Inhalt

LG München I, Endurteil v. 05.07.2024 – 6 O 18927/21
Titel:

Schadensersatzanspruch eines Aktionärs bei Zurückweisung der sofortigen Beschwerde gegen die Bestätigung eines Insolvenzplans mit sanierender Übertragung

Normenketten:
InsO § 253 Abs. 4 S. 3
ZPO § 286
Leitsätze:
1. Zu dem Vorbringen der Alternative eines Investor zu dem Szenario des Insolvenzplans. (Rn. 35 – 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Darlegung eines Schadens i.S.d. § 253 Abs. 4 Satz 3 InsO im Zuge der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen der Aktionäre bei Zurückweisung einer sofortigen Beschwerde gegen die Bestätigung eines Insolvenzplans. (Rn. 35 – 55) (redaktioneller Leitsatz)
3. Für die gerichtliche Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gem. § 253 Abs. 4 S. 3 InsO muss der Kläger die Zulässigkeit der - gem. § 253 Abs. 4 S. 1 InsO wegen überwiegender Nachteile einer Verzögerung des Planvollzugs - zurückgewiesenen Beschwerde gegen die Bestätigung des Insolvenzplans belegen und eine Benachteiligung glaubhaft machen. Auf den vollständigen Nachweis der Begründetheit der Beschwerde kommt es demgegenüber nicht an, da die Beschwerdeentscheidung aufgrund einer Interessenabwägung und nicht einer Tatsachenermittlung zu 100 % getroffen wird. (Rn. 32 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
4. Macht der Anspruchsteller geltend, das Insolvenzverfahren sei von vornherein nur eingeleitet worden, um ihn aus der Stellung als Aktionär zu drängen und den tatsächlich lukrativen Geschäftsbetrieb des Schuldners - wie dann durch den Insolvenzplan mit sanierender Übertragung erfolgt - zu einem Dumping-Preis an einen Investor zu überantworten, so ist ein Schaden iSd § 253 Abs. 4 S. 3 InsO nicht dargelegt, wenn er schon nicht vorträgt, dass es einen alternativen Investor gegeben hätte, der zur Zahlung des als wahren Wert bezeichneten Preises oder zur Zahlung eines Preises bereit gewesen wäre, der zur vollständigen Befriedigung auch der ungesicherten Insolvenzgläubiger im Rang des § 38 InsO samt eines etwaigen Überhangs für die - an späterer Stelle zu bedienenden - Aktionäre geführt hätte. (Rn. 4 und 35) (redaktioneller Leitsatz)
5. Jedenfalls in der Kombination von nicht zur Vollbezahlung der festgestellten Verbindlichkeiten ausreichenden Angebote einer Mehrzahl von potenziellen Investoren (Bewertung der Angebotsseite) und der Bereitschaft der finanzierenden Banken, sich auf einen solchen Teilverzicht einzulassen (Bewertung der Bedarfsseite) spricht ein erheblicher Erfahrungswert im Sinne eines Anscheinsbeweises dafür, dass sich bei einer Einzelverwertung der Vermögensgegenstände keine Erlöse ergeben würden, die zu einer Ausschüttung an Anteilseigner führen. (Rn. 46 und 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beschwerde gegen Insolvenzplan, Schadensersatz wegen Vollzug eines Insolvenzplans, Schaden eines Insolvenzgläubigers wegen sanierender Übertragung, Erwerb durch einen alternativen Investor, state of the art M & A Prozess, Veräußerung der Gesamtgruppe, Einzelveräußerungen von Beteiligungen, Anscheinsbeweis gegen ausreichenden Verwertungserlös
Fundstellen:
GmbHR 2024, 1154
ZIP 2024, 2756
ZIP 2024, 2484
ZInsO 2025, 136
AG 2024, 912
FDInsR 2024, 027332
BeckRS 2024, 27332
LSK 2024, 27332
NZI 2025, 79

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin zu 1 trägt 5% der Gerichtskosten und der Kosten der Beklagten sowie beide Nebenintervenienten. Die Klägerin zu 2 trägt 95% der genannten Kosten.
3. Das Urteil ist für die Beklagte und die Nebenintervenienten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 29.579.650,00 € festgesetzt, davon entfallen 1.465.199,00 Euro auf das Prozessrechtsverhältnis zwischen der Klägerin zu 1 und der Beklagten und de Rest auf das Prozessrechtsverhältnis zwischen der Klägerin zu 2 und der Beklagten.

Tatbestand

1
Die Klägerinnen machen gegen die Beklagte, eine in Insolvenz gefallene ehemalige Aktiengesellschaft, die im Zuge eines Insolvenzplanverfahrens durch einen Investor übernommen und umgewandelt worden ist, gemäß § 253 Abs. 4 Satz 3 InsO den Ersatz von Schäden geltend, die ihnen durch Freigabe und Vollzug des gerichtlich bestätigten Insolvenzplans entstanden sein sollen.
2
Die Klägerin zu 1 war Aktionärin der Beklagten. An die Klägerin zu 2, eine Inkassogesellschaft, haben weitere (ehemalige) Aktionäre ihre behaupteten Schadensersatzansprüche aus der Durchführung des beim Amtsgericht München – Insolvenzgericht – unter 1511 IN 2637/17 geführten Insolvenzverfahrens, das zu einem Insolvenzplan mit sanierender Übertragung geführt hat, abgetreten. Sechs Zedenten der Klägerin zu 2 hatten an dem vorausgegangenen Beschwerdeverfahren nach § 253 Abs. 1 InsO nicht teilgenommen; in dieser Höhe wurde die Klage teilweise zurückgenommen.
3
Die nachmalige Schuldnerin hat Anfang 2015 zur Sicherung der Konzernliquidität einen Konsortialkreditvertrag über 86 Mio. Euro abgeschlossen, dessen Rückführung Anfang 2018 fällig geworden wäre. Es wurde dann eine Verlängerung in Form eines Kündigungsverzichts bis Ende Januar 2018 vereinbart, die Mindesttilgung und Bedienung der „Financial Covenants“ (insbesondere bestimmte Berichtspflichten an die Banken und die Einhaltung von bestimmten Kennzahlen im Betrieb der Schuldnerin) wurde bis dahin ausgesetzt. Der seit 04/2014 tätige Alleinvorstand sollte eine Restrukturierung der Kreditverbindlichkeiten durchführen. Mit einer Adhoc-Mitteilung vom 20.07.2017 wurde eine Einigung mit einer Sp. S.a.r.l. – das ist der spätere hiesige Investor des Insolvenzplans, im folgenden auch kurz Sp. – verkündet, die jedoch letztlich nicht umgesetzt werden konnte Nach Insolvenzantrag des damaligen Alleinvorstands der Beklagten vom 27.09.2017 wurde durch Beschluss des Amtsgerichts München vom 01.12.2017 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet,, kurz zuvor wurde ein erster Entwurf eines Insolvenzplans eingereicht, dem mehrere Überarbeitungen folgten. Am 29.06.2018 legte die Beklagte eine (weitere) überarbeitete Fassung des Insolvenzplans vor (Anlage K 13 – die Klägerinnen bezeichnen die Anlagen mit KSP samt Nummer oder KS& P samt Nummer, zur Vereinfachung wird dies gekürzt auf K samt Nummer). Im Abstimmungstermin am 23.06.2018 verweigerten rund 40% der Aktionäre der Schuldnerin die Zustimmung zum Insolvenzplan. Mit Beschluss vom 14.08.2018 ersetzte das Insolvenzgericht die Zustimmung der Aktionäre zum Insolvenzplan (wegen Verstoßes gegen das Obstruktionsverbot). Gegen diesen Beschluss legte die Klägerin zu 1 und weitere Aktionäre mit Schriftsatz vom 28.08.2018 Beschwerde beim Landgericht München I ein (Anlage K 19). Mit Beschluss vom 28.11.2018 (Anlage K 22) wies das Landgericht München I die sofortige Beschwerde im Rahmen des Freigabeverfahrens zurück. Die gegen den Beschluss des Landgerichts München I erhobene Anhörungsrüge wurde zurückgewiesen, der dagegen beim Bundesverfassungsgericht begehrte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wurde mit Beschluss vom 12.12.2018 (Anlage K 23) abgelehnt.
4
Die Klägerinnen behaupten, das Insolvenzverfahren sei von vornherein nur eingeleitet worden, um sie aus der Stellung als Aktionäre zu drängen und den tatsächlich lukrativen Geschäftsbetrieb zum Dumping-Preis an einen Investor zu überantworten. Dem Investor sei so eine billige Übernahme ermöglicht worden. Der durchgeführte M& A-Prozess (Merchandising und Acquisition, hier: das Verfahren zur Auswahl eines Investors und Bestimmung der Bedingungen der Übertragung, künftig auch kurz Investorenprozess) sei eine reine Farce gewesen und habe zu einem Zeitpunkt stattgefunden, zu dem es längst eine Einigung mit dem Investor Sp. gegeben habe. Diverse interessierte potentielle Investoren seien nicht in den M& A-Prozess einbezogen worden.
5
Die Beklagte war (das ist unstreitig) die nicht operativ tätige Konzernholding einer Gruppe, die im Bereich „Chemische Zusatzstoffe für die Roheisenentschwefelung, sowie Fülldrähten und anderen Produkten für die Sekundärmetallurgie“ Weltmarktführerin war. Produktiv tätig waren/sind die von der Beklagten gehaltenen Tochtergesellschaften, aber auch die Beklagte selbst, so behaupten die Klägerinnen, habe gut verdient. Dementsprechend sei der Insolvenzplan für die Beklagte bewusst so aufgestellt worden, dass die Inhaberschaft an der Beklagten und damit auch an den Tochtergesellschaften wechsele, aber für sie, die Aktionäre, nichts abfalle.
6
Die Benachteiligung der Aktionäre leiten die Klägerinnen aus verschiedenen Umständen ab, die sie detailliert darstellen. Zusammengefasst geht es insbesondere um folgende Gesichtspunkte:
7
(1) Die Sp. S.a.r.l. hat bei den finanzierenden Banken fast sämtliche Darlehensforderungen gegen die nachmalige Insolvenzschuldnerin aufgekauft, bei einem Nominalwert von ca. 74 Mio. Euro zu einem Preis von nur 48 Mio. Euro. Im Rahmen des Insolvenzverfahrens ist dann – mittels Debt to Equity-Swap – davon ein Teilbetrag von 30 Mio. gegen neue Aktien der Schuldnerin eingetauscht worden. In der Folgezeit habe aber die Schuldnerin (= Beklagte) dann 44 Mio. an den Investor zurückgeführt. Der Investor habe für einen Betrag von netto 4 Mio. Euro (Differenz von 48 Mio. Aufkauf von Verbindlichkeiten zu 44 Mio. Euro Rückzahlung an Investor) die Schuldnerin mit einem Jahresumsatz von 280 Mio. Euro übernommen. Alleine das EBITDA der Schuldnerin habe 2017 (= Jahr der Insolvenz) 20 Mio. Euro und ein „adjustiertes EBITDA“ von 13,2 Mio. Euro betragen, also ein Mehrfaches des Kaufpreises.
8
(2) Die Klägerinnen behaupten weiter, der Alleinvorstand habe über Monate versucht, eine ordentliche Hauptversammlung zu verhindern. Die nachfolgend geschilderten Details sind in den äußeren Umständen unstreitig: Eine für den 31.08.2017 angesetzte Hauptversammlung wurde kurzfristig wieder abgesetzt. Die Klägerinnen halten dies für rechtswidrig und behaupten, Grund der Absetzung sei, dass „die Verwaltung“ erkannt habe, dass die von ihr vorgeschlagenen Beschlüsse keine Mehrheit erhalten würden. Die dann für 10.10.2017 einberufene Hauptversammlung wurde wiederum abgesetzt und mit gleichem Programm für den 06.12.2017 angesetzt. Dieses Zeitfenster habe nach Darstellung der Klägerinnen ersichtlich mit der Genehmigung des Insolvenzplanes korrespondieren sollen. Als dies nicht gelungen sei, sei die Hauptversammlung dann erneut abgesetzt worden. Eine Gruppe von Aktionären hat durch gerichtlichen Antrag gemäß § 122 Abs. 1, Abs. 3 AktG dann zum 18.05.2018 eine Hauptversammlung erzwungen.
9
(3) Das Insolvenzverfahren sei ohne Existenz von Insolvenzgründen und auch unter Missachtung von Rechten der Aktionäre durchgeführt worden. Der Vorstand sei mangels Autorisierung durch die Hauptversammlung nicht zur Antragsstellung berechtigt gewesen. Das Insolvenzgericht habe den Aktionären die Möglichkeit der Teilnahme am Eröffnungsverfahren als Nebenintervenienten gemäß §§ 4 InsO, 66 ZPO versagt und auch sonst Beteiligungsrechte negiert. Der von der Beklagten am 28.11.2017 vorgelegte Insolvenzplan sei unvollständig gewesen, auch die überarbeiteten Versionen vom 28.02.2018 und 29.06.2018 (Anlage K 13) hätten unter erheblichen Mängeln gelitten. Insbesondere sei die Liquiditätsplanung fehlerhaft gewesen. Die dem Insolvenzplan zugrundegelegten Gutachten von ... und ... seien, wie die Sachverständigengutachten von Professor Dr. ... (Anlage K 15, 17) und Dr. ... (Anlage K 16) zeigen würden, fehlerbehaftet und würden lediglich von einem Gesamtvermögen der Schuldnerin von 67,6 Mio. statt tatsächlich 148,1 Mio. Euro ausgehen.
10
Die Klägerinnen behaupten dementsprechend, sie seien durch die Umsetzung des Insolvenzplans geschädigt worden. Sie berechnen ihren Ersatzanspruch gemäß § 253 Abs. 4 Satz 3 InsO wie folgt:
„Vermögen des Unternehmens von 148,1 Mio. Euro abzüglich Verbindlichkeiten von 71,2 Mio. Euro gleich Wert von 76,9 Mio. Euro. Bei 6.544.930 Aktien ergebe das 11,74 Euro/Aktie. Abzuziehen seien weiter Kosten des Insolvenzverfahrens, so dass ein Betrag von 9.0079 Euro/Aktie verbleibe. Gegenzurechnen sei der Erlös je Akte mit 0,00 Euro, der Schaden je Aktie betrage somit 9,0079 Euro. Daraus errechnen sich dann die Klagebeträge.“
11
Hinsichtlich des „wahren“ Wertes verweisen die Kläger auf das bereits vorgelegte Gutachten des Prof. ... (Anlage K 14) sowie ergänzende Stellungnahmen der von ihnen beauftragen Gutachter.
12
Die Klägerin zu 2 hat mit Schriftsatz vom 24.03.2023 die Klage in Höhe von 400.299 Euro zurückgenommen (Bl. 122 d.A.). Mit Schriftsatz vom 5.06.2023 hat die Beklagte dem Sachwalter des Insolvenzverfahrens und ihre Verfahrensbevollmächtigten im Insolvenz- und Beschwerdeverfahren den Streit verkündet.
13
Die Klägerinnen beantragen zuletzt,
1.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 1 einen Betrag von 1.465.199,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
2.
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu 2 einen Betrag von 27.714.152,00 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
14
Die Beklagte und die Nebenintervenienten beantragen,
Klageabweisung, im Falle der Nebenintervenienten samt zugehörigem Kostenantrag.
15
Die Beklagte beruft sich auf Verjährung aufgrund der im Insolvenzplan gesetzten Ausschlussfrist in Ziffer C.IV.8 und der aus ihrer Sicht verspäteten Klagezustellung.
16
In der Sache hält sie die Klage aus verschiedenen Gründen für abweisungsreif. Formal sei die Klage schon nicht zulässig, weil die Klägerinnen gemäß allgemeiner Auffassung die Zulässigkeit und Begründetheit ihrer Beschwerde glaubhaft machen müssten, denn die Freigabe durch das Landgericht nach § 253 InsO setze eine sonst zulässig und begründete Beschwerde voraus. Hier fehle es jedenfalls an der Glaubhaftmachung der Begründetheit, da das vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. ... dazu nicht geeignet sei. Das Gutachten sei ohne die erforderliche eigenständige Prüfung der Werte der damaligen Schuldnerin erstellt worden, es beschränke sich auf – sachlich nicht angebrachte und inhaltlich falsche – Kritik an bestimmten Bewertungsansätzen der Gutachten von ... und ....
17
Im Übrigen liege kein Schaden der Klägerinnen vor, da die Klägerinnen bzw. die abtretenden Aktionäre auch bei einer Regelinsolvenz kein Geld erhalten hätten. Die Wertansätze der Klägerinnen seien falsch. Nur mit dem Insolvenzplan habe überhaupt eine Befriedigung der ungesicherten nicht nachrangigen Insolvenzforderungen erreicht werden können. Auch würden die Klägerinnen unberücksichtigt lassen, dass die finanzierenden Banken ihre Forderungen gegen die Beklagte unter Nennwert verkauft haben (dies ist unstreitig).
18
Ferner habe ein ordnungsgemäßer Investorenprozess stattgefunden, in dem man Investoren gesucht habe. Es habe keinen relevanten Alternativinvestor gegeben, insbesondere Keinen der bereit gewesen wäre, einen höheren Kaufpreis zu zahlen.
19
Die Aktivlegitimation der Klägerin zu 2 wird bestritten, weil die Abtretungen an die Klägerin zu 2 unwirksam seien. Die Klägerin zu 2 sei nicht Aktionärin der Beklagten und damit nicht beteiligt im Beschwerdeverfahren gewesen. Die Echtheit der von der Klägerinnen vorgelegten Originalabtretungsurkunden samt der Echtheit der Unterschriften auf den Abtretungserklärungen wird bestritten, teils würden Unterschriften ganz fehlen.
20
Hilfsweise rechnet die Beklagte gegen Ansprüche der Klägerin zu 1 und des Aktionärs und ehemaligen Aufsichtsrats Dr. ...mit Schadensersatzansprüche in Höhe von 17,88 Mio. Euro – Kosten des Insolvenzverfahrens – auf. Die Klägerin zu 1 und Dr. ... hätten die alternative Sanierung – außerhalb des Insolvenzverfahrens – torpediert, um sich an der Investorin schadlos zu halten. Der dadurch eingetretene Schaden, insbesondere die Verletzung von Organpflichten als Aufsichtsrat bzw. Verhaltenspflichten als Aktionär werde daher hilfsweise geltend gemacht.
21
Die Nebenintervenienten treten der Argumentation der Beklagten bei und substantiieren diese teils bedeutend ergänzend, insbesondere zur Frage der Durchführung des M& A-Prozesses und der wirtschaftlichen Lage der nachmaligen Schuldnerin vor dem Insolvenzverfahren. Die Nebenintervenientin zu 2 führt insoweit aus, die Beklagte sei tatsächlich seit 2014 ein Sanierungsfall gewesen, wegen der sich verstärkenden Stahlkrise. Das Alternativangebot der Klägerin zu 1, eine Sanierung über Kapitalerhöhungen, sei nicht realistisch gewesen, die eingeschalteten Sanierungsgutachter hätten eine Sanierungsfähigkeit der Beklagten im Wege einer amend-and-extend-Lösung nicht mehr bestätigt. Als einzige Sanierungsmöglichkeit zur Abwendung der Insolvenz sei daher der Investorenprozess eingeschätzt worden. Die den Investorenprozess durchführende Investmentbank habe auch die Möglichkeit von Teilverkäufen geprüft, diese aber nicht als höherwertig betrachtet. Dies sei auch von den finanzierenden Banken so gesehen worden. Die Klägerin zu 1 sei ursprünglich sogar der favorisierte Investor gewesen, habe aber nicht fristgerecht ein bindendes Angebot abgegeben, so dass die Konsortialkreditgeber Verhandlungen mit Sp. aufgenommen hätten. Das verspätete Angebot der Klägerin zu 1 sei dann trotzdem in den weiteren Investorenprozess einbezogen worden. Auch dieses habe aber einen sog. „haircut“ (= Schuldenschnitt durch entsprechenden Nachlass der Gläubiger) von 15% vorgesehen. Das Angebot sei letztlich nicht erfolgreich gewesen, weil die Konsortialkreditgeber die letztlich vorgelegten Finanzzierungsnachweise der Klägerin zu 1 als unzureichend befunden hätten. Letztendlich hätten sich die Konsortialkreditgeber für den Investor Sp. entschieden.
22
Die (klagenden) Aktionäre hätten die Basis des vorinsolvenzlichen Restrukturierungskonzepts eines Debt-to-Equity-Swap und ggf. einem nachfolgenden Squeeze-Out abgelehnt. Dies habe letztendlich zur Insolvenz der Schuldnerin geführt. In einem dual-track-Verfahren sei sowohl der Insolvenzplan mit Sp. als auch das Finden eines Bieters versucht worden. Es sei jedoch trotz eines mustergültig durchgeführten Investorenprozesses nicht gelungen, einen Investor zu finden, der auch nur einen Kaufpreis von 90 Mio. Euro bezahlt hätte.
23
Der Nebenintervenient zu 1 (der damalige Sachwalter) weist ergänzend insbesondere die Behauptungen eines kollusiven Zusammenwirkens zum Nachteil der Aktionäre und einer Täuschung des Insolvenzgerichts zurück. Das Insolvenzverfahren sei ordnungsgemäß betrieben worden. Er weist nochmals darauf hin, dass auch die Klägerin zu 1 kein Angebot zu dem nun von ihr behaupteten wahren Wert der Schuldnerin abgegeben habe. Die Insolvenz sei aufgrund der fehlenden Mitwirkung der Aktionäre eingetreten, insbesondere dem Tagesordnungsergänzungsantrag, mit welchem die fehlende Unterstützung für den debt-to-equity-swap offenkundig geworden sei.
24
Der Nebenintervenient zu 1 ergänzt in der Sache, dass die vorhandene Masse für die Begleichung der Klageforderungen nicht ausreichen würde. Abzustellen sei insoweit nicht auf das jetzt vorhandene Vermögen der Beklagten, sondern auf das Vermögen zum Zeitpunkt der Planentscheidung. Das seien damals nur 7-8 Mio. Euro gewesen.
25
Die Klägerinnen bestreiten eine Verjährung. Die Ausschlussfrist des Insolvenzplans sei unwirksam, jedenfalls gelte sie nur für Ansprüche nach § 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO.
26
Zur weiteren Ergänzung des Tatbestands wird auf die genannten Fundstellen, die umfangreich protokollierten Erörterungen zu Protokoll der mündlichen Verhandlungen vom 30.03.2023 und 11.04.2024 sowie die Schriftsätze sämtlicher Prozessbevollmächtigter samt zugehöriger Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

27
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg, weil nach Überzeugung der Kammer den Aktionären kein Schaden erwachsen ist und die Klägerin zu 1 sich ergänzend nicht auf den Eintritt eines Schadens berufen kann
28
1. Das Landgericht München I, 6. Zivilkammer ist aufgrund Zuständigkeitsbestimmung des 34. Zivilsenats vom 06.10.2022 funktionell zur Entscheidung über den Rechtsstreit zuständig.
29
2. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch nach § 253 Abs. 4 S. 3 InsO.
30
a) Das Landgericht München I, 14. Zivilkammer, hat die Beschwerde gegen die Bestätigung des Insolvenzplans durch das Amtsgericht zurückgewiesen, weil die Nachteile eines Planvollzugs die Nachteile einer Verzögerung des Planvollzugs überwiegen würden (Anlage K 22). In diesem Fall kann der Beschwerdeführer nach § 253 Abs. 4 S. 3 Ersatz des Schadens aus der Masse verlangen, der ihm durch den Planvollzug entsteht. Sämtliche jetzt noch relevanten Zedenten – vorbehaltlich etwaiger Unterschriftsfälschungen, dies wurde noch nicht geprüft – und die Klägerin zu 1 sind Beschwerdeführer des damaligen Beschwerdeverfahrens. Die Abtretung an die Klägerin zu 2 ist nicht verboten, insbesondere gehört nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshof die Geltendmachung von durch Abtretungen gesammelt Einzelansprüchen zur legalen Tätigkeit eines Inkassounternehmens (z.B. BGH, Urteil vom 13.07.2021 – II Z R 84/20). Aus den jeweiligen Abtretungserklärungen lässt sich – teils noch – hinreichend deutlich entnehmen, dass die Klägerin zu 2 auch zur gerichtlichen Geltendmachung befugt ist.
31
Auf Fehler im Beschwerdeverfahren oder des Insolvenzplans kommt es für den Schadensersatzanspruch nicht an. Daher können die insoweit vorgetragenen Behauptungen der Klägerinnen im Grundsatz dahin gestellt bleiben. Zu erwähnen ist insoweit nur, dass die Klägerinnen in vielen Fällen zu Unrecht die Verletzung von Rechten der Aktionäre rügen. Es bedarf zur Insolvenzantragstellung durch den Vorstand einer AG genausowenig der Zustimmung der Hauptversammlung (schon wegen der sehr kurzen Fristen für die Stellung eines Insolvenzantrags nach damaligem Recht) wie es im Insolvenzverfahren – auch dem Insolvenzantragsverfahren – die Möglichkeit einer Nebenintervention gibt. Zwar weist das Insolvenzantragsverfahren gewisse Annäherungen an den Parteiprozess auf, eine Nebenintervention ist auch dort gleichwohl systemfremd, weswegen die Verweisung nach § 4 InsO nicht greift (“soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt“).
32
b) Soweit in der Literatur gefordert wird, die Kläger müssten die Zulässigkeit und Begründetheit der damaligen Beschwerde belegen machen, teilt die Kammer diese Auffassung, hält sie allerdings auch für erfüllt.
33
aa) Prüfungsmaßstab ist dabei nach Überzeugung der Kammer die Zulässigkeit der Beschwerde und die Glaubhaftmachung einer Benachteiligung. Auf den vollständigen Nachweis der Begründetheit kann es demgegenüber nicht ankommen, da die Beschwerdeentscheidung aufgrund einer Interessenabwägung und nicht einer Tatsachenermittlung zu 100% getroffen wird. Die Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens ist im Beschwerdeverfahren wegen der zeitkritischen Freigabeentscheidung nicht erforderlich und die Aktionäre über § 253 Abs. 4 S. 3 InsO auch hinreichend geschützt. Insoweit wird auf die ausführliche Begründung der Kammer in der mündlichen Verhandlung vom 11.04.2024 (Terminsprotokoll Bl. 251/255 d.A.) ergänzend verwiesen.
34
bb) Eine Glaubhaftmachung der Benachteiligung erachtet die Kammer für ausreichend vorgetragen im Beschwerdeverfahren durch Vorlage von Sachverständigengutachten und Stellungnahmen von Professor Dr. ... (Anlage K 15, 17) und Dr. ... (Anlage K 16). Dabei ist es nicht zu beanstanden, wie die Kammer auch schon in der mündlichen Verhandlung vom 11.04.2024 (Terminsprotokoll, Bl. 251/255 d.A.) angemerkt hat, dass auf die Zahlenbasis von ... zurückgegriffen wurde und keine eigenen Ermittlungen erhoben wurden. Auf die Frage, ob die Benachteiligung eingetreten ist, d.h. Vorliegen eines tatsächlichen Schadens kommt es im Rahmen der Prüfung der ausreichenden Einlegung einer Beschwerde nicht an.
35
c) Einen Schaden i.S.d. § 253 Abs. 4 S. 3 InsO konnten die Klägerinnen nicht zur Überzeugung des Gerichts belegen. Die Klägerinnen haben, trotz mehrfacher Aufforderung der Kammer, schon nicht vorgetragen, dass es einen alternativen Investor gegeben hätte, der bereit gewesen wäre, den von ihnen als wahren Wert bezeichneten Preis von rund 148 Mio. Euro zu bezahlen – oder auch nur einen Preis, der zur vollständigen Befriedigung auch der ungesicherten Insolvenzgläubiger im Rang des § 38 InsO, samt eines etwaigen Überhangs für die – an viel späterer Stelle zu bedienenden – Aktionäre (vorrangig u.a. noch Gläubiger nach § 39 InsO). Entsprechend hat die Kammer in der mündlichen Verhandlung vom 11.04.2024 bekannt gegeben, diesen Weg zur Begründung des Schadensersatzanspruchs nicht weiter zu prüfen.
36
aa) Demgegenüber haben die Beklagte und die Nebenintervenienten mit den mit ihren Schriftsätzen vorgelegten Anlagen zur Überzeugung der Kammer, § 286 ZPO, belegen können, dass im Rahmen eines als „ideal“ oder „state of the art“ zu bezeichnenden Investorenprozesses kein Bieter gefunden werden konnte, der zur Zahlung eines höheren Kaufpreises als Sp. bereit gewesen wäre. Der insbesondere von den Nebenintervenienten belegte Investorenprozess mit seinen verschiedenen Beteiligungsstufen weist keine Mängel auf, das durch die Investmentbank ... (künftig kurz: ... ) geführte Verfahren ist zu einem sachgerechten Ergebnis gekommen. Bei dieser Bewertung ist der besondere Zeitdruck, der schon von dem eröffneten Insolvenzverfahren ausging als begrenzend zu berücksichtigen.
37
In personeller Hinsicht ist der Investorenprozess im Insolvenzverfahren hinreichend fachkundig begleitet worden. Die Einschaltung zweier renommierter Fachgutachter zur wirtschaftlichen Seite, einer Investmentbank, eines der Kammer als sorgfältig bekannten Sachwalters und mehrerer Anwaltskanzleien bedarf keiner weiteren Kommentierung.
38
Der materielle Investorenprozess zum Insolvenzplan hat auf dem vorprozessualen Investorenprozess zur außerinsolvenzlichen Sanierung der Schuldnerin aufgesetzt. Dazu sind aus den vorgelegten Unterlagen folgende Abläufe ersichtlich und belegt:
39
Die Investmentbank ... wurde im Februar 2016 von der Schuldnerin mandatiert, um strategische Alternativen zur Eigenkapitalstärkung der Schuldnerin zu analysieren und geeignete Maßnahmen umzusetzen. Zu diesem Zeitpunkt bewertete die ... die Schuldnerin mit einem Wert von 50 bis 65 Mio. Euro und im Falle eines Forderungsverkaufs im Sekundärmarkt mit 45 bis 50 Mio. Euor (Anlage SVK I 14, 15). Die zunächst von den beteiligten Konsortialbanken präferierte Lösung einer Amend-to-Extend Lösung – insbesondere auf Vorlage eines Vorschlags der S. Group – wurde aufgrund der erneuten Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Schuldnerin von Seiten der Banken abgelehnt. Entsprechend der Eckpunktevereinbarung vom 31.01.2017 zwischen den Banken und der Schuldnerin sollte daher ein Investorenprozess flankiert mit einer Stillhaltevereinbarung bis Januar 2018 beschritten werden.
40
Im Rahmen des von ... durchgeführten Investorenprozesses wurden 10 Beteiligte angesprochen, bei denen es sich um strategische Käufer oder zumindest um Finanzinvestoren mit einschlägigen Erfahrungen im Stahl- bzw. stahlnahen Bereich handelte (Anlagenkonvolut SVK I 14, 15). Soweit die Klägerinnen die Begrenzung auf lediglich 10 Beteiligte kritisieren, verkennen sie den Umstand, dass es sich bei der Schuldnerin um ein börsengelistetes Unternehmen gehandelt hat. Jedwede öffentliche Information hätte die Schuldnerin für feindliche Übernahmen angreifbar gemacht, daher war die Begrenzung auf einen kleinere Kreis der potentiellen Interessenten nicht zu beanstanden.
41
Bindende Angebote wurden bis zum 28.04.2017 abgefragt. Insgesamt gab es fünf Interessenbekundungen, die aber aufgrund des Angebotspreises der Klägerin zu 1 kein bindendes Angebot abgeben wollten. Die Klägerin zu 1 hatte trotz entsprechender Erwartung der Banken kein fristgerechtes Angebot abgegeben, sondern legte zum 31.05.2017 erstmals ein Angebot vor. Auch in diesem Angebot sah die Klägerin zu 1 einen haircut der Banken zwischen 15 und 20,18 Mio. Euro vor (Anlage SVK I 19). Die Unternehmensbewertung der Schuldnerin wurde von Seiten der Klägerin zu 1 mit 78 bzw. 79 Mio. Euro bewertet. Das von der Klägerin zu 1 abgegebene Angebot wurde von ... im Hinblick auf die Finanzierungsbestätigung nicht als ausreichend werthaltig erachte (Anlage SVK I 20, 21). Trotz entsprechender Aufforderung wurde kein ausreichender Finanzierungsnachweis von der Klägerin zu 1 beigebracht (Anlage SVK I 22 bis 25). Letztendlich fand dann ein einfacher Forderungs(ver) kauf von den Banken an Sp. über einen Betrag i.H.v. 48 Mio am 22.09.2017 (Anlage SVK I 14, 15) statt.
42
Zeitlich parallel zum Insolvenzverfahren hat sich dieser Prozess wie folgt fortgesetzt (Anlagen SVK I 20 bis 25, Anlage K 33):
43
Aufgrund des am 27.09.2017 gestellten Eigenantrags der Schuldnerin auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens wurde ... vom vorläufigen Gläubigerausschuss am 24.10.2017 mit der Durchführung eines erneuten Investorenprozesses beauftragt (Anlage SVK I 26). Von den kontaktierten 14 Personen gab keine der Beteiligten einen den Anforderungen genügenden LOI (= letter of intent) ab (Anlage K 33). Das von den Klägerinnen als Anlage K 35 vorgelegte Schreiben von Robus ist unbehelflich. Zum einen datiert dies auf einen Zeitraum vor dem Insolvenzverfahren und zum anderen ging es um einen Forderungsabkauf bei den Konsortialbanken. Das einzige abgegebene Angebot von Herrn ... stellte keinen belastbaren LOI dar. Soweit die Konsortialpartner, D. B. und J. (HK) Trading und ein nicht näher benannter Fremdkapitalinvestor als ergänzende Angabe am 15.11.2017 nachgereicht wurde, genügte dies den Anforderungen für ein belastbares Finanzierungs- und Transaktionskonzept nicht aus. Im Ergebnis blieb daher keine andere Möglichkeit als die Sanierung entsprechend dem beabsichtigten Insolvenzplan durchzuführen. Eine Alternative zum Insolvenzplan wurde mit dem zweiten Investorenprozess sehr wohl gesucht.
44
Die Rüge der Klägerinnen, dass bestimmte von ihnen benannte Investoren und Interessenten nicht beteiligt worden seien, ist ausweislich der vorgelegten Unterlagen und Auswertungen von ... nicht zutreffend. Die angeblich vermissten Investoren wurden zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Investorenprozesses angesprochen, haben sich aber nicht weiter beteiligt (vgl. Anlage SH 28, Seit 4, Anlage SH 29, Anlage K 35).
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bb) Die Argumentation der Klageseite, dass kein state of the art M & A Prozess durchgeführt worden sei, da man nur versucht habe die Gesamtgruppe und nicht Einzelveräußerungen der Beteiligungen geprüft habe, geht ins Leere. Die Klägerinnen können mit diesem Argument nicht gehört werden, da sie verkennen, dass im ersten Investorenprozess (vor Insolvenzantragstellung) die kreditgebenden Banken das gewählte Verfahren bestimmten und entschieden. Es war daher nicht die Entscheidung der Insolvenzschuldnerin oder von ... sondern wurde damals von den Kapitalgebern „diktiert“. Aber auch für den zweiten Investorenprozess, parallel zum Insolvenzverfahren, greift die Kritik der Klägerinnen nicht. Zwar konnte es hier letztlich kein Diktat der Gläubigerbanken mehr geben, schon weil diese durch den Abverkauf ihrer Forderungen nicht mehr beteiligt waren, Dafür gab es einerseits einen erhöhten Zeitdruck, andererseits musste für das gesamte Vermögen der Insolvenzschuldnerin eine Lösung gefunden werden, ein reiner Teilverkauf kam nicht mehr in Betracht. Schließlich zeigen die Klägerinnen auch nicht auf, dass es im Insolvenzverfahren Bieter gegeben hätte, die bestimmte einzelne Vermögensgegenstände zu Preisen erworben hätten, die insgesamt nicht nur zu einer Volldeckung der Verbindlichkeiten, sondern auch zu einer Bereinigung des übrig bleibenden Restes geführt hätte.
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3. Dass bei regulärem Verlauf des Insolvenzverfahrens ein so hoher Verwertungserlös hätte erzielt werden können, dass auch noch die Klägerinnen (bzw. deren Zedentinnen) als Ausschüttungsbeteiiligte etwas erhalten hätten, also mehr als „0“ gemäß Insolvenzplan, ist nach Auffassung der Kammer widerlegt, § 286 ZPO. Dies ergibt sich nach Auffassung der Kammer aus einem Anscheinsbeweis, den die Klägerinnen nicht erschüttert haben:
a) „Der Anscheinsbeweis, auch prima-facie-Beweis genannt, ist in der gerichtlichen Praxis (vor allem im Haftpflichtrecht) von eminenter Bedeutung. Beim Anscheinsbeweis handelt es sich nicht um ein besonderes Beweismittel, sondern es geht um die Berücksichtigung der allgemeinen Lebenserfahrung durch den Richter im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Der Anscheinsbeweis ist letztlich eine typisierte Form des Indizienbeweises. Unzweifelhaft ermöglicht die freie Beweiswürdigung dem Richter, aus feststehenden Tatsachen unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung Schlüsse auf das Vorliegen streitiger Tatsachenbehauptungen zu ziehen. Eine besondere Form dieser mittelbaren Beweisführung ist der Anscheinsbeweis. Voraussetzung seiner Anwendung ist ein sog. typischer Geschehensablauf, also ein sich aus der Lebenserfahrung bestätigender gleichförmiger Vorgang, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich, dass der Anscheinsbeweis für den Nachweis jedes Verschuldens in Betracht kommt, selbst wenn eine Norm strafähnlichen Charakter aufweist (z.B. § 890 ZPO). Zum Verhältnis des Anscheinsbeweises zur tatsächlichen Vermutung.
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Die Verwertung von Erfahrungssätzen, die einen typischen Geschehensablauf beinhalten, im Rahmen der Beweiswürdigung muss ein selbstverständlicher Teil der richterlichen Überzeugungsbildung sein. Kein Richter kann sich ein hinreichendes Urteil über die Tatsachen bilden, ohne dass er seine Lebenserfahrung und das Erfahrungswissen seiner Zeit verwertet. Die Einbeziehung solcher Gesichtspunkte in die Beweiswürdigung kann deshalb auch keinen Verstoß gegen § 286 darstellen. Zu beachten ist bei der Heranziehung von Erfahrungssätzen, dass sich durch sie für den Richter eine Anfangswahrscheinlichkeit ergibt, zu der im Rahmen der richterlichen Gesamtwürdigung später die konkrete Beweisaufnahme hinzukommt. Ist die Anfangswahrscheinlichkeit bereits so hoch, dass der Richter zu einer Überzeugung iSv Abs. 1 gelangt, so bedarf es keiner weiteren Beweisführung. Darin sind zugleich die praktische Bedeutung und die Beliebtheit des Anscheinsbeweises zu sehen. Auch die Erschütterung des Anscheinsbeweises durch den Gegenbeweis (nicht durch den Beweis des Gegenteils) erklärt sich daraus.
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Auch im Rahmen der Anwendung des Anscheinsbeweises muss der Richter zur vollen Überzeugung der festgestellten Tatsachen gelangen. Es genügt nicht, dass von mehreren denkbaren Möglichkeiten die eine wahrscheinlicher ist als die anderen. Der Anscheinsbeweis ist als Teil der Beweiswürdigung prozessrechtlicher Natur. Er untersteht also der lex fori“ (Prütting in Münchner Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 286 Rn. 50-52.).
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b) Die Kammer hält nach ihrer Erfahrung in der vorliegenden Konstellation die Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises für gegeben. Jedenfalls in der Kombination von nicht zur Vollbezahlung der festgestellten Verbindlichkeiten ausreichenden Angebote einer Mehrzahl von potentiellen Investoren (Bewertung der Angebotsseite) und der Bereitschaft der finanzierenden Banken, sich auf einen solchen Teilverzicht einzulassen (Bewertung der Bedarfsseite) spricht nach Auffassung der Kammer ein erheblicher Erfahrungswert dafür, dass sich bei bei einer Einzelverwertung der Vermögensgegenstände keine Erlöse ergeben würden, die zu einer Ausschüttung an Anteilseigner führen. Sonst würde es keinen Grund für die Bereitschaft der Banken zu einem Teilverzicht auf Forderungen geben, denn Forderungen finanzierender Banken sind regelmäßig dadurch gekennzeichnet, dass Banken diese Forderungen sehr gut belegen können und sie gleichzeitig, schon zur Erfüllung aufsichtlicher Vorgaben, einen überdurchschnittlich guten Einblick in die Einkommens- und Vermögensverhältnisse ihrer Kunden haben. Wenn schon die finanzierenden Banken zu einem Teilverzicht bereit sind, dass nachrangige Ausschüttungsbeteiligte wie Anteilsinhaber noch etwas erhalten würden.
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Die Kammer stützt sich insoweit auf die Erfahrungswerte von Vorsitzendem (über 30 Jahre Wirtschaftsrecht, zivil- und strafrechtlich, davon alleine 14 Jahre im Bereich Insolvenzanfechtung und 6 Jahren Bankrecht) und Berichterstatterin (mehrjährige Tätigkeit im Bankrecht).
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c) Diese genannten Voraussetzungen eines solchen Anscheinsfalles vor. Die ehemals finanzierenden Banken haben Forderungen im Nennwert von rund 74 Mio. Euro für nur 48 Mio. Euro veräußert, also zu nicht einmal 2/3 des Nominalwertes, und damit über 1/3 nachgelassen. Keiner der Investoren hatte eine Übernahme ohne einen erheblichen Nachlass angeboten. Kein Investor hat in einem „state of the art“ durchgeführten Investorenprozess (s.o.) mehr geboten, als der Planinvestor
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d) Dieser Anscheinsbeweis wird durch das Gutachten ... (Anlage K 14) samt Nachträgen nicht widerlegt. Zutreffend weist schon die Beklagte darauf hin, dass der Gutachter sich nicht selbst mit den Zahlen der nachmaligen Insolvenzschuldnerin befasst hat, sondern er lediglich auf den Gutachten von ... und ... aufzusetzen versucht. Dabei hat der Gutachter ... , worauf die Beklagte zutreffend hinweist, allerdings den Schritt von Fortführungswerten (in der Begutachtung ... ) zu Zerschlagungswerten nicht vorgenommen. Wegen dieses seinerseits methodischen Mangels ist die gutachtliche Auswertung von Prof. Dr. ... für die Widerlegung des Anscheinsbeweises nicht geeignet.
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e) Auch das von den Klägerinnen vorgelegte Gutachten ... (Anlage K 39) steht dem nicht entgegen. Der Gutachter geht bereits vom falschen Grundfall aus, denn er sieht die Notwendigkeit erneuter Bewertung beim Übergang vom Bereich Markt zum Bereich Sanierung (Marktverfolgung). Diese Hürde hatten im vorliegenden Verfahren die finanzierenden Banken längst genommen, denn die Darlehen befanden sich schon jahrelang in der Abwicklung. Auch die geschilderten aufsichtlichen Erwägungen (laut Gutachter verstärkt ab 2019) spielen im vorliegenden Fall noch keine Rolle, da das Jahr 2019 bei der Durchführung des „haircuts“ noch nicht erreicht war. Im Übrigen sind es gerade die vom Gutachter ... aufgeführten weiteren Umstände, nämlich der Verfall von Sicherheiten und die steigenden Transaktionskosten, die ersichtlich hier die Banken zum Teilverzicht gebracht haben. Das bedeutet aber noch nicht, dass die einzelnen Vermögensgegenstände der Schuldnerin im Zerschlagungsfall zu einem höheren Erlös führen, als der Gesamtverkauf.
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f) Da die Klägerinnen sonst keine durchgreifenden Zweifel am Anscheinsbeweis belegen können, ist der Anschein insgesamt nicht erschüttert und eine Vollbeweisaufnahme nicht erforderlich.
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Bestätigt wird diese Einschätzung durch den Umstand, dass auch die Klägerin zu 1 im Investorenprozess einen Haircut der Banken zur Grundlage ihres Angebotes gemacht hatte und selbst den wirtschaftlichen Wert der Schuldnerin nur mit 78-79 Mio. Euro bewertet hatte, also nur wenig mehr als die im Insolvenzverfahren zur Tabelle (auch für den Ausfall) festgestellten Verbindlichkeiten, noch unter der Summe von festgestellten Gläubigerforderungen und Verfahrenskosten.
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4. Die Klägerin zu 1 könnte im Übrigen mit der Klage schon deswegen keinen Erfolg haben, weil sie an der Geltendmachung der Klageforderung wegen widersprüchlichen Verhaltens gehindert wäre. Die Klägerin zu 1 hat lediglich im ersten Investorenprozess teilgenommen. Auf eine Teilnahme im zweiten Investorenprozess verzichtete sie. Der von ihr angebotene Kaufpreis lag weit unter dem von ihr nunmehr geltend gemachten Schaden. Die Klägerin zu hat damit deutlich gezeigt, dass sie selbst den Unternehmenswert lediglich mit 78 bis 79 Mio. Euro bewertete. Sie selbst war ja in keinem der Investorenprozesse bereit, einen höheren Wert für die Schuldnerin zu bieten. Ihr Schadensersatzanspruch ist daher auch nach § 242 BGB zurückzuweisen.
Nebenentscheidungen:
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1, 101 ZPO unter Anwendung der Baumbach'schen Kostenformel wegen der unterschiedlichen Beteiligung der beiden Klägerinnen an Rechtsstreit; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 Satz 1, Satz 2 ZPO. Der Streitwert wurde nach freiem Ermessen entsprechend der höchsten Höhe der Klagebeträge festgesetzt, § 3 ZPO. Eine stufenweise Festsetzung der Streitwerte ist entsprechend der ständigen Rechtsprechung des OLG München nicht erforderlich. Für den wirtschaftlichen Wert des Verfahren kommt es nur auf den höchsten Wert an.