Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 30.09.2024 – 204 StObWs 405/24
Titel:

Vollzug der Sicherungsverwahrung - Bilddateien sind keine Gegenstände iSd BaySvVollzG

Normenketten:
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4
StVollzG § 115 Abs. 3, Abs. 5
BaySvVollzG Art. 17 Abs. 1, Abs. 2, Art. 56 Abs. 3, Art. 58 Abs. 2 Satz 1, Art. 103
Leitsätze:
1. Art. 19 Abs. 4 GG gebietet es, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten und deshalb auslegungsfähige Anträge sachdienlich auszulegen. (Rn. 17)
2. Bilddateien sind keine Gegenstände im Sinne von Art. 17 BaySvVollzG. (Rn. 32 – 36)
Schlagworte:
Antrag auf gerichtliche Entscheidung, Sicherungsverwahrung, Bilddatei, Gegenstand, Langzeitausgang, Feststellungsinteresse, Ermessen, Weisung
Vorinstanz:
LG Regensburg, Beschluss vom 15.07.2024 – SR StVK 1488/22
Fundstellen:
LSK 2024, 27500
StV 2025, 135
BeckRS 2024, 27500

Tenor

1. Auf die Rechtsbeschwerde des Sicherungsverwahrten B. wird der Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg bei dem Amtsgericht Straubing vom 15.07.2024 mit Ausnahme der Festsetzung des Gegenstandswertes aufgehoben.
2. Es wird festgestellt, dass der Bescheid der JVA S vom 19.12.2022 rechtswidrig ist.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens beider Instanzen und die dem Sicherungsverwahrten darin entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
4. Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 500,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller befindet sich im Maßregelvollzug der Sicherungsverwahrung in der JVA S (im folgenden JVA S).
2
Mit Bescheid der JVA S vom 07.07.2022 war dem Sicherungsverwahrten Langzeitausgang in die Übergangseinrichtung „Wendepunkt Sozialtherapie“ in N. ab 11.07.2022 bis zum 10.01.2023 gewährt worden.
3
Im Rahmen einer Kontrolle des PCs des Sicherungsverwahrten in der Übergangseinrichtung am 16.12.2022 stellten Mitarbeiter der JVA S im Verlaufsordner des Internet Browsers Einträge fest, die darauf hinwiesen, dass der Sicherungsverwahrte Umgang mit Lichtbildern, die unbekleitete Kinder zeigen, gehabt hatte. Im Downloadordner auf der Festplatte des PCs wurde zudem eine Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“ festgestellt, auf der zwei nackte Kleinstkinder zu sehen sind.
4
Mit Bescheid vom 19.12.2022 widerrief die JVA S den mit Bescheid vom 07.07.2022 gewährten Langzeitausgang. Zur Begründung verwies sie darauf, dass aufgrund der bei der Kontrolle festgestellten Umstände der Langzeitausgang hätte versagt werden können, da das Probewohnen dem Erreichen des Vollzugsziels nicht dienen würde und der Sicherungsverwahrte gegen Weisungen verstoßen habe.
5
Gegen diesen Bescheid wandte sich der Sicherungsverwahrte mit Schreiben seines anwaltlichen Vertreters vom 22.12.2022, eingegangen beim Gericht am 23.12.2022, mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung dahingehend, dass der Bescheid vom 19.12.2022 aufgehoben werde. Nach seiner Ansicht lägen Widerrufsgründe nicht vor. Insbesondere habe er nicht gegen Weisungen verstoßen.
6
Mit Schreiben vom 23.01.2023 beantragte die JVA S den Antrag zurückzuweisen. Sie verwies darauf, dass der Besitz der auf der Festplatte des PCs des Sicherungsverwahrten abgespeicherten Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“, auf dem zwei nackte Kleinstkinder zu sehen seien, gegen die Weisung, Gegenstände auch in der Übergangseinrichtung nur nach vorheriger Erlaubnis der JVA S besitzen zu dürfen, verstoßen habe. Zudem hätten die anlässlich der Kontrolle am 16.12.2022 zutage getretenen Umstände gezeigt, dass der Sicherungsverwahrte noch nicht in der Lage sei, Risikosituationen zu erkennen und sich ausreichend kontrollieren zu können, weshalb das Probewohnen aktuell nicht dem Erreichen der Vollzugsziele diene.
7
Mit Schreiben vom 07.02.2023 nahm der anwaltliche Vertreter des Sicherungsverwahrten hierzu Stellung und verwies insbesondere darauf, dass es sich bei der auf dem PC des Sicherungsverwahrten abgespeicherten Bilddatei nicht um einen Gegenstand, sondern um Daten handeln würde, der Besitz der Bilddatei somit erlaubt war.
8
Hinsichtlich einer von der Staatsanwaltschaft N. – F. gegen den Sicherungsverwahrten erhobenen Anklage wegen des Vorwurfs des Besitzes eines kinderpornografischen Bildes (Besitz der Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“ am 16.12.2022) wurde die Eröffnung des Hauptverfahrens vom Amtsgericht Nürnberg mit Beschluss vom 27.03.2023 abgelehnt (Az.: 402 Ls 652 Js 51055/23). Ein Rechtsmittel wurde gegen diese Entscheidung nicht eingelegt.
9
Mit Schreiben vom 10.01.2024 wandte sich der Sicherungsverwahrte in einem persönlichen Schreiben an die Strafvollstreckungskammer und bat darum, die Rechtswidrigkeit des Widerrufs der Gewährung des Langzeitausgangs und die Verletzung seiner Grundrechte auf Freiheit und Resozialisierung festzustellen.
10
Mit Beschluss vom 15.07.2024 wies die Strafvollstreckungskammer den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 22.12.2022 zurück. In der Begründung verwies die Strafvollstreckungskammer darauf, dass aufgrund der Gesamtumstände eine Gefährdung des Vollzugsziels durch die bei der Kontrolle am 16.12.2022 festgestellten Umstände vorhanden sei und darüber hinaus der Sicherungsverwahrte auch gegen die Weisung, keine Gegenstände ohne vorherige Genehmigung der Antragsgegnerin zu besitzen, verstoßen habe, weshalb der Widerruf des Langzeitausgangs rechtmäßig sei.
11
Gegen diesen, dem anwaltlichen Vertreter des Sicherungsverwahrten am 16.07.2024 zugestellten Beschluss legte dieser mit Schreiben vom 15.08.2024, eingegangen bei Gericht am selben Tage, für den Sicherungsverwahrten Rechtsbeschwerde ein. Er verwies darauf, dass weder ein Weisungsverstoß vorliege noch ein Widerrufsgrund nach Art. 56 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 BaySvVollzG, da keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass der Sicherungsverwahrte sich dem Vollzug der Sicherungsverwahrung entziehen oder die vollzugsöffnenden Maßnahmen zur Begehung von Straftaten missbrauchen würde.
12
Mit Schreiben vom 26.08.2024 beantragte die Generalstaatsanwaltschaft M. die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen. Das Rechtsmittel wäre aber auch unbegründet, da der Widerruf der gewährten Lockerungsmaßnahme gerechtfertigt gewesen sei, weil das Verhalten des Sicherungsverwahrten ernsthaft befürchten lasse, dass er erneut schwere Straftaten wie die Anlasstaten begehen könnte.
II.
13
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie wurde gemäß § 118 StVollzG i.V.m. Art. 103 BaySvVollzG form- und fristgerecht eingelegt. Auch sind die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 StVollzG gegeben, da die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist.
14
1. Es liegt ein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 Abs. 1 StVollzG i.V.m. Art. 103 BaySvVollzG vor.
15
Ein zulässiger Antrag auf gerichtliche Entscheidung gehört zu den allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen, die nach überwiegender Auffassung im Rechtsbeschwerdeverfahren von Amts wegen zu prüfen sind und deren Fehlen zur Unzulässigkeit der Rechtsbeschwerde führt [st. Rspr. des Senats, Beschlüsse vom 19.03.2020 – 204 StObWs 2688/19, vom 24.01.2022 – 204 StObWs 9/22, vom 29.06.2022 – 204 StObWs 263/22, vom 01.12.2022 – 204 StObWs 198/22, jeweils nicht veröffentlicht, vom 23. Januar 2024 – 204 StObWs 578/23 –, juris Rn. 17; KG, Beschlüsse vom 18.05.2009 – 2 Ws 8/09 Vollz, juris Rn. 6, vom 01.02.2017 – 2 Ws 253/16 Vollz, juris Rn. 8, vom 25.09.2017 – 2 Ws 145/17 Vollz, juris Rn. 5; OLG Koblenz, Beschluss vom 23.06.2010 – 2 Ws 184/10 (Vollz) –, juris Rn. 11; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 7. Auflage 2020, 12. Kap., Abschn. J, Rn. 3].
16
2. Verfahrensgegenstand ist der vom Sicherungsverwahrten mit Schreiben vom 31.01.2024 erstinstanzlich gestellte Feststellungsantrag. Es handelt sich um einen Fortsetzungsfeststellungsantrag gemäß § 115 Abs. 3 StVollzG auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Widerrufsbescheids vom 19.12.2022, nachdem sich das ursprüngliche Anfechtungsbegehren infolge Zeitablaufs während des gerichtlichen Verfahrens vor der Strafvollstreckungskammer erledigt hatte.
17
Auch wenn der anwaltliche Vertreter des Sicherungsverwahrten bis in die Rechtsbeschwerdeinstanz die Aufhebung des Bescheids der JVA S vom 19.12.2022 beantragt, gebietet es Art. 19 Abs. 4 GG, vorliegend von einem Feststellungsantrag auszugehen. Die Gerichte sind verpflichtet, bei der Auslegung und Anwendung des Prozessrechts einen wirkungsvollen Rechtsschutz zu gewährleisten. Die Fachgerichte sind verpflichtet, auslegungsfähige Anträge nicht daran scheitern zu lassen, dass die Rechtslage unübersichtlich ist, und die Anträge sachdienlich auszulegen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 04.01.2021 – 2 BvR 673/20 –, juris Rn. 26).
18
Nachdem sich hier der ursprünglich erhobene Anfechtungsantrag durch Zeitablauf erledigt hatte, ist es sachgerecht, nicht auf die in den Schreiben des anwaltlichen Vertreters genannte Aufhebung des Bescheids der JVA S vom 19.12.2022, sondern auf den im Schreiben des Sicherungsverwahrten vom 31.01.2024 gestellten Feststellungsantrag abzustellen.
19
Mit Ablauf des Zeitraums, für den mit Bescheid der JVA S vom 07.07.2022 Langzeitausgang gewährt wurde (11.07.2022 bis 10.01.2023), hat sich der Antrag auf Aufhebung des Widerrufs dieser Lockerungsentscheidung mit Bescheid vom 19.12.2022 erledigt. Denn das vom Sicherungsverwahrten mit der Anfechtungsklage erstrebte Ziel, seine Rückführung in die Übergangseinrichtung „Wendepunkt Sozialtherapie“ zum Zwecke des Langzeitausgangs, war mit Ablauf der Befristung nicht mehr erreichbar.
20
Ziel des Sicherungsverwahrten in diesem Verfahren kann also nur die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids der JVA S vom 19.12.2022 sein.
21
Dementsprechend hat die Strafvollstreckungskammer in ihrer Entscheidung, auch wenn sie dies nicht explizit ausgeführt hat, in der Sache doch den Gegenstand des Feststellungsantrags, nämlich die Frage der Rechtswidrigkeit/Rechtmäßigkeit des Bescheids der JVA S vom 19.12.2022 behandelt.
22
3. Dieser gemäß § 115 Abs. 3 StVollzG statthafte Fortsetzungfeststellungsantrag ist auch zulässig, da die Zulässigkeitsvoraussetzungen für den zunächst gestellten Anfechtungsantrag gegeben waren (Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 115 Rn. 10) und ein besonderes Feststellungsinteresse gegeben ist (Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 115 Rn. 8).
23
a) Der Anfechtungsantrag war ursprünglich zulässig, da er sich gegen eine Maßnahme (Bescheid der JVA S vom 19.12.2022) richtete und innerhalb der Anfechtungsfrist (Art. 103 BaySvVollzG i.V.m. § 112 Abs. 1 StVollzG) eingereicht wurde.
24
b) Das besondere Feststellungsinteresse im Sinne des § 115 Abs. 3 StVollzG i.V.m. Art. 103 BaySvVollzG ist ebenfalls gegeben. Dieses bedeutet kein rechtliches, sondern ein schutzwürdiges Interesse rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Art (OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.11.2012 – 2 Ws 633/12 –, juris Rn. 9).
25
Gemäß § 115 Abs. 3 StVollzG ist bei der Feststellungsklage ein besonderes Rechtsschutzinteresse notwendig. Ein solches kommt nicht nur bei Wiederholungsgefahr, einem Rehabilitierungsinteresse des Antragstellers aufgrund des diskriminierenden Charakters der Maßnahme oder bei beabsichtigter Geltendmachung von Amtshaftungs-, Schadensersatz- und Folgenbeseitigungsansprüchen in Betracht (vgl. hierzu OLG Nürnberg, Beschluss vom 22.11.2012 – 2 Ws 633/12 –, juris Rn. 9; Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baier/Bachmann, Strafvollzugsgesetze, 13. Auflage 2024, Kap. P Rechtsbehelfe Rn. 3; Arloth/Krä/Arloth, 5. Auflage 2021, StVollzG § 115 Rn. 8; Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetze, 7. Auflage 2020, 12. Kap. Abschn. I Rn. 18), sondern insbesondere auch dann, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es in diesen Fällen, dass der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des schwerwiegenden – wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden – Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 08.11.2006 – 2 BvR 578/02, 2 BvR 796/02 –, BVerfGE 117, 71, juris Rn. 154 und – zu Strafvollzugssachen – BVerfG, Kammerbeschluss vom 07.03.2012 – 2 BvR 988/10 –, BVerfGK 19, 326 = NJW 2012, 2790, juris Rn. 27; s.a. Laubenthal/Nestler/Neubacher/ Verrel/Baier/Bachmann, Strafvollzugsgesetze, 13. Auflage 2024, Kap. P Rechtsbehelfe Rn. 31 und 81). Nur so kann verhindert werden, dass Rechte und insbesondere Grundrechte in bestimmten Konstellationen in rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben (BVerfG, Beschluss vom 20.03.2013 – 2 BvR 67/11 –, BVerfGK 20, 249 = NJW 2013, 1943, juris Rn. 19).
26
c) Gemessen hieran ist ein besonderes Rechtsschutzinteresse des Sicherungsverwahrten zu bejahen.
27
Dieses ergibt sich hier unter dem Gesichtspunkt der Geltendmachung eines gewichtigen Grundrechtseingriffs von solcher Art, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann. Der Sicherungsverwahrte macht hier schlüssig geltend, dass durch den Widerruf seines Langzeitausgangs ein gewichtiger Eingriff in sein Grundrecht auf Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf Resozialisierung (BVerfG, Beschluss vom 01.12.2020 – 2 BvR 916/11 –, BVerfGE 156, 63 – 182, juris Rn. 197) erfolgt sei. Nachdem der Widerruf der Bewilligung des Langzeitausgangs sofortige Wirkung hatte und der Langzeitausgang des Sicherungsverwahrten sofort beendet wurde, war rechtzeitiger Rechtsschutz auch nicht möglich.
III.
28
Die Rechtsbeschwerde des Sicherungsverwahrten B. hat auch in der Sache Erfolg und führt, da das Verfahren spruchreif ist, zur Feststellung der Rechtswidrigkeit des Bescheids der JVA S vom 19.12.2022.
29
Die JVA S ist bei ihrer Entscheidung, bei der sie ein Ermessen hatte, von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen. Diese auf einem unzutreffenden Sachverhalt beruhende Ermessensentscheidung ist fehlerhaft, da der Fehler bei der Sachverhaltsermittlung das Ergebnis durchgreifend beeinflusst hat (KG Berlin, Beschluss vom 27.08.2007 – 2/5 Ws 376/06 Vollz –, juris Rn. 44).
30
1. Vorliegend hat die Justizvollzugsanstalt die Lockerungsentscheidung vom 07.07.2022 mit Bescheid vom 19.12.2022 unter Berufung auf Art. 56 Abs. 3 BaySvVollzG widerrufen. Bei der nach Art. 56 Abs. 3 BaySvVollzG zu treffenden Entscheidung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung.
31
Die gerichtliche Überprüfung der Ermessensausübung der Behörde ist beschränkt. Eine auf der Grundlage von Art. 56 Abs. 3 BaySvVollzG getroffene Entscheidung ist gemäß § 115 Abs. 5 StVollzG i.V.m. Art. 103 BaySvVollzG gerichtlich nur darauf zu überprüfen, ob sie rechtsfehlerfrei getroffen wurde, ob also die Anstalt bei ihrer Entscheidung von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, ob sie in ihre Entscheidung die maßgeblichen Belange mit eingestellt hat und ob sie die Grenzen des ihr zustehenden Ermessens eingehalten hat (st. Rspr. zu § 115 StVollzG, vgl. etwa OLG Hamm, Beschluss vom 23.11.2023 – III-1 Vollz 564/23 –, juris Rn. 9 m.w.N.; Arloth/Krä/Arloth, 5. Aufl. 2021, StVollzG § 115 Rn. 15 m.w.N.; BeckOK Strafvollzug Bund/Euler, 26. Ed. 01.08.2024, StVollzG § 115 Rn. 18).
32
2. Soweit die JVA S im Rahmen des Widerrufs von einem Weisungsverstoß gemäß Art. 56 Abs. 3 Nr. 3 BaySvVollzG ausgegangen ist, weil der Sicherungsverwahrte am 16.12.2022 einen Gegenstand ohne vorherige Erlaubnis der Anstalt gemäß Art. 17 Abs. 2 BaySvVollzG in Besitz gehabt hätte und dabei auf die auf seinem PC gespeicherte Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“ abgestellt hat, ist dies fehlerhaft. Bei der Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“ handelt es sich nicht um einen Gegenstand im Sinne von Art. 17 BaySvVollzG.
33
a) Die für den Langzeitausgang gemäß Art. 58 Abs. 2 Satz 1 BaySvVollzG erteilte Weisung hat insoweit folgenden Inhalt:
„10. Die Hausordnung der Einrichtung der Sicherungsverwahrung ist auch im Rahmen des Langzeitausgangs für den Untergebrachten bindend, soweit die Regelungen auf das Leben in der Übergangseinrichtung anwendbar sind. Insbesondere die Regelungen zum Erwerb von Gegenständen (z.B. Erfordernis der vorherigen Genehmigung durch die Einrichtung für Sicherungsverwahrung) sind einzuhalten.“
34
b) Die auf dem PC gespeicherte Bilddatei fällt nicht unter den Begriff des Gegenstandes in diesem Sinne.
35
Das Erfordernis der Genehmigung für den Erwerb und Besitz von Gegenständen in der Einrichtung für Sicherungsverwahrung ist gesetzlich geregelt. Gemäß Art. 17 Abs. 1 BaySvVollzG dürfen Sicherungsverwahrte ihr Zimmer in angemessenem Umfang mit eigenen Gegenständen ausstatten. Nach Art. 17 Abs. 2 Satz 1 BaySvVollzG bedürfen unter anderem die Annahme und der Besitz von Gegenständen der Erlaubnis. Gemäß Art. 17 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BaySvVollzG darf die Erlaubnis versagt oder widerrufen werden, wenn (unter anderem) die Annahme und der Besitz von Gegenständen die Sicherheit oder in schwerwiegender Weise die Ordnung der Anstalt beeinträchtigen würden. Bereits aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 BaySvVollzG, der sich auf die Ausstattung des Zimmers bezieht, sowie aus dem Sinn und Zweck des Art. 17 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 BaySvVollzG, der unter anderem darauf abzielt, eine Überfrachtung des Zimmers mit Gegenständen zu verhindern (vgl. LT-Drucks. 16/13834, Seite 36 zu Art. 17), folgt, dass ausschließlich körperliche Gegenstände unter diese Vorschrift fallen.
36
Da die erteilte Weisung keine näheren Bestimmungen zum Begriff des Gegenstandes enthält, ist dieser gesetzlich normierte Begriff des Gegenstandes vorliegend maßgeblich. Weisungen nach Art. 58 Abs. 2 Satz 1 BaySvVollzG müssen aber (ebenso wie etwa Weisungen nach § 56c StGB für die Dauer der Bewährungszeit; vgl. hierzu BVerfG, Kammerbeschluss vom 02.09.2015 – 2 BvR 2343/14 –, NJW 2016, 148, juris Rn. 19; Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 56c Rn. 2a m.w.N.; BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg, 62. Ed. 01.08.2024, StGB § 56c Rn. 1; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 56c Rn. 11, jeweils m.w.N.) gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Die Weisung muss demgemäß so bestimmt formuliert sein, dass Verstöße einwandfrei festgestellt werden können und der Verwahrte unmissverständlich weiß, wann er einen Widerruf der Lockerung zu erwarten hat (vgl. zu § 56c StGB BeckOK StGB/von Heintschel-Heinegg, a.a.O., § 56c Rn. 4 m.w.N.). Angesichts dessen kommt eine Ausdehnung der Weisung auf nichtkörperliche Gegenstände nicht in Betracht.
37
3. Nachdem die JVA S in ihrem Bescheid vom 19.12.2022 von einem falschen Sachverhalt ausgegangen ist, ist auch die auf dem falschen Sachverhalt beruhende Ermessensentscheidung nicht rechtsfehlerfrei, da die Annahme des falschen Sachverhalts das Ergebnis durchgreifend beeinflusst hat. In der Begründung des Bescheids vom 19.12.2022 nimmt der aufgrund des Besitzes der als Gegenstand im Sinne vom Art. 17 BaySvVollzG angesehenen Bilddatei mit dem Titel „kleine-kinder-in-der-badewanne“ angenommene Weisungsverstoß einen erheblichen Raum ein. Es ist somit nicht auszuschließen, dass wenn die JVA S den Besitz des Bildes nicht als verbotenen Besitz eines Gegenstandes bewertet hätte und somit nicht von einem Weisungsverstoß gemäß Art. 56 Abs. 3 Nr. 3 BaySvVollzG ausgegangen wäre, ihre Entscheidung anders getroffen hätte.
38
Die fehlerhafte Ermessensentscheidung verletzt den Sicherungsverwahrten auch in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf Resozialisierung.
39
4. Demgemäß war festzustellen, dass der Widerrufsbescheid der JVA S vom 19.12.2022 rechtswidrig war und den Sicherungsverwahrten B. in seinen Rechten verletzte.
IV.
40
1. Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 1 und 4 StVollzG § 467 Abs. 1, § 473 Abs. 4 StPO.
41
2. Die Festsetzung des Gegenstandswerts für beide Instanzen beruht auf § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 65, 60, 52, 63 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 GKG.