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LG Landshut, Beschluss v. 31.07.2024 – 12 S 2466/23 e
Titel:

EuGH-Vorlagebeschluss zur Frage der Berechnung der Ankunftsverspätung bei verschobenem Flug für Ausgleichsanspruch des Fluggasts

Normenketten:
AEUV Art. 267
ZPO § 148
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. c lit. iii, Art. 7 Abs. 1
Leitsatz:
Bei der Prüfung einer „großen“ Ankunftsverspätung am Endziel, wenn ein Flug verschoben und hierüber ein neuer Voucher ausgestellt wird, ist nach Ansicht der Kammer auf die ursprünglich geplante Ankunftszeit und nicht auf die in der neuen Buchungsbestätigung angegebene Ankunftszeit abzustellen. (Rn. 19 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EuGH-Vorabentscheidungsverfahren, Vorlagebeschluss, Verfahrensaussetzung, Fluggastrechte, Ausgleichsleistung, Ankunftsverspätung, Berechnung bei Flugverschiebung, ursprünglich geplante Ankunftszeit
Vorinstanz:
AG Erding, Endurteil vom 30.08.2023 – 115 C 2416/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 27233

Tenor

I. Das Verfahren wird analog § 148 ZPO ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 3 AEUV folgende Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorgelegt:
1. Ist bei der Prüfung einer „großen“ Ankunftsverspätung am Endziel, wenn ein Flug verschoben und hierüber ein neuer Voucher ausgestellt wird, auf die ursprünglich geplante Ankunftszeit oder auf die in der neuen Buchungsbestätigung angegebene Ankunftszeit abzustellen?
2. Falls es auf die geänderte Ankunftszeit ankommt:
a) Kommt es darauf an, wie lange vor der ursprünglichen Abflugzeit der Fluggast über die Verschiebung des Fluges benachrichtigt wird? Kommt es insbesondere darauf an, ob die in Art. 5 Abs. 1 c) VO (EG) 261/2004 genannten Zeiträume für die neue Ankunft tatsächlich eingehalten werden, damit sich das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Verpflichtung zur Ausgleichsleistung befreien kann?
b) Falls ja: Hat der Fluggast – ggf. unter welchen Voraussetzungen – Anspruch auf Ausgleichsleistung gern. Art. 5, 7 VO (EG) 261/2004, wenn gemessen von der ursprünglichen Ankunftszeit eine große Ankunftsverspätung vorliegt.

Gründe

I.
1
Dem Vorabentscheidungsverfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
2
Die Klägerin und Berufungsbeklagte macht Ausgleichsansprüche aus abgetretenem Recht gemäß Art. 5, 7 VO (EG) 261/2004 geltend.
3
Die vier Zedenten verfügten über eine bestätigte Buchung für einen Flug am 02.08.2022 von M… nach A…. Geplante Startzeit des Fluges … von M… war 10:20 Uhr Ortszeit, geplante Ankunftszeit 14:20 Uhr Ortszeit.
4
Am 01.08.2022 erhielten die Zedenten über Ch. als Vermittler von dem Reiseveranstalter A… T. GmbH, bei welchem die Zedenten die Reise gebucht hatten, die Information, dass die A… geplante Startzeit um eine Stunde auf 11:20 Uhr und die geplante Ankunftszeit auf 15:20 Uhr nach hinten verlegt wurden. Ein neuer Flugvoucher mit den neuen Flugzeiten wurde mit übersandt.
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Der streitgegenständliche Flug wurde jedoch erst ab 14:37 Uhr durchgeführt und die Zedenten erreichten ihr Endziel A… tatsächlich erst am 02.08.2022 um 18:16 Uhr Ortszeit.
6
Die Zedenten haben ihre Ansprüche an die Klägerin abgetreten, woraufhin die Klägerin sich außergerichtlich erfolglos um eine Regulierung bemühte. Die Klägerin erhob Klage vor dem Amtsgericht Erding auf Zahlung von Ausgleichsleistungen in Höhe von insgesamt 1.600,00 € gemäß Art. 5, 7 VO (EG) 261/2004 i.V.m. § 398 BGB.
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Die Klägerin beruft sich darauf, der streitgegenständliche Flug sei mit einer Verspätung von 3 Stunden und 56 Minuten in A… eingetroffen. Zur Berechnung der Verspätung sei vorliegend nicht auf die geänderte, sondern die ursprüngliche Ankunftszeit abzustellen. Die Zedenten hätten um 10:20 Uhr starten und ihr Endziel um 14:20 Uhr Ortszeit erreichen sollen. Nehme die Fluggesellschaft eine Änderung des Fluges vor, liege es in ihrem Verantwortungsbereich, für die rechtzeitige Durchführung des Fluges zu sorgen. Wenn dies der Beklagten, wie vorliegend, nicht gelinge, gehe dies nicht zu Lasten der betroffenen Passagiere.
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Darüber hinaus seien die Zedenten nicht rechtzeitig über die Flugzeitenänderung informiert worden.
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Mit Endurteil vom 30.08.2023 hat das Amtsgericht Erding die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 1.600,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.05.2023 zu zahlen.
10
Zur Begründung führt das Amtsgericht Erding aus, dass für die Berechnung der Verspätung auf die ursprünglichen Flugzeiten abzustellen sei. Die geringe Verlegung der Flugzeiten um eine Stunde stelle noch keine Annullierung dar.
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Gegen dieses am 31.08.2023 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 02.10.2023 form- und fristgerecht Berufung eingelegt mit dem Ziel der Klageabweisung.
12
Die Klagepartei beantragt die Zurückweisung der Berufung.
II.
13
Der Erfolg der Berufung der Beklagten hängt entscheidungserheblich von der/den oben aufgeführten Frage(n) ab, wie im Falle einer Verschiebung der geplanten Ankunftszeit nach hinten und einer sodann eintretenden Flugverspätung die Verspätung konkret zu berechnen ist, mithin ob auf die ursprünglich geplante oder auf die in der neuen Buchungsbestätigung angegebene Ankunftszeit abzustellen ist.
Im Einzelnen:
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1. Soweit die erste Frage dahingehend zu beantworten wäre, dass auf die ursprüngliche und nicht auf die in der neuen Buchungsbestätigung angegebene Ankunftszeit abzustellen wäre, wäre der 3-Stunden-Zeitraum vorliegend nicht eingehalten, so dass ein Anspruch auf Ausgleichsleistung nach Art. 5 Abs. 1 c), 7 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 bestünde.
15
Wäre auf die in der neuen Buchungsbestätigung angegebene Ankunftszeit abzustellen, wäre der 3-Stunden-Zeitraum vorliegend noch eingehalten, so dass grundsätzlich kein Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Art. 5 Abs. 1 c) iii) Verordnung (EG) Nr. 261/2004 bestünde.
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Allerdings wären im vorliegenden Fall die zeitlichen Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 c) iii) nicht eingehalten, wenn man auf die tatsächliche Ankunft abstellt, weil die Fluggäste ihr Endziel tatsächlich nicht höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit erreichten. Wäre die Einhaltung dieser Fristen notwendig, damit sich das ausführende Luftfahrtunternehmen von der Ausgleichsleistung befreien kann, bestünde vorliegend daher dennoch Anspruch auf Ausgleichsleistungen nach Art. 5 Abs. 1 c), 7 Abs. 1 Verordnung (EG) Nr. 261/2004.
17
Die Fragen sind somit entscheidungserheblich.
18
2. Die Frage, wie im Falle einer Verschiebung der geplanten Ankunftszeit nach hinten und einer sodann eintretenden Flugverspätung die Verspätung konkret zu berechnen ist, ist bislang auch weder unionsgerichtlich noch höchstrichterlich geklärt.
19
3. Die Kammer ist der Ansicht, dass für die Berechnung der Verspätung auf die ursprünglich geplante Ankunftszeit abzustellen sein wird.
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Würde man den rein formalen Ansatz verfolgen, dass es auf die Ankunftszeit ankommt, die auf der Buchungsbestätigung ausgewiesen ist, könnte man auf die in der zuletzt geltenden Buchungsbestätigung genannte Ankunftszeit, vorliegend 15:20 Uhr, abstellen.
21
Dieser formale Ansatz widerspricht jedoch aus Sicht der Kammer dem im ersten Erwägungsgrund der Verordnung (EG) 261/2004 genannten Ziel, ein hohes Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen, und dem Erfordernis einer zumutbaren, zufriedenstellenden und frühestmöglichen anderweitigen Beförderung der von der Annullierung oder großen Verspätung ihres Fluges betroffenen Fluggäste.
22
Für die Fluggäste kommt es allein darauf an, ob dort Flug ausgehend von der ursprünglichen Ankunftszeit verspätet ankam, unabhängig davon, ob über die Verspätung – teilweise – eine neue formale Buchungsbestätigung ausgestellt wurde. Andernfalls könnte das ausführende Luftfahrtunternehmen die tatsächliche Ankunftszeit sanktionslos hinauszögern, indem es neue Buchungsbestätigungen über nach hinten geänderte Flugzeiten ausstellt.
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Würde man jedoch auf die in der neuen Buchungsbestätigung genannte Ankunftszeit abstellen, so müssten aus Sicht der Kammer zumindest ergänzend die Fristen des Art. 5 Abs. 1 c) VO (EG) 261/2004 eingehalten werden, was vorliegend nicht der Fall ist, weil die Fluggäste nicht innerhalb der Frist des Art. 5 Abs. 1 c) iii) VO (EG) 261/2004 tatsächlich ankamen. Der Anspruch auf Ausgleichsleistung wäre daher dennoch zu bejahen.
24
Da diese Fragestellungen noch nicht vom Europäischen Gerichtshof geklärt wurden und sich eine in Gänze sichere Beantwortung der Frage(n) auch nicht aus seiner bisherigen Rechtsprechung ableiten lässt, ist ein Vorgehen nach Art. 267 Abs. 1 lit. b), Abs. 3 AEUV angezeigt.
III.
25
Wegen der Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (Art. 267 Abs. 1 lit. B), Abs. 3 AEUV) war der Rechtsstreit analog § 148 ZPO auszusetzen.