Das Grundstück des Beigeladenen mit der Fl.-Nr. …3 grenzt im Osten an diesen öffentlichen Parkplatz.
4
Auf dem Beigeladenengrundstück Fl.-Nr. …3 wird seit mehreren Jahrzehnten eine Schreinerei betrieben. Mit Baugenehmigungen vom 27. Juni 1958 und 28. Dezember 1971 genehmigte das Landratsamt N. vorm Wald die Errichtung einer Schreinerwerkstatt (Az.: 85/58) sowie den Neubau einer Lagerhalle mit Lagerschuppen (Az.: 318/1963) auf dem Grundstück des Beigeladenen. Mit Bescheiden vom 15. Juli 1991 und vom 25. September 2012 erteilte das Landratsamt S. Baugenehmigungen für den Anbau eines Büros, Sarg- und Glaslagers, einer Garage und eines Spänebunkers an die bestehende Schreinerwerkstatt (Az.: 701/1991) und den Neubau einer Lagerhalle (Az.: 1070/2012, 1044/2012) auf dem Beigeladenengrundstück.
5
Nach den Feststellungen des Landratsamtes S. bieten die Antragsteller zwei in ihrem Wohnhaus gelegene Ferienwohnungen zur Vermietung an. Der Sohn der Antragsteller, Herr …, nutzt die grenzständige Garage auf dem Grundstück der Antragsteller zur Lagerung von Materialien für sein Gewerbe (Gas- und Wasserinstallation, Heizungsbau). Baugenehmigungen für die Nutzung der Ferienwohnungen und die Lagerung in der Garage liegen nicht vor.
6
Im Flächennutzungsplan der Gemeinde …, in Kraft getreten am 22. November 1996, sind die Grundstücke mit den Fl.-Nrn. …4, …5 und …3 als Mischgebiet ausgewiesen, alle weiteren Wohngrundstücke als allgemeines Wohngebiet. Ein Bebauungsplan existiert nicht. Das Beigeladenengrundstück befindet sich im Geltungsbereich eines Baulinienplans der … vom 7. Februar 1924 und des Generalbaulinienplans der Gemeinde … (Stand 1929).
7
Im Rahmen einer Baukontrolle am 22. September 2020 stellte das Landratsamt S. fest, dass die vorgefundene Nutzung und Aufteilung der Räume in der Schreinerei nicht von den erteilten Baugenehmigungen abgedeckt ist. Zum einen wurde das Büro anders als im Eingabeplan vom 15. Juli 1991 dargestellt positioniert, wobei eine in den Planzeichnungen vorhandene tragende Wand nicht ausgeführt wurde. Zum anderen befand sich in der errichteten Lagerhalle an der östlichen Gebäudeaußenwand eine Holzplatten-Zuschnitt-Maschine, die auch zur Produktion verwendet wird.
8
Mit Schreiben vom 6. April 2022 hörte das Landratsamt S. den Beigeladenen zu einer beabsichtigten Nutzungsuntersagung für den Fall an, dass der Beigeladene keinen entsprechenden Bauantrag für die Nutzungsänderung der bisher genehmigten Lagerhalle einreicht.
9
Mit Formblattantrag vom 5. September 2022 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung für das Vorhaben „Umbau bestehende Schreinerwerkstatt mit Nutzungsänderung Lagerhalle in Werkstatt mit Lager“ auf dem Grundstück Fl.-Nr. …3.
10
Am 23. Februar 2023 haben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erhoben mit dem Begehren, die Nutzung der Schreinerei auf dem Grundstück Fl.-Nr. …3 zu untersagen (Az. RO 7 K 23.287).
11
Die Gemeinde … erteilte mit Beschluss vom 29. September 2024 das gemeindliche Einvernehmen.
12
Mit Bescheid vom 17. Juli 2024 erteilte das Landratsamt S. die Baugenehmigung mit Nebenbestimmungen. Darin wurden Bescheinigungen zum vorbeugenden Brandschutz, Betriebsbeschreibungen, Stellungnahmen des Fachverbandes Schreinerhandwerk Bayern sowie eine Schalltechnische Untersuchung als „Nebenbestimmungen“ zum Bestandteil des Bescheids erklärt. Darüber hinaus wurde bestimmt, dass der Betrieb der Schreinerei innerhalb der Nachtzeit (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) nicht zulässig ist und, dass die Schreinerei so zu betreiben ist, dass der Beurteilungspegel, hervorgerufen durch die von der Schreinerei ausgehenden Geräusche, u.a. am Wohnhaus der Antragsteller den Immissionsrichtwert von 55 dB(A) tagsüber nicht überschreiten darf. Zur Begründung führt das Landratsamt S. im Wesentlichen aus, dass das Bauvorhaben in einem Mischgebiet liege. In diesem Mischgebiet befinde sich zusätzlich zur Schreinerei ein Brautmodengeschäft. In der Vergangenheit sei auf dem Grundstück Fl.-Nr. …5 über mehrere Jahrzehnte ein Elektroinstallationsbetrieb mit bis zu 25 Angestellten betrieben worden. In einem Mischgebiet seien sonstige Gewerbebetriebe regelzulässig. Im Verlauf des Verfahrens seien verschiedene nachbarliche Einwendungen eingegangen. Hauptsächlich sei in diesen auf die Kunststoffverarbeitung bzw. die allgemeinen Tätigkeiten in der Schreinerei und die nicht eingehaltenen Immissionswerte abgestellt worden. Für das Wohnhaus der Beschwerdeführer sei im Schallgutachten ein maximaler Beurteilungspegel in Höhe von 45,6 dB(A) ermittelt worden. Auch an den anderen untersuchten und schalltechnisch relevanten Immissionsorten seien die Immissionsrichtwerte unterschritten worden. Hinsichtlich der Staubemissionen sei aus fachlicher Sicht auszuführen, dass in der Schreinerei laut den Betriebsbeschreibungen im Schallgutachten und im Bauantrag eine Absaugungsanlage installiert und betrieben werde. Die Genehmigung habe erteilt werden können, weil nachbarschützende öffentlich-rechtliche Vorschriften nicht verletzt seien.
13
Gegen die Baugenehmigung vom 17. Juli 2024 (Az. 3.2-02024-2022) haben die Antragsteller mit Schreiben vom 8. August 2024 Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg erhoben, über die noch nicht entschieden wurde (Az. RO 7 K 24.1881). Am 9. August 2024 haben die Antragsteller hinsichtlich des genehmigten Bauvorhabens um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung tragen die Antragsteller im Wesentlichen vor: Der Gebietserhaltungsanspruch sei verletzt. Das Bauvorhaben des Beigeladenen liege in einem allgemeinen Wohngebiet und nicht in einem Mischgebiet. Neben der Schreinerei befinde sich ein Wohnhaus mit Brautmodengeschäft ohne nennenswerten Besucherverkehr. Eine typische Schreinerei sei nicht wohngebietsverträglich, eine Schreinerei mit industrieller Fertigung wie vorliegend erst recht nicht. Eine atypische nicht störende Betriebsweise sei der Genehmigung und den Bauantragsunterlagen nicht zu entnehmen. Es handle sich um einen typischen und damit das Wohnen störenden Gewerbebetrieb. Eine Schreinerei, die ihre Abfälle in der Heizung verbrenne, sei ebenso wohngebietsunverträglich. Die Schreinerei stoße für ein allgemeines Wohngebiet zu hohe Emissionen aus und sei gebietsunverträglich, da überwiegend Kunststoffe verarbeitet würden. Die ausgestoßenen Abgase und Stäube seien gesundheitsschädlich. Selbst in einem Mischgebiet sei die Schreinerei nicht regelzulässig, da sie das Wohnen wesentlich störe. Der Beigeladene könne sich auch nicht auf Bestandsschutz berufen. Die angeführten Genehmigungen würden sich immer nur auf bauliche Maßnahmen an einer bestehenden Schreinerei beziehen. Auch seien die baulichen Anlagen abweichend von den Genehmigungen (Az. 1044/2012 und 701/1991) errichtet worden, weshalb die erteilten Genehmigungen nicht ausgenutzt und somit erloschen seien. Insbesondere dürfte der Genehmigungsbescheid vom 11.12.1984 (Az.: 1491/84 und 1227/84) für die Erweiterung des Nebengebäudes (Tektur zum Neubau einer Garage) gegenstandslos geworden sein, da dieses Gebäude durch das Bauvorhaben Az. 1044/2012 ersetzt worden sei. Damit liege allenfalls eine Genehmigung für eine Werkstatt vom 27. Juni 1958 mit einer Größe von ca. 18 m x 8 m (ca. 140 m2) vor, die jedoch keine Bestandschutzwirkungen mehr entfalte, da von dieser Genehmigung ungenehmigt wesentlich abgewichen worden sei. Der im Jahr 1958 genehmigte Werkstattbereich sei durch Erweiterung der Wohnnutzung in den Werkstattbereich hinein um ca. 20 m² verkleinert und durch Einbau eines Büros um weitere ca. 25 m² verändert worden. Zugleich sei die Werkstatt zum Sarglager hin vergrößert und Verbindungstore bzw. Wandöffnungen zur „alten“ Werkstatt neu hergestellt worden. Ein Bestand, der Bestandsschutz genieße, sei daher nicht mehr vorhanden. Selbst wenn Bestandsschutz abzuleiten wäre, könne mangels Betriebsbeschreibung der Umfang der damaligen Genehmigung nicht ermittelt werden. Diese Genehmigung sei deshalb wegen Unbestimmtheit nichtig, da ihr ein Genehmigungsinhalt nicht entnommen werden könne. Auch Lärmimmissionen durch Lkw-Fahrverkehr und durch die Betriebsweise seien zu rügen. Die Immissionen des Betriebs seien für die Antragsteller nicht nur rücksichtslos, sondern auch gesundheitsschädlich, da sie an gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden würden. Aus dem Kamin der Schreinerei steige dunkler Rauch auf, der sich von den Abgasfahnen der umgebenden Wohnhäuser abhebe. Diese Abgase seien auch deutlich geruchlich wahrnehmbar und nicht als Holzbrand, sondern als Kunststoffbrand zu identifizieren. Die Absauganlage führe in den Spänebunker. Im Spänebunker würden die Späne gesammelt und anschließend verbrannt. Dass eine Differenzierung der Späne zwischen Holzspänen und Kunststoffabfällen vorgenommen werde, sei weder in den Betriebsbeschreibungen dargelegt, noch erläutert, noch durch technische Vorkehrungen ausreichend belegt. Die angefochtene Baugenehmigung nehme keine Rücksicht auf spielende Kinder und den benachbarten Spielplatz. Zudem sei die Baugenehmigung zu unbestimmt, da sie keine Beschränkungen zum Betrieb und zum Verbrennen der „Späne“ vorsehe. Die Betriebsbeschreibung vom 25. August 2022 sei falsch und habe mehrmals berichtigt werden müssen. Die Baugenehmigung sei auch deswegen unbestimmt, weil auf Anlagen verwiesen werde, ohne inhaltlich in die einzelnen Dokumente einzusteigen. Im Übrigen seien nach dem Baulinienplan vom 7. Februar 1924 und dem Generalbaulinienplan der Gemeinde … (Stand 1929) die Baulinien von der Lagerhalle mit Werkstatt überschritten, da eine Bebauung nur entlang der Straße „…“ mit einer Tiefe von ca. 10 m festgesetzt sei.
14
Die Antragsteller beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 8. August 2024 gegen die Baugenehmigung der Beklagten vom 17. Juli 2024, Az.: 3.2-02024/2022, für den Umbau der Schreinerwerkstatt und den dazugehörigen Gebäuden zum Betrieb einer Schreinerei auf dem Grundstück … in …, Fl.-Nr. …3, anzuordnen.
15
Das Landratsamt S. beantragt für den Antragsgegner,
den Antrag abzulehnen.
16
Ergänzend zur Begründung des streitgegenständlichen Bescheids trägt das Landratsamt S. Folgendes vor: Soweit die Antragsteller unter Verweis auf die Betriebsbeschreibung vom 25. August 2022 anführen, dass im streitgegenständlichen Betrieb überwiegend Verbundwerkstoffe auf Kunststoffbasis verarbeitet würden, handele es sich um eine reine Mutmaßung. In der Betriebsbeschreibung würden lediglich die in der Schreinerei verarbeiteten Materialien aufgeführt, was zur Bestimmtheit der Baugenehmigung beitrage. Mit dem Schallgutachten vom 11. November 2022 sei nachgewiesen, dass u. a. auch am Immissionsort der Antragsteller der nach der TA Lärm in einem allgemeinen Wohngebiet maximal zulässige Immissionsrichtwert von 55 dB(A) tagsüber eingehalten bzw. deutlich unterschritten sei. Die in der Werkstatt anfallenden Späne und Stäube würden abgesaugt und die abgesaugte Luft werde mittels filterndem Abscheider gereinigt. Die gereinigte Luft werde dann wieder in die Schreinerei zurückgeführt. Diese Betriebsweise entspreche dem Stand der Technik. Bei unangekündigten Ortseinsichten seien im Umfeld der Schreinerei keinerlei Holzspäne oder Holzstäube festgestellt worden. Die von der Antragstellerseite angesprochenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen seien somit nicht auf die Betriebsweise der Schreinerei zurückzuführen. Hinsichtlich des angeblich erloschenen Bestandsschutzes der Schreinerei sei festzuhalten, dass die mit Bauantrag genehmigten Umbauten (Anbau eines Büros, Sarg- und Glaslagers, einer Garage und eines Spänebunkers an die bestehende Schreinerwerkstatt) größtenteils umgesetzt worden seien und nur geringfügige Änderungen (Änderung der Wände und Öffnungen im Inneren) vorgenommen worden seien. Die Baugenehmigungen gelten daher nicht als erloschen. Zwischenzeitlich habe der Bauherr zwei weitere Bestandsgenehmigungen („Schreinerwerkstätte und Garage“ (Az. 6/1958); „Neubau einer Lagerhalle und Lagerschuppen“ (Az. 318/1963)) des Landratsamts N. vorm Wald vorlegen können, welche den Bestandsschutz der Schreinerei bestätigen würden. Die Schreinerei werde nach Auskunft des Bauherrn bereits in dritter Generation betrieben, was auch ein Auszug aus der Eintragung in die Handwerksrolle bestätige. Für den Betrieb bzw. den Bestand der Schreinerei würden somit die erforderlichen Genehmigungen vorliegen. Dem Gebot der Rücksichtnahme werde ausreichend Rechnung getragen, da die vorgeschriebenen Werte der TA-Lärm eingehalten seien. Soweit die Antragsteller ausführen würden, dass die Baugenehmigung unbestimmt sei, da sie keine Beschränkung zum Betrieb der Feuerungsanlage und zum Verbrennen der „Späne“ vorsehe, sei anzuführen, dass Anforderungen an die zugelassenen Brennstoffe und Anforderungen an die Feuerungsanlage in der ersten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (1. BImSchV) geregelt seien. Spezielle Auflagen in baurechtlichen Genehmigungsbescheiden seien somit offenkundig obsolet.
17
Der Beigeladene beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Der Antrag sei unbegründet. Der Gebietserhaltungsanspruch sei nicht verletzt. Die Eigenart der näheren Umgebung entspreche keinem Wohngebiet. Auch das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht verletzt. Die Baugenehmigung enthalte zahlreiche Nebenbestimmungen, die den Betrieb des Beigeladenen im Interesse der Nachbarn und zur Wahrung der gebotenen Rücksichtnahme einschränken würden. Es treffe nicht zu, dass das Vorhaben des Beigeladenen zu Lasten der Antragsteller unzumutbare Immissionen hervorrufe. Bereits die Behauptung, die Schreinerei sei ein Schwarzbau, sei falsch. Der Großvater des Beigeladenen habe die Schreinerei 1925 gegründet und ordnungsgemäß in der Handwerksrolle eintragen lassen. Er habe das erste Haus in der Straße „…“ gebaut. Das zweite Gebäude sei vom Elektromeister … errichtet worden. 1958 habe der Großvater des Beigeladenen den Betrieb an dessen Vater übergeben. Dieser habe die Werkstatt gebaut, wie sie zum Teil heute noch bestehe. Die Baumaßnahmen seien entsprechend genehmigt worden. Es würden auch nicht überwiegend Verbundwerkstoffe aus Kunststoff verarbeitet werden. Der Betrieb des Beigeladenen sei eine handwerklich geführte Schreinerei mit einem „Produktmix“. Es würden Möbel, Küchen, Haustüren, Treppen und andere Gegenstände gefertigt. Dabei würden auch neue Werkstoffe verwendet werden, wie sie ein Schreiner heute allgemein verarbeiten würde, z.B. wasserfeste Purenitplatten aus recyceltem PUR-Material. Unzutreffend sei auch, dass unzulässig Abfälle verbrannt würden. Verbrannt würden nur zugelassene Holzabfälle aus eigener Fertigung. Zudem sei anzumerken, dass sich im „Wohnhaus“ der Antragsteller die nicht genehmigte Heizungsbau-, Sanitär- und Spengler Firma des Sohnes … befinde. Als Werkstatt und Lager der Firma würden die auf dem Grundstück vorhandenen Garagen benutzt. Die Materialanlieferung für diese Heizungsbaufirma finde täglich frühmorgens mit großen LKWs statt.
19
Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 16. September 2024 wurde der Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung abgelehnt.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze im vorläufigen Rechtsschutz- und in den Hauptsacheverfahren (Az. RO 7 K 23.287 und RO 7 K 24.1881) sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
21
Der Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage der Antragsteller gegen die dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 7. Juli 2024 (Az. RO 7 K 24.1881) hat keinen Erfolg.
22
A. Es kann dahinstehen, ob der Eilantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig ist.
23
Zwar ist der Eilantrag gemäß § 80a Abs. 3, Abs. 1 Nr. 2, § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft, weil die gegen die Baugenehmigung erhobene Klage der Antragsteller keine aufschiebende Wirkung entfaltet (vgl. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 212a Abs. 1 BauGB).
24
Es spricht jedoch einiges dafür, dass das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis jedenfalls hinsichtlich der gebäudebezogenen Beeinträchtigungen fehlt, weil das Bauvorhaben im Zeitpunkt der Stellung des Antrags im einstweiligen Rechtsschutzverfahren bereits fertiggestellt und die gewerbliche Nutzung aufgenommen war.
25
Das Rechtsschutzbedürfnis für einen Nachbarantrag auf vorläufigen Rechtsschutz entfällt grundsätzlich mit der Fertigstellung des streitgegenständlichen Bauvorhabens, wenn der Nachbar eine Beeinträchtigung durch das Gebäude als solches vorläufig abwehren will. Eine erst nach Fertigstellung des Bauvorhabens ergehende Anordnung der aufschiebenden Wirkung und eine ihr nachfolgende Baueinstellung durch die Behörde würden in diesem Fall die Rechtsstellung des Nachbarn regelmäßig nicht mehr verbessern, weil hinsichtlich der geltend gemachten Rechtsverletzung bereits vollendete Tatsachen geschaffen wurden. Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn sich der Nachbar (auch) in der Nutzung der genehmigten baulichen Anlage in seinen Rechten verletzt sieht. In dem Fall kann diese Rechtsverletzung mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch nach Fertigstellung des Rohbaus noch vorläufig verhindert und somit auch die Rechtsstellung des Nachbarn noch verbessert werden (vgl. BayVGH, B.v. 29.9.2014 – 2 CS 14.1786 – juris Rn. 3; B.v. 14.6.2007 – 1 CS 07.265 – juris Rn. 16; VG München, B.v. 26.11.2015 – M 8 SN 15.4522 – juris Rn. 23; Eyermann, 16. Aufl. 2022, VwGO § 80 Rn. 83).
26
Hiervon ausgehend können die Antragsteller ihre Rechtsstellung wohl nicht mehr verbessern, da der Umbau der bestehenden Schreinereiwerkstatt mit Nutzungsänderung der Lagerhalle in eine Werkstatt mit Lager bereits vollständig umgesetzt wurden. Dies ergibt sich sowohl aus dem Vortrag der Antragsteller, die sich insbesondere gegen die von der Schreinerei ausgehenden Emissionen richten, als auch aus der Baukontrolle am 22. September 2020 durch das Landratsamt S. Für eine Vollendung der Bauausführungen und die aufgenommene Nutzung spricht auch, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung erst nach Aufforderung durch das Landratsamt S. beantragt wurde, um das bereits verwirklichte Bauvorhaben und dessen Nutzung nachträglich zu legalisieren.
27
Soweit sich die Antragsteller durch die bereits aufgenommene Nutzung der genehmigten Anlage in ihrem Gebietserhaltungsanspruch und dem Gebot der Rücksichtnahme verletzt sehen, kann die Rechtsstellung der Antragsteller nur insoweit verbessert werden, als – im Falle einer Rechtsverletzung der Antragsteller – die weitere Nutzung der Holzplatten-Zuschnitt-Maschine in der Lagerhalle bis zur abschließenden Entscheidung in der Hauptsache verhindert wird (vgl. BayVGH, B.v. 4.3.2009 – 2 CS 08.3331 – juris und B.v. 12.8.2010 – 2 CS 10.26 – juris; OVG Saarlouis vom 21.8.1997 NVwZ-RR 1998, 636). Darüber hinausgehende Nutzungen in Zusammenhang mit der Schreinerei sind möglicherweise von bestandskräftigen Baugenehmigungen gedeckt.
28
B. Jedenfalls erweist sich der Antrag in der Sache als unbegründet.
29
Ein Antrag eines Nachbarn auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Baugenehmigung hat dann Erfolg, wenn das Aussetzungsinteresse des Nachbarn das öffentliche Interesse am Sofortvollzug des streitgegenständlichen Verwaltungsakts bzw. das Vollzugsinteresse des Bauherrn überwiegt. Die vorzunehmende Interessenabwägung richtet sich in der Regel maßgeblich nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage. Dabei kommt es im Rahmen einer Nachbarklage nicht darauf an, ob eine erteilte Baugenehmigung in objektiver Hinsicht umfassend rechtmäßig ist. Eine Nachbarklage hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Nachbar in eigenen Rechten verletzt wird, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Maßgeblich ist daher, ob der Nachbar in subjektiven Rechten verletzt wird, d.h. ob die Baugenehmigung gegen Vorschriften verstößt, die zumindest auch seinem Schutz dienen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 19.9.1986 – 4 C 8/84 – juris). Eine Rechtsverletzung kommt auch nur insoweit in Betracht, als die Baugenehmigung überhaupt Regelungs- bzw. Feststellungswirkung entfaltet, also soweit die ggf. verletzte drittschützende Rechtsvorschrift überhaupt zum Prüfgegenstand im Genehmigungsverfahren gehört.
30
Bei summarischer Prüfung nach Aktenlage wird die Klage auch keinen Erfolg haben, da die streitgegenständliche Baugenehmigung die Antragsteller nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
31
Gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Bei dem streitgegenständlichen Vorhaben handelt es sich um einen Sonderbau im Sinne des Art. 2 Abs. 4 Nr. 19 BayBO (Anlagen mit erhöhter Brandgefahr). Der Prüfungsumfang der Bauaufsichtsbehörde und die Reichweite der Feststellungswirkung der Baugenehmigung ergeben sich somit aus Art. 60 BayBO.
32
Hiervon ausgehend liegt keine Verletzung drittschützender und vom Prüfungsumfang erfasster Rechte der Antragsteller durch die streitgegenständliche Baugenehmigung vor.
33
I. Die Baugenehmigung ist hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG.
34
Gemäß Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss die im Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten – gegebenenfalls nach Auslegung – eindeutig zu erkennen und einer unterschiedlichen subjektiven Bewertung nicht zugänglich sein. Maßgebend sind die Umstände des Einzelfalls, wobei Unklarheiten zu Lasten der Behörde gehen. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt vor, wenn die Unbestimmtheit der Baugenehmigung ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. Eine Baugenehmigung ist daher aufzuheben, wenn wegen Fehlens oder Unvollständigkeit der Antragsunterlagen Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht eindeutig ausgeschlossen werden kann. Der Inhalt der Baugenehmigung bestimmt sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2014 – 4 B 21.14 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 10.1.2022 – 1 CS 21.2776 – juris Rn. 13, B.v. 23.9.2020 – 1 CS 20.1595 – juris Rn. 3; B.v. 27.11.2019 – 9 ZB 15.442 – juris Rn. 10).
35
Nach diesen Grundsätzen erweist sich die streitgegenständliche Baugenehmigung als hinreichend bestimmt, denn die Antragsteller können anhand des Bescheids vom 17. Juli 2024 und der mit Genehmigungsvermerk versehenen Bauvorlagen feststellen, in welchem Umfang sie in ihren Nachbarrechten betroffen sind.
36
Das zur Prüfung gestellte Bauvorhaben „Umbau bestehende Schreinerwerkstatt mit Nutzungsänderung Lagerhalle in Werkstatt mit Lager“ umfasst eine gewerbliche Nutzung. Bestandteil der Baugenehmigung sind die mit Genehmigungsvermerk (Prüfstempel) versehenen Bauvorlagen, die eindeutig bezeichnet wurden. Unter Berücksichtigung dieser Bauvorlagen ist für die Antragsteller erkennbar, mit welchen Lärmimmissionen durch An- und Abfahrtsverkehr, den Einsatz von Maschinen und sonstigen Betriebsabläufen zu rechnen ist. Durch Nebenbestimmungen wurden auch ausdrücklich die auf das Wohnhaus der Antragsteller einwirkenden Lärmimmissionen begrenzt. Überdies enthalten die Betriebsbeschreibungen Angaben zu Betriebszeiten, Schreinereierzeugnissen, eingesetzten Maschinen und Rohstoffen bzw. Materialien. Schließlich regelt die Baugenehmigung Maßnahmen zur Minderung von Abgasen und Staubemissionen.
37
Unschädlich ist, dass in der Bescheidsbegründung die in Bezug genommenen Dokumente inhaltlich nicht erörtert werden. Für die Bestimmtheit der Baugenehmigung kommt es allein darauf an, ob ein Nachbar erkennen kann, welche Nutzungen konkret genehmigt wurden sowie, ob und in welchem Umfang er durch diese Nutzungen in subjektiven Rechten betroffen ist. Ob eine Verletzung von Nachbarrechten, wie etwa ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme vorliegt, ist keine Frage der Bestimmtheit der Baugenehmigung, sondern der bauordnungs- und bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens.
38
Soweit die Antragsteller anführen, die Baugenehmigung sei unbestimmt, weil sie keine Beschränkung hinsichtlich der Verbrennung von Spänen vorsehe, dringen sie mit diesem Vortrag nicht durch. Der Beigeladene legt durch die Angaben im Bauantrag und in den Bauvorlagen den Gegenstand des Baugenehmigungsverfahrens fest. Etwas im Bauantrag nicht oder anders Bezeichnetes ist im Baugenehmigungsverfahren nur maßgeblich, wenn sich dies durch objektive Umstände ergibt (Stelkens/Bonk/Sachs/Schmitz, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 22 Rn. 45).
39
Hiervon ausgehend umfasst das zur Prüfung gestellte Vorhaben keine Feuerungsanlage. Der Feststoffbrennkessel, in dem nach dem Vortrag der Antragsteller auch Kunststoff verbrannt werden soll, war Gegenstand der vom Landratsamt S. erteilten Baugenehmigung vom 15. Juli 1991 für den Anbau eines Büros, Sarg- und Glaslagers, einer Garage und eines Spänebunkers an die bestehende Schreinerwerkstatt (Az.: 701/1991). Eine zweckwidrige Nutzung der Feuerungsanlage ist demnach nicht Gegenstand dieses Verfahrens, sondern im Rahmen eines Anspruchs auf bauaufsichtliches Einschreiten zu prüfen.
40
II. Ein Verstoß gegen das gemäß Art. 60 Satz 1 Nr. 1a BayBO zu prüfende Bauplanungsrecht zu Lasten der Antragsteller ist nicht festzustellen.
41
1. Eine Verletzung des drittschützenden Gebietserhaltungsanspruchs scheidet aus.
42
Der Gebietserhaltungsanspruch gibt grundsätzlich allen Eigentümern von Grundstücken in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Baugebiet im Sinne von § 1 Abs. 2 und 3 BauNVO das Recht, sich gegen hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nicht zulässige Vorhaben in diesem Gebiet zur Wehr zu setzen. Der Nachbar hat also bereits dann einen Abwehranspruch, wenn das baugebietswidrige Vorhaben im jeweiligen Einzelfall noch nicht zu einer tatsächlich spürbaren und nachweisbaren Beeinträchtigung führt. Der Abwehranspruch wird grundsätzlich bereits durch die Zulassung eines mit der Gebietsfestsetzung unvereinbaren Vorhabens ausgelöst. Begründet wird dies damit, dass im Rahmen des nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnisses jeder Planbetroffene das Eindringen einer gebietsfremden Nutzung und damit die schleichende Umwandlung des Baugebiets verhindern können soll (vgl. BVerwG, B.v. 2.2.2000 – 4 B 87/99 – juris Rn. 9; BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 4 C 28/91 – juris Rn. 12). Der Gebietserhaltungsanspruch gilt wegen der Gleichstellung von faktischem und beplantem Gebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB auch für faktische Baugebiete (vgl. BayVGH, B.v. 28.4.2020 – 9 ZB 18.1493 – juris).
43
a) Da für das Baugrundstück kein Bebauungsplan existiert, richtet sich die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Bauvorhabens des Beigeladenen nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO. Die Eigenart der näheren Umgebung entspricht einem faktischen allgemeinen Wohngebiet, in dem die streitgegenständliche Schreinerei nicht zulässig ist.
44
Die für die Beurteilung der Zulässigkeit nach § 34 Abs. 2 BauGB maßgebliche nähere Umgebung wird dadurch ermittelt, dass in zwei Richtungen, nämlich in Richtung vom Vorhaben auf die Umgebung und in Richtung von der Umgebung auf das Vorhaben geprüft wird, wie weit die jeweiligen Auswirkungen reichen. Zu berücksichtigen ist die Umgebung einmal insoweit, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zweitens insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Dabei ist die nähere Umgebung für die in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB bezeichneten Kriterien jeweils gesondert abzugrenzen. Die für die Bestimmung des Bebauungszusammenhangs erforderliche wertende und bewertende Betrachtung der konkreten tatsächlichen Verhältnisse kann nur an äußerlich erkennbare, also mit dem Auge wahrnehmbare Gegebenheiten der vorhandenen Bebauung und der übrigen Geländeverhältnisse anknüpfen (vgl. BVerwG, U. v. 26.5.1978 – 4 C 9.77, juris Rdnr. 33; B. v. 13.5.2014 – 4 B 38.13, juris Rn. 7; OVG NRW, U. v. 6.3.2015 – 7 A 1777/13, juris Rn. 25; Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 34 Rd. 36). Bei der Ermittlung der Eigenart der näheren Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 und 2 BauGB sind singuläre Anlagen, die in einem auffälligen Kontrast zu der sie umgebenden, im wesentlichen homogenen Bebauung stehen, regelmäßig als Fremdkörper unbeachtlich, soweit sie nicht ausnahmsweise ihre Umgebung beherrschen oder mit ihr eine Einheit bilden. Derartige „Ausreißer“ sind aufgrund ihrer Singularität bei der Bestimmung des Gebietscharakters gem. § 34 Abs. 2 BauGB i.V. mit § 1 Abs. 2, §§ 2 ff. BauNVO sowie bei der Abgrenzung eines faktischen Gebietscharakters der vorgenannten Art von sog. Gemengelagen außer Acht zu lassen (BayVGH, B.v. 24.2.2020 – 15 ZB 19.1505 –, Rn. 9, juris).
45
Die nähere Umgebung ist deutlich vom Vorherrschen der Wohnnutzung geprägt und entspricht einem faktischen allgemeinen Wohngebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO.
46
Allgemeine Wohngebiete dienen gemäß § 4 Abs. 1 BauNVO vorwiegend dem Wohnen. Der Baugebietstyp ist durch das Vorherrschen der Wohnnutzung gekennzeichnet. Der Wohngebietscharakter muss eindeutig als vorherrschend erkennbar sein. Dies setzt voraus, dass Gebäude mit Wohnungen, wenn auch gemischt genutzt, im allgemeinen Wohngebiet zahlenmäßig überwiegen.
47
Nach oben genannten Grundsätzen legt das Gericht unter Berücksichtigung der Lagepläne sowie der Luft- und Straßenbilder des BayernAtlas, Google „Street View“ und Apple „Karten“ als prägende Umgebung die Bebauung entlang der Straße „…“, im Westen beginnend auf Höhe der Grundstücke Fl.-Nrn. …4 und …6 bis mindestens zu den Grundstücken Fl.-Nrn. …7 und …8 zugrunde.
48
Das Gericht folgt insoweit nicht der Auffassung des Landratsamtes S., dass der öffentliche Parkplatz auf dem gemeindlichen Grundstück Fl.-Nr. …2 eine trennende Wirkung entfaltet und nur die Grundstücke mit den Fl.-Nrn. …4, …5 und …3 die nähere Umgebung darstellen. Vielmehr ist ein größerer Umgriff der näheren Umgebung geboten.
49
Das Vorhabengrundstück prägt nicht nur die unmittelbar angrenzenden Grundstücke und wird auch nicht nur durch die von diesen Grundstücken ausgehende Nutzung geprägt, weil jedenfalls die Grundstücke mit den Fl.-Nrn. …5 und …3 neben einer gewerblichen Nutzung auch Wohnnutzung aufweisen.
50
Im Rahmen der vom Gericht in Betracht genommenen näheren Umgebung befinden sich überwiegend Wohnnutzungen. Nur auf den Grundstücken mit den Fl.-Nrn. …5 (Brautmodengeschäft) und …9 (Spielplatz, Kirche) sind – wenn auch nur geringfügig – Anlagen für gewerbliche und sonstige Zwecke vorhanden. Zu berücksichtigen ist insbesondere die gewerbliche Nutzung auf dem Grundstück der Antragsteller Fl.-Nrn. …1 in Form von Ferienwohnung und Lagerung für den Installationsbetrieb des Herrn … Die Kirche ist gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO als Anlage für kirchliche Zwecke regelzulässig (Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, BauNVO, 3. Auflage 2024 § 4 Rn. 36; BeckOK BauNVO/Hornmann, 38. Ed. 15.7.2024, BauNVO § 4 Rn. 77).
51
Gleiches gilt für den Spielplatz als Anlage für sportliche Zwecke (Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, BauNVO § 4 Rn. 67; BeckOK BauNVO/Hornmann, 38. Ed. 15.7.2024, BauNVO § 4 Rn. 99).
52
Die Ferienwohnungen und das Brautmodengeschäft sind als nicht störende Gewerbebetriebe in einem allgemeinen Wohngebiet gem. § 4 Abs. 3 Nr. 2 i.V.m. § 13a Satz 1 BauNVO ausnahmsweise zulässig (BeckOK BauNVO/Hornmann, 38. Ed. 15.7.2024, BauNVO § 4 Rn. 118a).
53
Unerheblich ist, dass für die gewerblichen Nutzungen auf dem Grundstück der Antragsteller keine Baugenehmigung vorliegt. Maßgeblich für die Eigenart der näheren Umgebung sind die tatsächlich vorhandenen baulichen Anlagen. Auch nicht genehmigte und nicht genehmigungsfähige bauliche Anlagen sind zu berücksichtigen, wenn sie von der zuständigen Behörde in einer Weise geduldet werden, dass kein Zweifel daran besteht, dass sie sich mit dem Vorhandensein der Gebäude und deren Nutzung abgefunden hat (vgl. BVerwG, U. v. 23.11.2016 – 4 CN 2.16, juris Rn. 26; U.v. 6.11.1968 – 4 CB 12.88).
54
Aus einem Aktenvermerk vom 8. September 2020 ergibt sich, dass das Landratsamt S. seit mehreren Jahren Kenntnis von den nicht genehmigten, gewerblichen Nutzungen auf dem Grundstück der Antragsteller hatte (Az. 3.2-01007/2020-bk, Dokument 5, Seite 1 der Behördenakte). „Aus Verhältnismäßigkeitsgründen“ hat das Landratsamt S. jedoch „von der weiteren Verfolgung der beiden offensichtlich rechtswidrigen Nutzungen abgesehen.“ (Az. 3.2 -02024/2022-ec, Dokument 2, Seite 2 der Behördenakte). Folglich ist davon auszugehen, dass die nicht genehmigten Nutzungen zu Ferienwohnungen und Lager von der Bauaufsichtsbehörde geduldet werden.
55
Soweit das Vorhabengrundstück wegen der bestehenden Schreinerei auch für gewerbliche Zwecke genutzt wird, stellt dies einen Ausreißer dar, der die nähere Umgebung nicht prägt. Von der Schreinerei gehen Lärm- und Staubemissionen aus, die regelmäßig die Wohnnutzung stören (vgl. BayVGH; U.v. 22. Juli 2004 – 26 B 04.931 –, Rn. 23, juris; VG Würzburg, U. v. 9.10.2014 – W 5 K 13.140 – juris Rn. 27; OVG NRW, U. v. 9.10.2003 – 10 a D 55/01.NE – juris Rn. 89; OVG Bautzen, B. v. 23.8.2010 – 1 B 121/10, BeckRS 2010, 53925).
56
Weitere Handwerksbetriebe konnten nach summarischer Prüfung nicht in der näheren Umgebung ermittelt werden. Der ehemals bestehende Elektrobetrieb auf dem Grundstück Fl.-Nr. …5 ist außer Acht zu lassen, da die Nutzung vor längerer Zeit aufgegeben wurde.
57
Soweit vom Beigeladenen vorgetragen wird, dass sich in der Garage und im Wohnhaus der Antragsteller der Heizungsbau-, Sanitär- und Spengler-Betrieb des Herrn … befindet, ist dies gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren weiter aufzuklären. Selbst wenn sich dieser Vortrag im Rahmen einer Ortseinsicht bestätigen sollte, führt dies zu keiner anderen rechtlichen Einschätzung. Käme das Gericht zur Auffassung, dass der Betrieb des Herrn … ebenfalls einen „Ausreißer“ darstellt, bliebe es bei der Einstufung eines faktischen allgemeines Wohngebiets nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO. Würde der Betrieb hingegen dazu führen, dass der Gebietscharakter „umkippt“ und die nähere Umgebung stattdessen einem faktischen Mischgebiet gem. § 6 BauNVO entspricht, wäre die streitgegenständliche Schreinerei gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO regelzulässig. Ein Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch läge in diesem Fall nicht vor. Dies gälte erst recht bei der Annahme, dass die nähere Umgebung einer Gemengelage entspräche. Bei Annahme einer Gemengelage würde ein Gebietserhaltungsanspruch schon von vorneherein mangels Schicksalsgemeinschaft in einem (faktischen) Baugebiet nicht in Betracht kommen.
58
Nach einer typisierenden Betrachtungsweise ist die Schreinerei des Beigeladenen kein ausnahmsweise zulässiger, nicht störender Gewerbebetrieb gem. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO. Eine Zulassung der Schreinerei wegen atypischer Umstände des konkreten Betriebs scheidet aus. Nach den Stellungnahmen des Fachverbandes Schreinereihandwerk Bayern entspricht die Schreinerei mit einer Betriebsgröße von vier Mitarbeitern, der konkreten Betriebsführung den ausgeführten Tätigkeiten einem klassischen handwerklichen Schreinereibetrieb (vgl. Behördenakte S. 26, Schreiben vom 3. Mai 2023).
59
Auf die von den Antragstellern aufgeworfene Frage, ob die Verarbeitung von Kunststoffen noch dem klassischen Schreinereihandwerk zuzuordnen ist, kommt es demnach nicht mehr an. Unabhängig davon, ob in einer Schreinerei ausschließlich Holz oder auch Kunststoffe verarbeitet werden, handelt es sich nicht um einen ausnahmsweise zulässigen, nicht störenden Gewerbebetrieb gem. § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO.
60
Darüber hinaus scheidet eine Zulassung nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO auch deshalb aus, da die Schreinerei nicht der Versorgung des Gebietes dient. Aus den Betriebsbeschreibungen ergibt sich, dass der Beigeladene unter anderem als Zulieferer Sonderteile in Maßanfertigung für konkrete Bauvorhaben anfertigt.
61
b) Die Antragsteller können sich dennoch nicht auf einen Verstoß gegen den Gebietserhaltungsanspruch berufen, weil das streitgegenständliche Bauvorhaben von so geringem bodenrechtlichen Gewicht ist, dass keine schleichende Umwandlung des Gebietscharakters droht.
62
Nach den dargestellten Maßstäben kann sich ein Nachbar zwar grundsätzlich gegen ein baugebietswidriges Vorhaben auch ohne Vorliegen einer tatsächlichen und konkreten Beeinträchtigung wehren. Ein Abwehranspruch des Nachbarn scheidet in Ausnahmefällen jedoch aus, wenn ein baugebietswidriges Vorhaben nur geringes bodenrechtliches Gewicht besitzt und deswegen ein „Umkippen“ des Gebietscharakters nicht zu befürchten ist (vgl. VGH Kassel, U. v. 9.8.2007 – 3 UE 684/07, BeckRS 2007, 28373 Rn. 32 f.; Schröer, NZBau 2008, 169 (170); Schröer, NJW 2009, 484 (485)).
63
Für eine geringe bodenrechtliche Relevanz spricht vorliegend, dass von der streitgegenständlichen Schreinerei keine negative Vorbildwirkung ausgehen kann. In der näheren Umgebung befinden sich keine weiteren bestandsgeschützten Handwerksbetriebe. Auch eine bauliche Erweiterung anderer gewerblicher Nutzungen scheidet aus, da die Grundstücke in der näheren Umgebung weitestgehend baulich ausgenutzt und keine Baulücken mehr vorhanden sind.
64
Darüber hinaus ist das Vorhaben von geringem bodenrechtlichen Gewicht, weil die bestehenden baulichen Anlagen nicht erweitert werden. Denn weder die Schreinereiwerkstatt noch die westlich gelegene Lagerhalle werden durch Baumaßnahmen derart ergänzt oder ausgebaut, dass das Volumen der Baukörper vergrößert wird. Die als „Umbau“ der bestehenden Schreinerwerkstatt bezeichnete Baumaßnahme beschränkt sich auf die innere räumliche Umgestaltung, da in dem Werkstattgebäude entgegen des Eingabeplans das Büro anders positioniert wurde und eine tragende Wand nicht ausgeführt wurde. Diese Umbaumaßnahme ist genehmigungspflichtig, weil sie die Standfestigkeit der Schreinereiwerkstatt berührt und damit eine statische Neubewertung des Gebäudes erforderlich macht (vgl. Stüer, Der Bebauungsplan, Rn. 1349). Dies berührt jedoch nicht die Nutzung des Gebäudes.
65
Soweit die auf dem Beigeladenengrundstück befindlichen Gebäude für gewerbliche Zwecke, d.h. für die Schreinerei genutzt werden, liegen auch hierfür Baugenehmigungen vor. Mit Baugenehmigungen des Landratsamtes N. vom Wald vom 27. Juni 1958 und 28. Dezember 1971 (Az.: 85/58, 318/1963) wurden nicht nur die bauliche Errichtung einer Schreinerwerkstatt sowie der Neubau einer Lagerhalle mit Lagerschuppen genehmigt. Die Genehmigungswirkung erstreckt sich auch auf die gewerbliche Nutzung der Werkstatt und der Lagerhalle. Darüber hinaus wurden mit Bescheiden vom 15. Juli 1991 und vom 25. September 2012 Baugenehmigungen für den Anbau eines Büros, Sarg- und Glaslagers, einer Garage und eines Spänebunkers an die bestehende Schreinerwerkstatt (Az.: 701/1991) und den Neubau einer Lagerhalle (Az.: 1070/2012, 1044/2012) erteilt. Unter Berücksichtigung dieser Baugenehmigungen ergibt sich, dass die streitgegenständliche Lagerhalle im Nordwesten des Beigeladenengrundstücks seit der Errichtung im Zusammenhang mit den gewerblichen Tätigkeiten als Schreinerei genutzt wurde. Dass die gewerbliche Nutzung dieser Lagerhalle dahingehend „erweitert“ wird, dass diese nicht nur ausschließlich zur Lagerung, sondern auch als Werkstatt genutzt wird, ist im Hinblick auf den Gebietscharakter unerheblich. Die Lagerhalle wurde vor Erteilung der streitgegenständlichen Baugenehmigung für Zwecke der Schreinerei gewerblich genutzt und soll nunmehr ebenfalls für gewerbliche Zwecke der Schreinerei genutzt werden.
66
Die Nutzungserweiterung der Lagerhalle ist derart geringfügig, dass der Gebietscharakter nicht umzukippen droht. Genehmigungspflichtig ist die Nutzungserweiterung von ehemals „Lagerung“ zu „Lagerung mit Werkstatt“ nur deshalb, weil durch die erweiterte Nutzung eine neue immissionsschutzrechtliche Beurteilung erforderlich ist. In diesem Fall bemisst sich der nachbarliche Rechtsschutz jedoch allein nach dem aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO abgeleiteten Gebot der Rücksichtnahme (vgl. Schröer, NJW 2009, 484 (485)).
67
Eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs ist nach alledem abzulehnen.
68
Die Antragsteller können auch nicht mit Erfolg rügen, dass sämtliche dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigungen mangels Ausnutzung erloschen sind.
69
Eine Baugenehmigung erlischt gemäß Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 1 BayBO, wenn nicht innerhalb von 4 Jahren nach ihrer Erteilung mit der Ausführung des Bauvorhabens begonnen wird. Von einer Ausführung i. S. v. Art. 69 Abs. 1 Halbsatz 1 BayBO ist nicht auszugehen, wenn der Bauherr bei der Bauausführung von der Baugenehmigung so weit abweicht, dass ein anderes Bauvorhaben ausgeführt wird (sog. aliud). Um ein von einer Baugenehmigung nicht mehr gedecktes „aliud“ handelt es sich, wenn bei der Bauausführung wesentlich hinsichtlich Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Nutzung, Höhe, Dachform oder Erscheinungsbild von den genehmigten Bauvorlagen abgewichen wurde. Dabei ist eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, bei der geringfügige, kein Bedürfnis nach einer erneuten baurechtlichen Prüfung auslösende, insbesondere nachbarrechtlich irrelevante Abweichungen von der Genehmigung unbeachtlich sind (BayVGH v. 30.7.2003, Az.: 2 ZB 01.1366). Ob eine Veränderung der für ein Vorhaben charakteristischen Merkmale die Identität von genehmigten und errichteten Vorhaben aufhebt, hängt somit vom Umfang der Abweichungen ab. In jedem Fall müssen die Abweichungen aber erheblich sein. Wegen der Situationsbezogenheit der für die Zulassung von Bauvorhaben entscheidenden Umstände lässt sich die Erheblichkeitsschwelle nicht abstrakt mit allgemein einheitlichen Kriterien bestimmen. Vielmehr kommt es darauf an, ob durch die Veränderung Belange, die bei der Genehmigung des Vorhabens zu berücksichtigen waren, neuerlich berührt, oder ob durch die Änderung andere Belange erstmals so erheblich betroffen werden, dass sich die Zulässigkeitsfrage neu stellt. Beginnt der Bauherr mit der Ausführung eines solchen „aliuds“, dann hat dies zur Folge, dass die Baugenehmigung nach Ablauf von vier Jahren erlischt, da von ihr kein Gebrauch gemacht worden ist (vgl. BayVGH, B. v. 3.9.2003 – 20 ZB 03.816, BeckRS 2003, 31347; Busse/Kraus/Decker, 153. EL Januar 2024, BayBO Art. 69 Rn. 45, beck-online).
70
Nach Auswertung sämtlicher Baugenehmigungen, die dem Beigeladenen erteilt wurden, konnte das Gericht keine gravierenden Abweichungen von den genehmigten Bauvorhaben feststellen. Ein Vergleich mit dem im streitgegenständlichen Baugenehmigungsverfahren vorgelegten Eingabeplan vom 20. August 2022 mit den Genehmigungen 27. Juni 1958, 28. Dezember 1970, 15. Juli 1991 und 25. September 2012 (Az. 85/58, 318/1963, 701/1991 und 1044/2012) ergibt, dass alle vorhandenen baulichen Anlagen ausgeführt wurden. Die von dem Landratsamt S. im Rahmen einer Baukontrolle festgestellten Abweichungen betreffen lediglich die Raumaufteilung und die erweiterte Nutzung der Lagerhalle für Sägearbeiten. Hierbei handelt es sich nur um unwesentliche Abweichungen, weil das ausgeführte Bauvorhaben hinsichtlich Standort, Grundfläche, Bauvolumen, Höhe, Dachform und Erscheinungsbild nicht von den genehmigten Bauvorlagen abweicht.
71
Die Antragsteller dringen auch nicht mit dem Einwand durch, die Baugenehmigung vom 27. Juni 1958 sei mangels Betriebsbeschreibung unbestimmt und daher nichtig.
72
Eine Baugenehmigung als Verwaltungsakt i.S.d. Art. 35 Satz 1 BayVwVfG ist nach Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG nichtig, wenn sie an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Im Einzelfall können Bestimmtheitsmängel einer Baugenehmigung ausnahmsweise deren Nichtigkeit zur Folge haben (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2021 – 1 CS 20.2788 – juris Rn. 14; OVG NRW, B.v. 20.11.1987 – 7 B 2871/87 – juris Rn. 6; Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 68 Rn. 56; Busse/Kraus/Decker, 153. EL Januar 2024, BayBO Art. 68 Rn. 253; Stelkens/Bonk/Sachs/Sachs, 10. Aufl. 2022, VwVfG § 44 Rn. 113). Ein besonders schwerwiegender Bestimmtheitsmangel, der ausnahmsweise zur Nichtigkeit der Baugenehmigung führt, liegt insbesondere dann vor, wenn die Unbestimmtheit der erteilten Baugenehmigung nicht nur einzelne Modalitäten der Leistungsangebote und des Betriebsablaufs, die für die genaue Reichweite einer potenziellen Nachbarrechtsverletzung von Bedeutung sein können, erfasst, sondern den eigentlichen Kerngegenstand des von der Baugenehmigung gestatteten Vorhabens selbst (vgl. BayVGH, U. v. 8.7.2022 – 15 B 22.772). Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn die Art der baulichen Nutzung in der Baugenehmigung nicht bezeichnet ist (vgl. VG Frankfurt/M. U. v. 4. 3. 2015 – 8 K 2909/14.F, BeckRS 2015, 44128). Greift der Ausnahmetatbestand des Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG nicht, ist der dann bestandskräftig gewordene Baugenehmigungsbescheid trotz Verstoßes gegen Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG wirksam.
73
Nach summarischer Prüfung leidet die Baugenehmigung vom 27. Juni 1958 nicht an einem derart schwerwiegenden Bestimmtheitsmangel. Gegenstand dieser Baugenehmigung ist u.a. das Gutachten des Gewerbeaufsichtsamts Regensburg Nr. B 174 vom 11. März 1958 (vgl. B. Nr. 6 des Bescheids vom 27. Juni 1958). Das Schreiben des Gewerbeaufsichtsamtes regelt in den dort genannten Genehmigungsbedingungen unter anderem den Umgang mit stauberzeugenden Arbeitsmaschinen und weiteren maschinellen Einrichtungen in der Schreinerei (Nrn. 10, 11 und 14). Es werden insbesondere Maßnahmen im Zusammenhang mit Schleiferstaub, Streich- und Lackiererarbeiten geregelt. Auch unter Berücksichtigung des Betreffs in der Baugenehmigung (Schreinereiwerkstatt und Garage) ist die Art der baulichen Nutzung des Vorhabens hinreichend klar angegeben. Zwar ist den Antragstellern dahingehend beizupflichten, dass sich aus den Genehmigungsunterlagen von 1958 weder die konkreten Betriebsabläufe noch die eingesetzten Arbeitsmaschinen ergeben, sodass sich der Umfang an Immissionen, die auf Nachbarn einwirken, nicht ermitteln lässt.
74
Gleichwohl ist der Kerngegenstand der gewerblichen Tätigkeit als „Schreinerei“ hinreichend beschrieben, um nach dem Bauplanungsrecht beurteilen zu können, ob der konkrete Betrieb bei funktionsgerechter Nutzung gebietsunverträglich ist oder nicht.
75
2. Ein Verstoß gegen das gemäß Art. 60 Satz 1 Nr. 1 BayBO zu prüfende drittschützende Gebot der Rücksichtnahme, welches in § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verankert ist, ist nicht gegeben.
76
Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Soweit – wie vorliegend – ein Rücksichtnahmeverstoß aufgrund von Immissionsbelastungen geltend gemacht wird, wird zur Konturierung der Zumutbarkeitsschwelle des Rücksichtnahmegebots auf die materiell-rechtlichen Maßstäbe des Immissionsschutzrechts, also auf die Schwelle schädlicher Umwelteinwirkungen i.S.v. § 3 Abs. 1, § 22 Abs. 1 BImSchG zurückgegriffen (zum Ganzen vgl. BayVGH, B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris m.w.N.).
77
a) Gemessen hieran erweist sich das streitgegenständliche Bauvorhaben nicht als rücksichtslos, da beim Anwesen der Antragsteller voraussichtlich keine unzumutbaren Geruchs- und Staubbeeinträchtigungen hervorgerufen werden.
78
Nach den Betriebsbeschreibungen ist in der Schreinerei eine Absauganlage installiert. Späne und Stäube, die in der Werkstatt anfallen, werden abgesaugt und die abgesaugte Luft mittels filterndem Abscheider gereinigt. Anschließend wird die gereinigte Luft in die Werkstatt zurückgeführt.
79
Die bei der Verarbeitung von Schaumstoffrohlingen verursachten Staubemissionen werden durch einen separaten Filter abgesaugt. Die abgesaugte Luft wird ebenfalls gefiltert und sodann in die Werkstatt zurückgeführt. Das abgeschiedene Material wird separat zwischengelagert und extern entsorgt. Die Lüftungsanlagen gewährleisten, dass nur gereinigte Luft in die Werkstatt, nicht jedoch nach außen abgeführt wird.
80
Hiervon ausgehend ist es ausgeschlossen, dass auf dem Grundstück der Antragsteller Geruchs- und Staubimmissionen, die bei der Verarbeitung von Materialien in der Schreinerei entstehen, einwirken.
81
Diese Einschätzung wird auch vom Landratsamt S. geteilt. Nach einer immissionsschutzfachlichen Beurteilung des Landratsamts S. vom 4. September 2023 entspricht das Lüftungssystem dem Stand der Technik und ist nicht zu beanstanden.
82
Auch aus dem Brandschutznachweis des Ingenieurund Sachverständigenbüros … vom 28. September 2022 ergibt sich, dass die Lüftungsanlage die gesetzlichen Mindestanforderungen erfüllt (vgl. Brandschutznachweis vom 28. September 2022, Seite 29).
83
Anderweitige Verstöße gegen die Vorgaben zu Luftschadstoffen sind weder hinreichend substantiiert geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich.
84
b) Die von dem genehmigten Vorhaben ausgehenden Lärmimmissionen sind nicht rücksichtslos.
85
Soweit – wie hier – ein Rücksichtnahmeverstoß aufgrund von Immissionsbelastungen geltend gemacht wird, wird zur Konturierung der Zumutbarkeitsschwelle des Rücksichtnahmegebots auf die materiell-rechtlichen Maßstäbe des Immissionsschutzrechts, also auf die Schwelle schädlicher Umwelteinwirkungen i.S.v. § 3 Abs. 1 BImSchG zurückgegriffen (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2019 – 15 CS 19.1906 –, Rn. 56, juris). Bei der Erteilung einer Baugenehmigung ist deshalb sicherzustellen, dass bei der Nutzung des genehmigten Vorhabens keine schädlichen Umwelteinwirkungen entstehen. Für die Beurteilung von betriebsbedingten Lärmimmissionen des zugelassenen Vorhabens sind die Vorgaben der TA Lärm maßgeblich. Als normkonkretisierender Verwaltungsvorschrift kommt der TA Lärm, soweit sie für Geräusche den unbestimmten Rechtsbegriff der schädlichen Umwelteinwirkungen konkretisiert, eine im gerichtlichen Verfahren grundsätzlich zu beachtende Bindungswirkung zu (vgl. BVerwG, U. v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – juris Rn. 18 m.w.N.; BayVGH, B. v. 23.1.2018 – 15 CS 17.2575 – juris Rn. 23).
86
Das Anwesen der Antragsteller befindet sich in einem faktischen allgemeinen Wohngebiet nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO, weshalb die Richtwerte nach Nr. 6.1 Buchst. e der TA Lärm von 55 dB(A) tags und 40 dB(A) nachts beansprucht werden können, wobei einzelne kurzzeitige Geräuschspitzen die Immissionsrichtwerte am Tage um nicht mehr als 30 dB(A) und in der Nacht um nicht mehr als 20 dB(A) überschreiten dürfen (Nr. 6.1 Abs. 2 TA Lärm).
87
Ausweislich der schalltechnischen Untersuchung des Ingenieurbüros … GmbH vom 11. November 2022 und der darauf beruhenden immissionsschutzfachlichen Beurteilung des Landratsamts vom 4. September 2023 werden die Werte eingehalten. Am Wohnhaus der Antragsteller werden die Immissionsrichtwerte der TA Lärm von 55 dB(A) tags um mindestens 4,0 dB(A) unterschritten. Unzulässige Spitzenpegel sind nicht zu erwarten.
88
Demnach werden durch das genehmigte Vorhaben auf Grundlage der Regelungen des Bescheids am Anwesen der Antragsteller keine schädlichen Umwelteinwirkungen hervorgerufen.
89
Auch zur Nachtzeit sind keine schädlichen Umwelteinwirkungen zu erwarten, da nach der streitgegenständlichen Baugenehmigung die Regelarbeitszeit an Werktagen zwischen 6:30 und 15:30 Uhr liegt und ein Betrieb der Schreinerei innerhalb der Nachtzeit (22:00 Uhr bis 6:00 Uhr) nicht zulässig ist (vgl. II. 3 des Bescheides vom 17. Juli 2024).
90
Gegen die Richtigkeit und Plausibilität des schalltechnischen Berichts vom 11. November 2022 und der fachlichen Stellungnahme des Landratsamts vom 4. September 2023 wurden keine durchgreifenden Einwände erhoben.
91
3. Andere Gründe, aus denen sich eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme ergeben könnte, sind für das Gericht weder ersichtlich noch wurden diese vorgetragen.
92
Sofern die Antragsteller rügen, die Baugenehmigung nehme keine Rücksicht auf spielende Kinder, ist dieses Vorbringen unbehelflich.
93
Das Gericht prüft nur, ob sich die angefochtene Baugenehmigung nach summarischer Prüfung gegenüber den Antragstellern als rechtswidrig erweist. Eine objektive Rechtmäßigkeitskontrolle findet nicht statt, sodass öffentlich-rechtliche Vorschriften, die dem Schutz der Allgemeinheit oder Dritten dienen, nicht zum Prüfumfang dieses Verfahrens gehören.
94
Die Antragsteller sind auch nicht in ihren eigenen Rechten wegen einer Überschreitung der Baulinien verletzt.
95
Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche durch Baulinien und Baugrenzen haben grundsätzlich keine drittschützende Funktion. Solche Festsetzungen vermitteln Drittschutz nur dann, wenn sie ausnahmsweise nach dem Willen der Gemeinde als Planungsträgerin diese Funktion haben sollen. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille aus dem Bebauungsplan selbst, aus seiner Begründung oder auch aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung ergeben kann. Maßgebend ist, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen sollte (BayVGH, B. v. 29.8.2014 – 15 CS 14.615 – juris, Rn. 24, m.w.N.).
96
Es wurde weder von den Antragstellern substantiiert vorgetragen noch ergeben sich nach summarischer Prüfung Anhaltspunkte dafür, dass die im Baulinienplan der … vom 7. Februar 1924 und im Generalbaulinienplan der Gemeinde … festgesetzten straßenseitigen Baulinien drittschützend sind.
III.
97
Eine Verletzung des drittschützenden Bauordnungsrechts gemäß Art. 60 Satz 1 Nr. 2 BayBO wurde weder vorgetragen noch ist eine solche für das Gericht ersichtlich.
IV.
98
Nach alledem wird die Klage der Antragsteller voraussichtlich erfolglos bleiben, weshalb der Eilantrag abzulehnen war, zumal auch sonst keine Aspekte ersichtlich sind, die in einer solchen Situation ausnahmsweise doch den Interessen der Antragsteller an der Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung Vorrang einräumen würden.
99
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen für erstattungsfähig zu erklären, da dieser einen Antrag in der Sache stellte und damit ein Kostenrisiko eingegangen ist (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO).
100
E. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG, § 52 Abs. 1 GKG unter Berücksichtigung von Nrn. 9.7.1 und 1.5 des aktuellen Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.