Titel:
Anspruch des Erwerbers eines Diesel-Fahrzeugs mit Thermofenster sowie Timer auf Ersatz des Differenzschadens und Verbotsirrtum
Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
Leitsatz:
Der Fahrzeughersteller muss hinsichtlich eines behaupteten unvermeidbaren Verbotsirrtums darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter iSd § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung (hier Thermofenster und Timer) mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (hier verneint). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Schadensersatz, Schutzgesetz, Dieselskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, Multijet, Thermofenster, Timer, Differenzschaden, Übereinstimmungsbescheinigung, Verbotsirrtum
Vorinstanz:
LG Memmingen, Urteil vom 21.11.2022 – 26 O 1498/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2791
Tenor
I. Auf die Berufung der Klagepartei wird das Urteil des Landgerichts Memmingen vom 21.11.2022, Az. 26 O 1498/21, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, an die Klagepartei 2.300,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 28.10.2021 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die weitergehende Berufung der Klagepartei wird zurückgewiesen.
III. Von den außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 1) in 1. Instanz hat die Klagepartei 90 % zu tragen. Von den außergerichtlichen Kosten der Klagepartei in 1. Instanz hat die Beklagte zu 1) 5 % zu tragen. Von den gerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in 1. Instanz haben die Klagepartei 95 % und die Beklagte zu 1) 5 % zu tragen. Bezüglich der am Berufungsverfahren nicht beteiligten Beklagten zu 2) bleibt es bei der Kostenentscheidung aus dem Urteil des Landgerichts Memmingen vom 21.11.2022.
IV. Von den Kosten des Berufungsverfahrens haben die Beklagte zu 1) 14 % und die Klagepartei 86 % zu tragen.
V. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
VI. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Transporters mit Dieselmotor.
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1. Die Klagepartei erwarb gemäß Rechnung vom 14.06.2016 vom … einen gebrauchten Transporter Fiat Ducato Serie 4 Kombi 35L4H2 150 Multijet, Erstzulassung 29.09.2014, bei einem Kilometerstand von 26.142 km zum Kaufpreis von brutto 27.370,00 € = netto 23.000,00 €. Die Beklagte zu 1) (im Folgenden: die Beklagte) ist die Herstellerin des Fahrzeugs, in dem ein 2,3-Liter Dieselmotor des Typs Multijet (Abgasnorm Euro 5) verbaut ist. Der Kilometerstand am 08.02.2024 belief sich auf 130.801 km. Die Klagepartei ist zum Vorsteuerabzug berechtigt.
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Die Typgenehmigung für den streitgegenständlichen Fahrzeugtyp wurde nicht durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) erteilt, sondern durch die italienische Genehmigungsbehörde, das Ministero delle Infrastrutture e dei Trasporti (MIT). Das KBA führte in der Folgezeit emissionsbezogene Untersuchungen des hier streitgegenständlichen Fahrzeugtyps (Fiat Ducato 2.3 l, 96 kW, Diesel EU 5) durch. Es gelangte zu der Einschätzung, dass beim streitgegenständlichen Fahrzeugtyp unzulässige Abschalteinrichtungen vorlägen. Das KBA informierte die italienische Genehmigungsbehörde über die Untersuchungsergebnisse und seine Auffassung, dass beim streitgegenständlichen Fahrzeugtyp unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden seien. Die italienische Genehmigungsbehörde verneinte in Kenntnis der Vorwürfe und nach eigenen Untersuchungen ein rechtswidriges Verhalten der Beklagten und sah keinen Anlass, behördliche Anordnungen zu treffen. Im Mai 2017 leitete die EU-Kommission wegen des genannten Sachverhalts ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien ein. Die zuständigen italienischen Behörden halten trotz dieses Verfahrens an der Auffassung fest, dass die Vorschriften der Verordnung (EU) Nr. 715/2007 hinsichtlich der dortigen Genehmigungspraxis ordnungsgemäß umgesetzt seien. Die italienische Zulassungsbehörde stuft die beanstandeten Abschalteinrichtungen bis heute als zulässig ein und leitete dementsprechend auch in der Folgezeit keine behördlichen Maßnahmen ein.
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Die Klagepartei machte im erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht Memmingen mit der am 23.10.2021 zugestellten Klageschrift vom 27.09.2021 geltend, dass bei ihrem Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines „Zeitfensters“ (Timerfunktion) zum Einsatz komme, die bewirke, dass das Emissions-Kontrollsystem nach 1.300 bzw. 1.310 Sekunden oder (knapp) 22 Minuten nach Motorstart derart beeinflusst werde, dass die Emissionsminderungsmaßnahmen abgeschaltet würden (Klageschrift vom 27.09.2021 Seite 15 und Schriftsatz vom 14.02.2022 Seite 14 = Bl. 97 d.A.). Zudem sei ein Thermofenster eingebaut. Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Klägerin im Verfahren vor dem Landgericht wird auf die Klageschrift sowie die Schriftsätze ihrer Bevollmächtigten vom 14.02.2022, 10.10.2022, 19.10.2022 und 20.10.2022 Bezug genommen.
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Die Beklagte hat sich im erstinstanzlichen Verfahren darauf berufen, dass eine wirksame und bestandskräftige Typgenehmigung der italienischen Genehmigungsbehörde vorliege. Beim Betrieb des streitgegenständlichen Fahrzeugs komme keine unzulässige Abschalteinrichtung zum Einsatz, insbesondere arbeite die Abgasreinigung im Typgenehmigungsverfahren nicht anders als außerhalb dieses Verfahrens. Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beklagten im Verfahren vor dem Landgericht wird auf die Klageerwiderung vom 17.01.2022 sowie auf die Schriftsätze ihrer Bevollmächtigten vom 13.10.2022 und vom 02.11.2022 Bezug genommen.
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Das Landgericht hat die auf Zahlung von 23.000,00 € (Nettokaufpreis) abzüglich einer im Termin auf 6.499,64 € bezifferten Nutzungsentschädigung Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs gerichtete Klage mit dem angegriffenen Urteil vom 21.11.2022 abgewiesen. Hinreichende Anhaltspunkte für ein sittenwidriges Verhalten der Beklagten im Sinn des § 826 BGB bzw. für Vorsatz seien nicht ersichtlich. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und Art. 5 Abs. 1, Art. 3 Nr. 10 Verordnung (EG) Nr. 715/2007 stellten keine Schutzgesetze i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB dar.
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2. Mit ihrer Berufung gegen das Urteil des Landgerichts verfolgt die Klagepartei den erstinstanzlichen Klageantrag nur noch gegen die frühere Beklagte zu 1) weiter. Der Senat hat die Parteien mit Beschluss vom 03.08.2023 darauf hingewiesen, dass mit Blick auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 26.06.2023 (VIa ZR 335/21) ein Anspruch der Klägerin aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des sogenannten Differenzschadens in Betracht komme. Die Klagepartei hat daraufhin mit Schriftsatz vom 31.08.2023 zusätzlich hilfsweise einen Differenzschaden in Höhe von 15 % des Nettokaufpreises geltend gemacht. Bezüglich ihres Vorbringens in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungsbegründung vom 21.02.2023 sowie die weiteren Schriftsätze ihrer Bevollmächtigten vom 31.08.2023, vom 20.10.2023 und vom 26.01.2024 Bezug genommen. Sie hat zuletzt beantragt,
unter Abänderung des Urteils,
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei EUR 23.000,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit abzüglich einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 7.432,75 € Zug-um-Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeuges der Marke Fiat, Typ Ducato, mit der Fahrgestellnummer … zu zahlen.
Hilfsweise beantragt sie:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei einen Betrag in Höhe von EUR 3.450,00 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
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Sie verteidigt das erstinstanzliche Urteil und macht u.a. geltend, es fehle an dem für die geltend gemachten Ansprüche erforderlichen Verschulden der Beklagten. Sie könne sich hinsichtlich ihrer Auffassung, die implementierten Abschalteinrichtungen seien zulässig, jedenfalls auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum berufen. Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beklagten in der Berufungsinstanz wird auf die Berufungserwiderung vom 21.01.2023 sowie die weiteren Schriftsätze ihrer Bevollmächtigten vom 02.11.2023 und vom 24.01.2024 Bezug genommen.
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1. Das Landgericht hat die auf großen Schadensersatz Zug um Zug gegen Rückgabe und Übereignung des Fahrzeugs gerichtete Klage zu Recht abgewiesen. Ein Anspruch des Klägers aus § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung) besteht nicht.
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Ein objektiv sittenwidriges Handeln der Beklagten kann nicht allein daraus abgeleitet werden, dass im Fahrzeug Einrichtungen vorhanden sind, die die Abgasemissionen beeinflussen und möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 zu qualifizieren sind (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, NJW 2021, 1216). Der darin liegende Gesetzesverstoß wäre für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz der emissionsbeeinflussenden Einrichtungen im Verhältnis zum Kläger als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die verantwortlich handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der emissionsbeeinflussenden Einrichtung(en) in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZR 126/21 juris Rn. 12 ff.; Urteil vom 16. September 2021 – VII ZR 190/20, NJW 2021, 3721 Rn. 16; Urteil vom 20. Juli 2021 – VI ZR 1154/20, VersR 2021, 1575 Rn. 13; Urteil vom 13. Juli 2021 – VI ZR 128/20, VersR 2021, 1252 Rn. 13; Beschluss vom 9. März 2021 – VI ZR 889/20, NJW 2021, 1814 Rn. 28; Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19, NJW 2021, 921 Rn. 19; Hinweisbeschluss v. 14.03.2022 – Via ZR 51/21, BeckRS 2022, 9432 Rn. 20).
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Diese Voraussetzungen behauptet die Klagepartei nicht. Soweit sie auf einen offensichtlichen Prüfstands-„Bezug“ des von ihr behaupteten Timers abstellt, handelt es sich nicht um eine Prüfstandserkennungssoftware, die einen Hinweis auf ein vorsätzliches sittenwidriges Verhalten geben könnte.
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2. Der Klagepartei steht jedoch der mit dem Hilfsantrag geltend gemachte Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens gemäß § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV in Höhe von 2.300,00 € zu.
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a) Im Berufungsverfahren behauptet die Klagepartei, die Beklagte habe im Motor des Typs „Multijet“ mit 2287 ccm Hubraum eine Software verbaut, die dafür sorge, dass das Fahrzeug ca. 1.300 Sekunden nach Motorstart in einen anderen Betriebsmodus (den „schmutzigen“ Abgasmodus) wechsle und in diesem unzulässig viel Stickoxid ausstoße (sog. „Timer“, vgl. Berufungsbegründung vom 21.02.2023, S. 5, Schriftsatz vom 20.10.2023, S. 3/4). Darüber hinaus sei eine Softwarefunktion vorhanden, die bewirke, dass die Abgasreinigung abhängig von der Außentemperatur in ihrer Wirksamkeit verringert werde (sog. „Thermofenster“). Dadurch werde im normalen Straßenbetrieb, bei Kaltstarts in Temperaturbereichen um 2 Grad Celsius, z.T. mehr als das 11-fache an Stickoxid ausgestoßen, als das für das streitgegenständliche Fahrzeug mit Euro 5 (Grenzwert: 280 mg/km) Abgasnorm zulässig sei (vgl. Berufungsbegründung vom 21.02.2023, S. 6, S. 71/72). Im Verfahren 1. Instanz hat die Klagepartei unter Bezug auf Abgasmessungen bei einem Fiat Ducato der Schadstoffklasse Euro 5 mit einem 2.999 ccm-Motor, Erstzulassung 2014 im Bericht der Untersuchungskommission Volkswagen eine Reduzierung der Abgasrückführung bei Temperaturen unter 20 °C bis hin zu 5 °C behauptet (Klageschrift S. 9).
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bb) Die Beklagte hat diese Behauptungen nicht voll umfänglich bestritten:
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(1) Hinsichtlich des behaupteten „Timers“ macht sich die Beklagte in der Berufungserwiderung vom 20.03.2023 (S. 13) Feststellungen aus einem Hinweisbeschluss des 14. Zivilsenats des OLG München vom 29.04.2022 zu eigen, der nach dem dortigen klägerischen Vortrag einen Timer betrifft, „der nach rund 22 Minuten die Abgasreinigung ‚reduziert‘, und zwar ‚schrittweise‘ im Sinne einer ‚Modulation‘“. Im Übrigen bleibe es dabei, dass keine zeitgesteuerte Abschalteinrichtung verbaut sei, die die Abgasreinigung nach ca.1.300 Sekunden abschalte (a.a.O., S. 16).
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Damit ist zwar die Behauptung bestritten, der „Timer“ schalte die Abgasrückführung nach 22 Minuten vollständig ab, nicht aber die Behauptung, der „Timer“ reduziere die Abgasrückführung nach 22 Minuten schrittweise im Sinn einer Modulation. Auf die diesbezüglichen Ausführungen der Klagepartei im Schriftsatz vom 20.10.2023 (S. 2/3) hat die Beklagte lediglich wiederholt, „dass keine zeitgesteuerte Abschalteinrichtung verbaut ist, die die Abgasreinigung nach ca. 1.300 Sekunden abschaltet“ oder auf „(nahezu) null reduziert“. Soweit sie moniert, die Klagepartei habe keinen konkreten Vortrag zu einer solchen Zeitschaltung und deren Verbau im streitgegenständlichen Fahrzeug sowie ihrem Zweck geleistete, überschätzt die Beklagte den Umfang der Darlegungslast der Klagepartei für eine unzulässige Abschalteinrichtung.
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Zwar muss die Klagepartei als Anspruchsteller „Tatsachen vortragen, die i.V.m Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 geeignet und erforderlich sind, den geltend gemachten Schadensersatzanspruch zu rechtfertigen, ohne allerdings seinen Tatsachenvortrag durch die Angaben weiterer Einzelheiten substanziieren zu müssen. […] Die Anforderungen an den Tatsachenvortrag des Kl. zum Vorhandensein einer Abschalteinrichtung dürfen dabei nicht überspannt werden“ (BGH Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259 Rn. 53).
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Diesen Anforderungen genügt der klägerische Vortrag in Bezug auf den „Timer“. Wird die Abgasrückführung jeweils 22 Minuten nach Fahrzeugstart moduliert und dadurch die Wirkung des Emissionskontrollsystems reduziert, so stellt dies eine Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 3 Nr. 10 VO Nr. 715/2007 dar. Fahrten über 22 Minuten stellen eine Verwendung des Fahrzeugs unter tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Unionsgebiet üblich sind, dar (vgl. EuGH (Große Kammer) Urteil vom 14.07.2022 – C-128/20NJW 2022, 2605 Rn. 40; EuGH (2. Kammer), Urteil vom 17.12.2020 – C-693/18 NJW 2021, 1216 Rn. 96 ff.).
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Dagegen obliegt der Beklagten als Anspruchsgegnerin die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass eine festgestellte Abschalteinrichtung zulässig ist (BGH a.a.O., NJW 2023, 2259 Rn. 54). Dem genügen die allgemein gehaltenen Ausführungen der Beklagten (etwa auf S. 2/3 des Schriftsatzes vom 24.01.2024) nicht. Die Behauptung, „schon allein die unterschiedlichen Fahrsituationen“ machten „eine gewisse Modulation der Abgasreinigung unumgänglich“, genügt zur Rechtfertigung der festgestellten Abschalteinrichtung nicht. Dass bei einer Erhebung, bei der mehr als 35 Millionen Fahrten von mehr als 100.000 Nutzern ausgewertet wurden, 84 % aller Fahrten auf kurze bzw. städtische Fahrten entfielen, genügt nicht zur Rechtfertigung einer zeitgesteuerten Abschalteinrichtung, die bei den verbleibenden längeren Fahrten die Wirkung des Emissionskontrollsystems nach 22 Minuten reduziert.
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(2) Die Beklagte bestreitet, dass ein Thermofenster verbaut sei, aufgrund dessen die Abgasrückführung nur ordnungsgemäß zwischen 20 und 30 Grad Celsius funktioniere; eine Prüfstandserkennung liege daher nicht vor (Berufungserwiderung vom 20.03.2023, S. 17). Die Kombination einer zeit- und temperaturgesteuerten Deaktivierung der Abgasreinigung sei in sich widersprüchlich und daher der klägerische Vortrag unbeachtlich (Schriftsatz vom 04.10.2023, S. 3). Hierdurch ist das von der Klagepartei behauptete Thermofenster ebenfalls nur unvollständig bestritten.
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(3) Damit liegen unzulässige Abschalteinrichtungen in Form eines „Timers“ und eines „Thermofensters“ vor. Die Beklagte hat objektiv gegen § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV verstoßen, indem sie die Übereinstimmung des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit der Typgenehmigung bescheinigt hat. Damit liegt nach der neueren Rechtsprechung des BGH ein Verstoß gegen ein Schutzgesetz vor, aufgrund dessen die Klagepartei einen Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens hat (vgl. BGH Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, NJW 2023, 2259, Rn. 18).
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b) Da die Beklagte objektiv ein Schutzgesetz verletzt hat, muss sie Umstände darlegen und erforderlichenfalls beweisen, die geeignet sind, die daraus folgende Annahme ihres Verschuldens in Form einer Fahrlässigkeit auszuräumen. Insofern besteht eine von der objektiven Schutzgesetzverletzung ausgehende Verschuldensvermutung. Dementsprechend muss der Fahrzeughersteller, wenn er eine Übereinstimmungsbescheinigung trotz der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgegeben und dadurch §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV verletzt hat, Umstände darlegen und beweisen, die sein Verhalten ausnahmsweise nicht als fahrlässig erscheinen lassen (BGH a.a.O., NJW 2023, 2259 Rn. 59).
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Diesen Anforderungen genügt der Vortrag der Beklagten nicht.
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Die Beklagte behauptet, sie wäre einem unvermeidbaren Verbotsirrtum erlegen. Der Sorgfaltsmaßstab der Beklagten könne insoweit nicht über das hinaus gehen, was fachkundige Mitarbeiter der zuständigen Genehmigungsbehörde und auch die italienische Regierung als zulässig angesehen hätten. Auch die Bundesrepublik Deutschland habe noch in den durch Urteile vom 14.07.2022 abgeschlossenen EuGH-Rechtssachen CV-128/20, C-134/20 und C-145/20 die Zulässigkeit der Verwendung von Thermofenstern verteidigt (Schriftsatz vom 04.10.2023, S. 7). Aus Sicht der zuständigen italienischen Genehmigungsbehörde und der italienischen Regierung handele es sich bei der zur Anwendung kommenden Emissionskontrollstrategie nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung, sodass von einer hypothetischen Genehmigung auszugehen sei (Schriftsatz vom 24.01.2024, S. 7).
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Damit hat die Beklagte zwar zur Unvermeidbarkeit eines etwaigen Verbotsirrtums vorgetragen. Dass die Beklagte tatsächlich einem solchen Irrtum – hinsichtlich der Zulässigkeit sowohl des „Timers“ als auch des „Thermofensters“ – erlegen ist, hat sie nicht substantiiert behauptet. Der Fahrzeughersteller muss darlegen und beweisen, dass sich sämtliche seiner verfassungsmäßig berufenen Vertreter i.S.d. § 31 BGB über die Rechtmäßigkeit der vom Käufer dargelegten und erforderlichenfalls nachgewiesenen Abschalteinrichtung mit allen für die Prüfung nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 bedeutsamen Einzelheiten im maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. BGH NJW 2023, 2259 Rn. 62) im Irrtum befanden oder im Falle einer Ressortaufteilung den damit verbundenen Pflichten genügten (vgl. BGHZ 220, 162 = NJW 2019, 1067 Rn. 17 ff.; BGH Urteil vom 25.09.2023 – VIa ZR 1/23, NJW 2023, 3796 Rn. 14; Urteil vom 27.11.2023 – VIa ZR 1425/22 –, Rn. 32, juris). Die Beklagte hat nicht einmal dargelegt, welche Personen im maßgeblichen Zeitpunkten des Erwerbs des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klagepartei im Juni 2016 als Repräsentanten i.S.v. § 31 BGB für sie im Vorstand sowie in der für die Programmierung der Motorsteuerungssoftware zuständigen Einheit tätig waren, geschweige denn hat sie etwas über deren Kenntnisstand bezüglich der Einhaltung der auf der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 beruhenden Abgasvorschriften und die Rechtmäßigkeit der in der Motorsteuerung programmierten Abschalteinrichtungen vorgetragen.
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c) Der Klagepartei steht daher ein Anspruch auf Ersatz des Differenzschadens zu. Dessen Höhe schätzt der Senat in Ausübung des ihm durch die Rechtsprechung des BGH (NJW 2023, 2259 Rn. 79) gemäß § 287 ZPO eingeräumten Ermessens auf 10 % des gezahlten Kaufpreises. Da die Klagepartei zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, ist der Nettokaufpreis von 23.000,00 € maßgeblich.
28
aa) Da ein Softwareupdate von der Beklagten nicht bereitgestellt ist, kommt insoweit eine Reduzierung im Weg der Vorteilsausgleichung nicht in Betracht.
29
bb) Nach den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 26.06.2023 (Via ZR 335/21; VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/22) ist auch bei einem Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des sog. Differenzschadens eine schadensmindernde Berücksichtigung der nach dem Vertragsschluss eintretenden Umstände im Wege der Vorteilsausgleichung vorzunehmen. Insoweit gelten die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zur Berechnung des großen bzw. kleinen Schadensersatzanspruchs nach § 826 BGB entsprechend. Für die Schadensberechnung gilt somit Folgendes:
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(1) Von der Klägerin bezahlter Nettokaufpreis: 23.000,00 €.
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(2) Die Wertminderung des streitgegenständlichen Fahrzeugs am Tag des Erwerbs ist mit 10 % des Kaufpreises anzusetzen. Damit ergeben sich ein Minderwert von 2.300,00 € und ein tatsächlicher Wert des Fahrzeugs von 20.700,00 €.
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(3) Da es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug um kein Wohnmobil, sondern um einen Lieferwagen handelt, ist die Nutzungsentschädigung nach der Fahrleistung zu bestimmen. Der Senat geht dabei in Anwendung seines Schätzungsermessens von einer durchschnittlich zu erwartenden Gesamtfahrleistung von 250.000 km aus. Dies ergibt im Fall der Klagepartei, die das Fahrzeug bei einem Kilometerstand von 26.142 km erworben hat, eine Nutzungsentschädigung in Höhe von [130.801 km – 26.142 km]/[250.000 km – 26.142 km] × 23.000 € = 10.753,05 €.
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(4) Bei der Schadensberechnung ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch der (nicht realisierte) Restwert des Fahrzeugs zu berücksichtigen (vgl. BGH Urteil vom 26.06.2023 – VI ZR 335/21 – Rn. 80).
34
Die Klagepartei hat unter Vorlage eines Screenshots einer durch die DAT durchgeführten Wertschätzung (Anlage Bk6) einen Zeitwert von 11.800 € brutto behauptet; da die Klagepartei zum Vorsteuerabzug berechtigt, aber auch zur Abführung von Umsatzsteuer verpflichtet ist, kann nur der Netto-Zeitwert von [11.800 € 1,19 =] 9.915,97 € angesetzt werden (vgl. Schriftsatz vom 26.01.2024, S. 5).
35
Die Beklagte hat zwar ihrerseits einen Restwert in Höhe von 90 % des nach dem Vortrag der Klagepartei im Jahr 2016 geleisteten Kaufpreises von 23.000,00 € (also 20.700 €) behauptet und durch Sachverständigenbeweis unter Beweis gestellt. Dieser Vortrag beruht aber offensichtlich auf der irrigen Annahme, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug um ein Wohnmobil handle (vgl. Schriftsatz vom 24.01.2024, S. 23). Aus der Gebrauchtfahrzeugrechnung vom 14.06.2016 (Anlage K1) ergibt sich jedoch, dass der streitgegenständliche Fiat Ducato ein Lieferwagen ist, was in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auch unstreitig war. Die Restwertschätzung von DAT bezieht sich auch auf einen solchen (Fiat Ducato Luxusbus Panorama).
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Der Senat schätzt den Restwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs daher auf der Basis der DAT-Schätzung auf 9.915,97 €.
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(5) Die Summe aus Nutzungsentschädigung und Restwert beträgt [10.753,05 € + 9.915,97 € =] 20.669,02 €. Da sie den wahren Wert des Fahrzeugs im Erwerbszeitpunkt (20.700,00 €) nicht erreicht, ist kein Abzug vorzunehmen.
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d) Der Zinsanspruch folgt aus §§ 288, 291 Abs. 1 BGB.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Landgericht Memmingen den Streitwert für das Verfahren in 1. Instanz zutreffend auf 23.000,00 € festgesetzt hat, da bei Klageerhebung ein Abzugsbetrag für die Nutzungsentschädigung noch nicht vorgetragen war. Im Berufungsverfahren ist dagegen die Nutzungsentschädigung von 6.500,35 €, die sich aus dem in der Berufungsbegründung angegebenen Kilometerstand von 117.672 km bei der von der Klagepartei angegebenen Gesamtfahrleistung von 350.000 km ergibt, vom Streitwert abzuziehen, was sich auf die Kostenquote auswirkt.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.