Titel:
Bindung der Fahrerlaubnisbehörde an im Fahreignungsregister eingetragene rechtskräftige Bußgeldentscheidungen
Normenketten:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1, S. 2, § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
FeV § 46 Abs. 1, Abs. 5
Leitsatz:
Die bloße Stellung eines Wiederaufnahmeantrags führt – selbst im Falle seiner Zulässigkeit – nicht zur Durchbrechung der Rechtskraft eines bereits bestandskräftig gewordenen Bußgeldbescheids. Erst wenn eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt wurde, entfällt die Rechtskraft der Entscheidung über die mit Punkten bewertete Tat, sodass sie der Betroffene nicht mehr gegen sich gelten lassen muss und der Punktestand für die fahrerlaubnisrechtliche Maßnahme rückwirkend zu korrigieren ist (hier verneint). (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fahreignungs-Bewertungssystem, Aberkennung einer ausländischen Fahrerlaubnis, Vorlageanordnung zur Anbringung eines Sperrvermerks, Bindung an rechtskräftige Bußgeldentscheidungen, Kein Durchbrechen der Rechtskraft durch Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags, Vertrauen auf die Richtigkeit des Fahreignungsregisters (hier nicht erschüttert), ausländische Fahrerlaubnis, Aberkennung, Eintragungen des Fahreignungsregisters, Vertrauen auf Richtigkeit, rechtskräftige Bußgeldentscheidung, Bindung, Wiederaufnahmeantrag, Wiedereinsetzung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 27070
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller – Inhaber einer rumänischen Fahrerlaubnis vom 22. April 2019 der Klassen B, B1 und AM – begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Aberkennung des Rechts von seiner rumänischen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen.
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Nach einer Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 14. Oktober 2020 an die Fahrerlaubnisbehörde des Antragsgegners ergab sich für den Antragsteller ein Stand von 4 Punkten im Fahreignungsregister.
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Datum der Tat
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Verkehrszuwiderhandlung
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Datum der Rechtskraft
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Datum der Tilgung
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Punkte
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5.5.2020
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Abstand 3/10
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4.9.2020
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4.9.2025
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2
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17.7.2020
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Abstand 3/10
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18.9.2020
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18.9.2025
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2
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3
Daraufhin ermahnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller mit Schreiben vom 28. Oktober 2020, zugestellt mittels Postzustellungsurkunde am 29. Oktober 2020 auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar hin.
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Nach einer weiteren Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 27. November 2020 an die Fahrerlaubnisbehörde enthielt das Fahreignungsregister für den Antragssteller folgende neue Eintragung:
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Datum der Tat
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Verkehrszuwiderhandlung
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Datum der Rechtskraft
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Datum der Tilgung
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Punkte
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16.9.2020
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Abstand 3/10
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5.11.2020
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5.11.2025
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2
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5
Nachdem sich somit für den Antragsteller im Fahreignungsregister 6 Punkte ergaben, verwarnte die Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamtes S. ihn mit Schreiben vom 15. Dezember 2020, zugestellt mittels Postzustellungsurkunde am 16. Dezember 2020 auf Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG und wies ihn auf die Möglichkeit zur freiwilligen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar sowie darauf hin, dass bei einem Stand von 8 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen würde.
6
Nach einer weiteren Mitteilung des Kraftfahrt-Bundesamtes vom 22. Dezember 2023 enthielt das Fahreignungsregister für den Antragsteller neben den vorgenannten weiter die folgende Eintragung:
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Datum der Tat
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Verkehrszuwiderhandlung
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Datum der Rechtskraft
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Datum der Tilgung
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Punkte
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13.7.2023
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45 km/h a.O. (120)
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29.11.2023
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29.11.2028
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2
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Mit Schreiben vom 2. Januar 2024 hörte der Antragsgegner den Antragsteller zur beabsichtigten Aberkennung seiner ausländischen Fahrerlaubnis an.
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Hierzu nahm der Bevollmächtigte des Antragstellers mit Schreiben vom 11. Januar 2024 Stellung. Die Verkehrsverletzung vom 13. Juli 2023 sei dem Antragsteller nicht bekannt. Ihm sei diesbezüglich weder ein Anhörungsschreiben noch einen Bußgeldbescheid zugestellt worden.
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Am selben Tag erhob der Antragsteller Einspruch gegen den Bußgeldbescheid der zentralen Bußgeldstelle des Landes Brandenburg vom 30. August 2023 (Anlage K6), mit dem die Ordnungswidrigkeit vom 13. Juli 2023 geahndet wurde und stellte gleichzeitig einen Wiedereinsetzungsantrag. Der Wiedereinsetzungsantrag wurde mit Schreiben der zentralen Bußgeldstelle des Landes Brandenburg vom 16. Januar 2024 verworfen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 16. Januar 2024, zugestellt am 20. Januar 2024, entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M und S und wies darauf hin, dass bei einer ausländischen Fahrerlaubnis die Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts hat, von der Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen (Nr. 1 des Bescheids). Außerdem wurde für die Neuanerkennung seiner ausländischen Fahrerlaubnis eine Sperrfrist von sechs Monaten (Nr. 2) sowie die Vorlage seines Führerscheins zur Anbringung eines Sperrvermerks angeordnet (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung der Nr. 3 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 4). Für den Fall der Zuwiderhandlung der Anordnung in Nr. 3 des Bescheids wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 250 EUR angedroht (Nr. 5). Die Entziehung der Fahrerlaubnis wurde mit dem Erreichen von 8 Punkten im Fahreignungsregister begründet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG) und die Anordnung zur Vorlage des Führerscheins zur Anbringung eines Sperrvermerks auf § 3 Abs. 2 StVG, § 47 Abs. 2 Fahrerlaubnisverordnung (FeV) gestützt. Die Anordnung des Sofortvollzugs sei notwendig, da der Antragsteller sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe und nur durch sofortige Anbringung eines Sperrvermerks gewährleistet werden könne, dass der ausländische Führerschein zur Vortäuschung einer Fahrerlaubnis verwendet werde.
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Am 20. Februar 2024 erhob der Antragsteller über seinen Bevollmächtigten Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 24.847) und beantragte zugleich,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 16. Januar 2024 wiederherzustellen.
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Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, die drei Abstandsunterschreitungen seien nicht erheblich gewesen. Von der vierten Eintragung (Geschwindigkeitsüberschreitung) habe der Antragsteller bisher keine Kenntnis erlangt. Der Bescheid sei in rechtswidriger Weise öffentlich zugestellt worden. Jedenfalls habe der Antragsteller von dem Bußgeldbescheid nicht Kenntnis nehmen können, sodass ihm eine Einspruchsmöglichkeit nicht möglich gewesen sei. Es sei nicht hinreichend nachgewiesen, dass der Antragsteller unter seiner Adresse nicht zu ermitteln gewesen sei. Urkunden von Postbediensteten könnten unter den heutigen Bedingungen nur einen eingeschränkten Beweiswert haben.
14
Am 28. Februar legte der Antragsteller seinen Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde vor, die einen Sperrvermerk anbrachte.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schriftsatz vom 5. März 2024,
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den Antrag abzulehnen.
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Er bezog sich im Wesentlichen auf die Bescheidsbegründung. Des Weiteren führte er aus, es bestünden keine Anhaltspunkte, an der Richtigkeit der Eintragungen im Fahreignungsregister und der Rechtskraft der Entscheidung vom 30. August 2023, mit der die Tat vom 13. Juli 2023 geahndet wurde, zu zweifeln. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung führe nicht zu einer Durchbrechung der Rechtskraft eines bereits bestandskräftig gewordenen Bußgeldbescheids. Mit Erreichen von 8 Punkten sei die Fahrerlaubnis zwingend zu entziehen.
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Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten in diesem Verfahren und im Verfahren M 19 K 24.847 Bezug genommen.
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Der Antrag bleibt ohne Erfolg, da er zulässig, aber unbegründet ist.
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1. Nach Auslegung des gestellten Antrags (§§ 122 Abs. 1, 88 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO) ist davon auszugehen, dass der Antragsteller hinsichtlich der in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung seiner Fahrerlaubnis die Anordnung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 9 StVG), hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids verfügten und für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins zur Anbringung eines Sperrvermerks die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung und hinsichtlich der in Nr. 5 des Bescheids verfügten und ebenfalls kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz – VwZVG) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage begehrt.
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2. Der so verstandene Antrag ist zulässig. Insbesondere fehlt diesem nicht das Rechtsschutzbedürfnis, da der Antragsteller gegen den Bescheid vom 16. Januar 2024 rechtzeitig innerhalb der einmonatigen Frist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO Klage erhoben hat. Auch hat sich die Anordnung in Nr. 3 des Bescheids nicht durch die zwischenzeitliche Anbringung des Sperrvermerks im Führerschein des Antragstellers erledigt, da diese Anordnung weiterhin den Rechtsgrund für die Duldung der Eintragung der fehlenden Fahrberechtigung darstellt (vgl. für den Fall der Abgabe des Führerscheins: BayVGH, B.v. 12.2.2014 – 11 CS 13.2281 – juris Rn. 22; VG München, B.v. 30.5.2022 – M 19 S 22.1258 – n.v. Rn. 21).
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3. Der Antrag ist unbegründet.
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a) Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids vom 16. Januar 2024 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO.
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Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch als auch Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. An den Inhalt der Begründung sind allerdings keine zu hohen Anforderungen zu stellen (Hoppe in Eyermann, VwGO 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 54 ff.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen genügt die Anordnung des Sofortvollzugs den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Die Fahrerlaubnisbehörde hat unter Bezugnahme auf den konkreten Fall dargelegt, dass sich der Antragsteller als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen habe und nur durch sofortige Anbringung eines Sperrvermerks gewährleistet werden könne, dass der ausländische Führerschein zur Vortäuschung einer Fahrerlaubnis verwendet werde. Das öffentliche Interesse an der sofortigen Vorlage des Führerscheins zur Anbringung des Sperrvermerks überwiege daher das Interesse des Antragstellers am Besitz eines Führerscheins ohne Sperrvermerk. Die Behörde hat damit konsistent und nachvollziehbar sowie auf den Einzelfall bezogen erläutert, warum sie es hier ausnahmsweise für nötig befunden hat, den Suspensiveffekt der Klage des Antragstellers auszuschließen.
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Im Übrigen ergibt sich im Bereich des Sicherheitsrechts das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung bereits aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend sind (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.).
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b) Die materielle Interessenabwägung fällt zulasten des Antragstellers aus.
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung einer Klage im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 VwGO ganz oder teilweise anordnen oder wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine originäre Ermessensentscheidung. Es hat bei der Entscheidung über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuwägen zwischen dem von der Behörde geltend gemachten Interesse an der sofortigen Vollziehung ihres Bescheids und dem Interesse des Antragsstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
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Der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (st.Rspr., vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses.
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Hier ergibt die im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotene, aber auch ausreichende summarische Prüfung anhand der Gerichts- und Behördenakten, dass die Klage des Antragstellers voraussichtlich keinen Erfolg haben wird. Der Bescheid vom 16. Januar 2024 ist voraussichtlich rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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aa) Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis bzw. der Aberkennung des Rechts, von der rumänischen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen (§ 3 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 und Abs. 5 FeV) ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 2 StVG.
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bb) Der streitgegenständliche Bescheid ist formell rechtmäßig, insbesondere könnte eine Anhörung nach Art. 28 Bayerisches Verwaltungsverfahrensgesetz (BayVwVfG) für den Fall einer nicht ordnungsgemäßen Zustellung des Anhörungsschreibens bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (Art. 45 Abs. 1 Nr. 3 BayVwVfG).
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cc) Der Bescheid ist nach summarischer Prüfung auch materiell rechtmäßig, da die Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erfüllt sind. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich 8 oder mehr Punkte im Fahreignungsbewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahmen der vorliegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Für den Antragsteller haben sich nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem 8 Punkte ergeben (1). Die Fahrerlaubnisbehörde hat die nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 StVG vorangehenden Stufen bereits ergriffen, vgl. § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG (2). Dem Antragsteller war die Fahrerlaubnis daher zwingend abzuerkennen (3).
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(1) Für den Antragsteller ergaben sich 8 Punkte aus dem Fahreignungsregister.
35
Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Fahrerlaubnisbehörde nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (Tattagprinzip). Punkte ergeben sich nach § 4 Abs. 2 Satz 2 StVG mit der Begehung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird.
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Die letzte vom Antragsteller zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt begangene, rechtskräftig geahndete Zuwiderhandlung, die die Fahrerlaubnisbehörde bei der Entscheidung über die Entziehung seiner Fahrerlaubnis zu berücksichtigen hatte, war die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 13. Juli 2023. Zu diesem Zeitpunkt ergaben sich für den Antragsteller aus dem Fahreignungsregister 8 Punkte. Die den 8 Punkten zugrundeliegenden Bußgeldentscheidungen sind rechtskräftig (a). Die Fahrerlaubnisbehörde war an die in diesen Entscheidungen getroffenen Feststellungen gebunden (b).
37
(a) Der Antragsgegner durfte auf die Richtigkeit der im Fahreignungsregister enthaltenen Angaben zur Rechtskraft der den 8 Punkten zugrundeliegenden Entscheidungen vertrauen. Es bestand für die Fahrerlaubnisbehörde insbesondere kein Anlass, an der Rechtskraft der Bußgeldentscheidung vom 30. August 2023, mit der die Geschwindigkeitsüberschreitung vom 13. Juli 2023 geahndet wurde, ausnahmsweise zu zweifeln. Der Antragsteller konnte nicht darlegen, dass der Bußgeldbescheid nicht ordnungsgemäß zugestellt wurde, sodass davon auszugehen ist, dass die Einspruchsfrist zu laufen begann. Nach § 41 Abs. 3 Satz 1 VwVfG i.V.m. § 1 Abs. 1 BbgVwZG finden für Zustellungen der Behörden des Landes Brandenburg die Regelungen der §§ 2 bis 10 VwZG Anwendung. Nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 VwZG kann eine öffentliche Zustellung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist. Das Gericht geht nach Aktenlage davon aus, dass diese Voraussetzungen hier vorlagen. Der Antragsteller ist seit 15. November 2019 mit Hauptwohnsitz ununterbrochen in …, … Str. 22 gemeldet. Unstreitig lässt sich der entsprechenden Postzustellungsurkunde entnehmen, dass eine Zustellung des Bußgeldbescheids vom 30. August 2023 an diese Adresse – ebenso wie die Zustellung der Anhörung – nicht möglich war. Die Postzustellungsurkunde erbringt als öffentliche Urkunde den vollen Beweis für die Unzustellbarkeit an den Antragsteller (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO) und wurde hier nicht durch Gegenbeweis widerlegt (§ 418 Abs. 2 ZPO). Bloßes unsubstantiiertes Bestreiten ist hierfür nicht ausreichend (BayVGH, B.v. 29.1.2024 – 11 CS 23.2036 – juris OS, Rn. 14 m.w.N.).
Der Bußgeldbescheid konnte dem Antragsteller auch im Wege eines Amtshilfeersuchens an die Polizeiinspektion … nicht zugestellt werden. Hinsichtlich einer Zustellungsmöglichkeit an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigen bringt der Antragsteller nichts vor; Anhaltspunkte hierfür sind auch nicht ersichtlich. Die öffentliche Zustellung erfolgte formgerecht entsprechend den Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 VwZG (vgl. Anlage K3). Der Bußgeldbescheid wurde am 30. Oktober 2023 in der zentralen Bußgeldstelle des Landes Brandenburg ausgehängt und gilt daher am 14. November 2023 als zugestellt (§ 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG). Der Bescheid ist somit seit 29. November 2023 bestandskräftig (§ 67 Abs. 1 Gesetz über Ordnungswidrigkeiten – OWiG), da der Antragsteller nicht rechtzeitig Einspruch eingelegt hat. Dieses Datum entspricht der Eintragung im Fahreignungsregister.
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Die Rechtskraft der Bußgeldentscheidung vom 30. August 2023 ist auch nicht nachträglich entfallen. Die bloße Stellung eines Wiederaufnahmeantrags führt – selbst im Falle seiner Zulässigkeit – nicht zur Durchbrechung der Rechtskraft eines bereits bestandskräftig gewordenen Bußgeldbescheids. Erst wenn eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand gewährt wurde, entfällt die Rechtskraft der Entscheidung über die mit Punkten bewertete Tat, sodass sie der Betroffene nicht mehr gegen sich gelten lassen muss und der Punktestand für die fahrerlaubnisrechtliche Maßnahme rückwirkend zu korrigieren ist (vgl. BayVGH, B.v. 9.12.2020 – 11 CS 20.2039 – juris Rn. 18; Hühnermann in Burmann/Heß (Hrsg. u.a.), Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl. 2024, § 4 StVG Rn. 28; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 4 StVG Rn. 79 b). Die Wiedereinsetzung wurde durch die zentrale Bußgeldbehörde des Landes Brandenburg nicht angeordnet. Ob die Ablehnung der Wiedereinsetzung durch die Bußgeldbehörde vor dem Hintergrund der großzügigen Auslegung der Wiedereinsetzungsvorschriften in Straf- und Bußgeldverfahren durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. hierzu z.B. BVerfG, B.v. 18.10.2012 – 2 BvR 2776/10 – juris Rn. 16 f.) rechtmäßig erfolgte, darf die Fahrerlaubnisbehörde daher nicht prüfen. Selbiges gilt für das in vorliegender Streitsache zur Entscheidung berufene Gericht, das lediglich die Rechtmäßigkeit der fahrerlaubnisrechtlichen Anordnungen zu überprüfen hat.
39
(b) Der Antragsteller muss die Feststellungen der im Fahreignungsregister eingetragenen rechtskräftigen Bußgeldentscheidungen gegen sich gelten lassen (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG). Ausnahmen hierzu sind gesetzlich nicht vorgesehen. Die Bindungswirkung existiert solange, wie die Rechtskraft der Entscheidung besteht (zum Ganzen BayVGH, B.v. 9.12.2020 – 11 CS 20.2039 – juris Rn. 17 f.; B.v. 6.3.2007 – 11 CS 06.3024 – juris Rn. 11). Denn nach dem durch die Gesetzesmaterialien belegten Willen des Gesetzgebers sowie dem auf Verwaltungsvereinfachung zielenden Sinn und Zweck der Vorschrift soll die Fahrerlaubnisbehörde gerade nicht mehr prüfen müssen, ob der Betroffene die Tat tatsächlich begangen hat (vgl. BT-Drs. 13/6914, S. 69 zu § 4 StVG und S. 67 zu § 2a StVG). Die Bindungswirkung gilt auch für das Gericht, soweit es die Entscheidung der Behörde nicht beanstanden kann, weil diese die für sie geltende Bindungswirkung beachtet hat (BayVGH, B.v. 19.6.2009 – 11 CS 09.470 – juris Rn. 2). Demnach ist die Fahrerlaubnisbehörde zu Recht vom Erreichen der zur Aberkennung der Fahrerlaubnis führenden 8 Punkte durch den Antragsteller ausgegangen. Tilgungsfristen waren zum maßgeblichen Zeitpunkt (13.7.2023) noch nicht abgelaufen (vgl. hierzu § 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 2 StVG).
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(2) Der Antragsgegner hat vor der Entziehung der Fahrerlaubnis die vorherigen Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG ergriffen.
41
Er hat entsprechend der in § 4 Abs. 6 StVG präzisierten Anforderungen mit Erreichen von 4 Punkten zunächst am 28. Oktober 2020 eine Ermahnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG) und anschließend mit Erreichen von 6 Punkten am 15. Dezember 2020 eine Verwarnung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG) ausgesprochen. Eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 oder Abs. 7 StVG ist dabei nicht eingetreten.
42
(3) Gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gilt der Fahrerlaubnisinhaber mit Erreichen von 8 Punkten als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, sodass die Fahrerlaubnis des Antragstellers zwingend abzuerkennen war (zur Verfassungsmäßigkeit der zwingenden Fahrerlaubnisentziehung vgl. BayVGH, B.v. 17.1.2005 – 11 CS 04.2955 – juris Rn. 35, 38 ff. zu § 4 StVG a.F.).
43
c) Da somit der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers hinsichtlich der Aberkennung der Fahrerlaubnis in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids keinen Erfolg hat, hält auch die akzessorische (§ 3 Abs. 2 Satz 3 Alt. 2 StVG, § 47 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 FeV) Vorlageanordnung zur Anbringung eines Sperrvermerks in Nr. 3 des Bescheids der summarischen gerichtlichen Überprüfung stand. Selbiges gilt für die Anordnung der Sperrfrist nach § 4 Abs. 10 Satz 1 StVG. Auch im Hinblick auf die Zwangsgeldandrohung in Nr. 4 des Bescheids bestehen keine Bedenken.
44
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.2, 46.3 und 46.8 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr.4 FeV.