Titel:
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Haftraum, Beurteilungsspielraum, Unerlässlichkeit, Sicherungsmaßnahmen, Videoüberwachung, Kostenentscheidung, Festsetzung des Gegenstandswertes, Rechtswidrigkeit, Unbestimmte Rechtsbegriffe, Antragstellers, Feststellungsantrag, Vollzugsbehörde, Eingriffsvoraussetzungen, Gefahrenprognose, Prognoseentscheidung, Strafvollstreckungskammer, Gerichtliche Überprüfung, Notwendige Auslagen, Gerichtliche Entscheidung
Schlagworte:
Rehabilitationsinteresse, Rechtmäßigkeit der Maßnahme, Gefahrenprognose, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Ermessensfehler, Kumulation der Maßnahmen, Kostenentscheidung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 28033
Tenor
1. Auf den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 27.10.2023 hin wird festgestellt, dass die Anordnung der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung in der Zeit vom 20.10.2023 bis 24.10.2023 rechtswidrig war und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers zu tragen.
3. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 200 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller befindet in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt S. .
2
Mit Schreiben vom 23.10.2023 hat der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung nach § 114 StVollzG beantragt. Als Betreff war lediglich angegeben „Prüfen auf Rechtmäßigkeit nach § 114 StVollzG“. Als Grund wurde ein unrechtmäßig langer Aufenthalt in einer Videozelle (über 48 Stunden) ohne triftigen Grund und richterlichen Beschluss angegeben.
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Mit Beschluss vom 23.10.2023 wurde der Antrag zurückgewiesen, da das Antragsbegehren nicht substantiiert vorgetragen wurde.
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Mit weiterem Schreiben vom 23.10.2023 konkretisierte der Antragsteller sein Begehren und wollte nach verständiger Würdigung im Wege einer Entscheidung nach § 114 StVollzG erreichen, dass sein Aufenthalt (Beginn 20.10.2023, ca. 10:30 Uhr) in der Beobachtungszelle beendet wird.
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Die JVA S. nahm mit Schreiben vom 24.10.2023 Stellung und führte aus, dass sich das Begehren erledigt habe, da der Antragsteller am 24.10.2023 wieder in seinen Haftraum verlegt worden sei. Auch wurde der Sachverhalt dargelegt und die Rechtsgrundlage, auf welche die Maßnahme gestützt wurde. Die JVA legt dar, dass die Maßnahme der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung auf Art. 96 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 2 und 5 BayStVollzG gestützt worden sei und im Zeitraum 20.10.2023, 11 Uhr bis 24.10.2023 gedauert habe. Am 20.10.2023 seien bei einer Haftraumkontrolle beim Antragsteller u.a. verschiedenes Betriebsmaterial im Sinne von Kleinteilen sowie in selbstgebautes Messer bestehend aus einer herausgetrennten Rasierklinge und einem selbstgebauten Griff aufgefunden worden. Insbesondere aufgrund des Messers sei davon ausgegangen worden, dass der Antragsteller einen Angriff auf Bedienstete oder Mitgefangene plane. Er sei daher aus dem Arbeitsbetrieb geholt worden. Auf dem Weg zu seinem Haftraum habe er lautstark einen Beamten mit den Worten „Ihr werdet mich jetzt kennenlernen“ bedroht. Der Antragsteller sei sodann sehr aufgebracht gewesen und habe geschrien. Er sollte sodann unter Verschluss genommen werden und habe die Haftraumtür mit voller Wucht zugeknallt, so dass sie den Beamten an dessen linker Hand getroffen habe. Im Nachgang beim Verschließen der Kostklappe habe er gedroht „Wenn mit der Kollege, der mir das verpasst hat, heute nochmal unter die Augen kommt, hau ich ihn um“. Später habe er lautstark gegen seine Haftraumtür geschlagen. Er habe sich nicht beruhigen lassen. Es habe daher nicht ausgeschlossen werden können, dass sich die Aggressionen des Antragstellers bei Öffnung des Haftraums gegen die zuständigen Bediensteten richten würden noch, dass sich der Antragsteller selbst verletzten würde. Um Selbst- und Fremdgefährdung zu verhindern sei der Verbleib dort bis 24.10.2023 erforderlich gewesen.
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Das Gericht hat IT Vollzug eingesehen und dort den Eintrag gelesen, dass die Maßnahme am 24.10.2023 um 13:45 Uhr aufgehoben worden sei.
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Der Antragsteller erhielt Gelegenheit zur Äußerung zur beabsichtigten Erledigung des Verfahrens. Eine Äußerung ging nicht ein.
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Mit Beschluss vom 26.10.2023 wurde der Beschluss vom 23.10.2023 abgeändert und der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 23.10.2023 als erledigt festgestellt.
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Mit Schreiben vom 27.10.2023 hat der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung nach §§ 109 ff. StVollzG in der Hauptsache beantragt festzustellen, dass der lange Aufenthalt im besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung rechtswidrig gewesen sei. Er habe keine Gegenwehr geleistet gegen die Beamten. Diese hätten ihm immer wieder einen Schlag versetzt auf dem Weg in den besonders gesicherten Haftraum. Die Anwendung von unmittelbarem Zwang sei rechtswidrig gewesen. Es sei keine vorherige Ankündigung erfolgt. Man hätte erkennen können, dass er sich längst beruhigt hatte und mithin keine Selbst- oder Fremdgefährdung mehr erkennbar gewesen sei. Als er erfahren habe, dass er unter Verschluss bleiben solle, habe er ein bisschen geschimpft und gegen die Tür geschlagen. Auch sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt. Auch habe er Zahn- und Rippenschmerzen gehabt. Dr. ... habe bereits am 23.10.2023 um 10 Uhr angeordnet, dass er bereits den besonders gesicherten Haftraum verlassen könne. Das Messer habe er lediglich für Konturen seiner Augenbrauen sowie zum Entfernen der Hornhaut an seinen Füßen benutzt.
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Mit Schreiben vom 05.11.2023 benannte der Antragsteller einen Mitgefangenen als Zeugen, der den Vorfall mitbekommen habe.
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Die Vollzugsbehörde hat zu dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung mit Schreiben vom 06.12.2023 Stellung genommen und verwies hinsichtlich des Sachverhalts und der rechtlichen Würdigung auf die Stellungnahme vom 24.10.2023 im Rahmen des Eilverfahrens.
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Der Antragsteller erhielt Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
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Eine weitere Äußerung ist nicht eingegangen.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die vorgenannten Schriftstücke verwiesen und Bezug genommen.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung im Sinne eines Feststellungsantrags ist zulässig und begründet.
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Es liegt aufgrund des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs ein Rehabilitationsinteresse vor, da der Antragsteller 4 Tage in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung untergebracht war und mithin massiv in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt war.
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Die gegen den Antragsteller verhängte Maßnahmen nach Art. 96 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 und 5 BayStVollzG sind nicht rechtmäßig.
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Die JVA verkennt bereits die Rechtsgrundlage. Rechtsgrundlage ist nicht 96 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 und 5 BayStVollzG. Die Einzelhaft dauerte weit über 24 Stunden an, so dass zusätzlicher Prüfungsmaßstab Art. 97 Abs. 1 BayStVollzG war. Diese Rechtsgrundlage wird in der Stellungnahme der JVA nicht genannt. Auch sonst ist aus dem Vorbringen nicht ersichtlich, dass sich die JVA der besonderen Prüfung der Verhältnismäßigkeit bewusst war, mithin dass die Maßnahme der Absonderung über 24 Stunden unerlässlich i.S.d. Art. 97 Abs. 1 BayStVollzG. Die Formulierung unerlässlich wird in der Stellungnahme nicht verwendet. Es wird lediglich ausgeführt, dass der Verbleib zur Verhinderung einer Selbst- und/oder Fremdgefahr bis 24.10.2023 erforderlich gewesen sei.
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Im Rahmen der Ermessensentscheidung ist mithin nicht geprüft worden, ob die Maßnahme unerlässlich ist.
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Selbst wenn man zugrunde legt, dass die JVA auch Art. 97 BayStVollzG gesehen hat, sind dennoch bereits auf der Tatbestandsebene Beurteilungsfehler erkennbar und auch auf der Rechtsfolgenebene Ermessensfehler ersichtlich.
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Bei den in Art. 96, Art. 97 BayStVollzG geregelten Eingriffsvoraussetzungen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe. Bei der Feststellung der Gefahr kommt der Anstalt ein Beurteilungsspielraum zu, da es sich um eine Prognoseentscheidung handelt.
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Unbestimmte Rechtsbegriffe sind vollumfänglich überprüfbar, bei einem Beurteilungsspielraum steht dem Gericht nur ein eingeschränkter Überprüfungsmaßstab zu.
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Sofern die Eingriffsvoraussetzungen vorliegen, stehen die Auswahl und Anordnung der Absonderung bzw. der besonderen Sicherungsmaßnahmen sodann im Ermessen der Anstalt.
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Auch dieses Ermessen ist nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar.
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Die Strafvollstreckungskammer darf die Entscheidung der Anstaltsleitung nicht durch eine eigene ersetzen. Die Überprüfung durch die Gerichte beschränkt sich vielmehr darauf, ob die Vollzugsbehörde von einem unzutreffenden oder unvollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist oder nicht alle entscheidungsrelevanten Umstände berücksichtigt hat, ob sie bei ihrer Entscheidung die richtigen Bewertungsmaßstäbe angewendet hat oder für die Bewertung sachfremde Erwägungen maßgeblich waren und ob die Grenzen der Entscheidungsprärogative der Vollzugsbehörde eingehalten wurden.
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Auf der Tatbestandsebene hat die Anstalt bereits den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt. Die Anstalt stützt die Gefahrenprognose ausschließlich auf das aktuelle Geschehen am 20.10.2023. Die Anstalt berücksichtigt mithin nicht den bisherigen Vollzugsverlauf des Antragstellers und sein bisheriges Verhalten bzw. seine Anlasstat, etwa ob es sich beim Antragsteller etwa um einen Gewaltstraftäter handelt, ob ein Gewaltpotential bereits aus der Anlasstat hervorgeht etc. und es mithin tatsächlich realistisch ist, dass er die Drohungen umsetzt und das Messer gegen Personen einsetzt.
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Selbst wenn man auf der Tatbestandsebene von einer rechtmäßigen Ausübung des Beurteilungsspielraums ausgehen würde, erweist sich jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite die Anordnung der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit Videoüberwachung für die Dauer von weit mehr als einem Tag als rechtswidrig, da ermessensfehlerhaft.
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Es ist nicht ersichtlich, dass tatsächlich mildere Mittel geprüft wurden. Die Anstalt schreibt lediglich pauschal, dass die Maßnahme erforderlich gewesen sei. Es handelt sich bei der Absonderung bei der Dauer um mehr als 24 Stunden um einen erheblichen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht. Mithin hätte, wenn tatsächlich mildere Mittel geprüft wurden, diese dargelegt werden müssen. Aus der fehlenden Darlegung konkreter milderer Maßnahmen, die geprüft wurden, ist daraus zu schließen, dass keine milderen Maßnahmen geprüft wurden.
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Eine etwaige mildere Maßnahme, die sich zumindest zur Prüfung hätte aufdrängen müssen, wäre gewesen, ob ggf. durch ein Beruhigungsmittel der Antragsteller in seinem Haftraum verbleiben können. Auch ist nicht nachvollziehbar, dass zum Abklingen einer akuten Erregung mehrere Tage Absonderung erforderlich sind. Insbesondere wäre es auch ein milderes Mittel gewesen um Angriffe mit dem Messer auszuschließen, dieses sicherzustellen.
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Zutreffend sieht die Anstalt zwar, dass neben der Einzelhaft auch kumulativ besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden dürfen.
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In diesem Fall muss die Anstalt jedoch nicht nur die Notwendigkeit jeder einzelnen Sicherungsmaßnahme, sondern gerade auch das Erfordernis der Kumulation der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr detailliert prüfen, wobei im Hinblick auf die Mittel-Zweck-Relation besonders strenge Maßstäbe anzulegen sind, wenn ein Gefangener mehrfachen grundrechtsrelevanten Einschränkungen ausgesetzt wird (Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 89 Rn. 2).
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Das Erfordernis der Kumulation wurde vorliegend nicht detailliert geprüft und die Entscheidung der Anstalt lässt einen Ermessensausfall erkennen. Die Anstalt führt nicht aus, weshalb gerade die Videoüberwachung erforderlich war. Insbesondere standen dem Antragsteller keine gefährlichen Gegenstände im besonders gesicherten Haftraum zur Verfügung.
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Die Anordnungen der Einzelhaft nebst Videoüberwachung nach Art. 96, 97 BayStVollzG erweist sich daher als rechtswidrig.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Absatz 1, Absatz 4 StVollzG, § 467 StPO.
35
Die Festsetzung des Gegenstandswertes beruht auf den §§ 60, 52 Absatz 1 bis 3 GKG.