Inhalt

VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 19.09.2024 – W 7 K 23.1227
Titel:

Keine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken wegen unzureichender Studienleistungen

Normenketten:
AufenthG § 16b
VwGO § 60
Leitsätze:
1. Ärztlich behandelte psychische Ausnahmesituationen können die Einlegung von Rechtsbehelfen unverschuldet unmöglich machen, wenn der Kläger infolge der Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, einen Rechtsanwalt sachgemäß zu unterrichten (vgl. BGH BeckRS 1994, 2694). (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Legt ein Empfänger infolge einer zeitweisen Krisensituation "unangenehme" Post von vornherein ungeöffnet beiseite, erweist sich die Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen einer Zustellung und gegenüber der Notwendigkeit, sich über Fristen zu informieren, zwar regelmäßig als verschuldet. Ausnahmen können sich aber dann ergeben, wenn der Zustand der Lethargie und Apathie pathologische Formen annimmt, was gegebenenfalls durch ein ärztliches Attest nachgewiesen werden muss. (Rn. 28) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Eine Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken wird nach § 16b Abs. 2 S. 4 AufenthG verlängert, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann, was einer entsprechenden Prognoseentscheidung bedarf. Als Grenze des angemessenen Zeitraums sieht Nr. 16.2.5 AVV-AufenthG regelmäßig eine Gesamtdauer von 10 Jahren vor, die auch bei einem Studiengangwechsel nicht überschritten werden darf. (Rn. 37 – 38) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Eine auch erhebliche Überschreitung der durchschnittlichen Studienzeit kann zu tolerieren sein, wenn sie zwar durch unzureichende Studienbemühungen und -leistungen in früheren Abschnitten des Studiums bedingt ist, im entscheidungserheblichen Zeitpunkt jedoch aufgrund einer eingetretenen deutlichen Leistungssteigerung mit einem erfolgreichen Abschluss des Studiums in einem überschaubaren Zeitraum zu rechnen ist, der effektive Einsatz der durch das Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten noch realistisch und gewährleistet ist, dass während des studienbedingten Aufenthalts eine Aufenthaltsverfestigung nicht eintritt. (Rn. 39) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Legt ein ausländischer Studierender plausibel durch Atteste dar, dass er an einer Depression leidet, kann dies dazu führen, den angemessenen Zeitraum iSv § 16b Abs. 2 S. 4 AufenthG länger anzusetzen. (Rn. 44) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis, Studium, Prognoseentscheidung, Verlängerung, Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand, ägyptischer Staatsangehöriger, Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken, unzureichende Studienleistungen, Prognose, Depression, Wiedereinsetzung, Klagefrist
Fundstelle:
BeckRS 2024, 27055

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis.
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1. Der Kläger ist ein am ... 1995 in A. geborener ägyptischer Staatsangehöriger. Er reiste erstmals am 8. März 2016 mit einem Visum zu Studienzwecken ins Bundesgebiet ein. Ihm wurde eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis erteilt, die sodann bis zum Erlass des streitgegenständlichen Versagungsbescheids fortlaufend verlängert wurde. Während der Verlängerungsverfahren wurden ihm Fiktionsbescheinigungen ausgestellt.
3
Vom 15. März 2016 bis 30. September 2016 nahm der Kläger an einem Vorbereitungssemester für internationale Studienbewerber an der Technischen Hochschule D. teil. Mit der Abschlussprüfung dieses Vorbereitungskurses qualifizierte er sich zum regulären Studium in einem Bachelor-Studiengang an der Technischen Hochschule D. Im Wintersemester 2016/17 nahm er daraufhin ein Vollzeitstudium im Studienfach „Industrial Engineering / Maintenance and Operation“ mit dem Abschlussziel eines Bachelor of Engineering und einer Regelstudienzeit von sieben Semestern an der Technischen Hochschule D. auf. In diesem Studiengang war er bis zum Ende des 6. Fachsemesters, das am 30. September 2019 endete, immatrikuliert. Sodann beendete er sein Studium an der Hochschule D. ohne Abschluss.
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Mit Studienbeginn am 1. Oktober 2019 immatrikulierte er sich für den Bachelorstudiengang „Business and Engineering IBE“ an der Hochschule für angewandte Wissenschaften W. -S. In Sch. beantragte er sodann die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Die Stadt Sch. gestattete den Studiengangwechsel und erteilte ihm erneut eine Aufenthaltserlaubnis. Am 20. Januar 2022 wurde er laut Niederschrift der Ausländerbehörde Sch. darauf hingewiesen, dass angesichts seiner im 5. Fachsemester insgesamt lediglich erreichten 35,00 ECTS-Punkte (European Credit Transfer System – Europäisches System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen) eine künftige Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis einer Steigerung der Studienleistungen bedürfe. Mit Schreiben vom 20. April 2022 teilte der Kläger der Beklagten mit, er habe im vergangenen Semester keine zusätzlichen Prüfungen bestanden. Den Studiengang beendete er nach dem 7. Fachsemester wegen endgültig nicht bestandener Prüfungen am 14. März 2023 ohne Abschluss.
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Seit 1. Oktober 2023 ist der Kläger nach einem erneuten Studiengangwechsel im Bachelorstudiengang „Logistics IBL“ an der Hochschule für angewandte Wissenschaften W. -S. immatrikuliert. Im „Transcript of Exam Results“ der Hochschule vom 13. August 2024 werden für den Kläger 59,5 verbuchte ECTS (von insgesamt 210 ECTS im Studiengang) angegeben. Dabei handelt es sich laut Vermerk in der Spalte „Accreditation“ (hochgestellte Ziffer 1) bei 52 ECTS um angerechnete Leistungen aus früheren Studiengängen. Im ersten Semester des zum 1. Oktober 2023 aufgenommenen Bachelorstudiums hat der Kläger den Kurs „Spanish for International Students“ erfolgreich absolviert und damit 2,5 ECTS erworben, im anschließenden Sommersemester folgte der Kurs „Transportation Management and Forwarding“ mit 5,0 ECTS.
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2. Mit Schreiben vom 4. Oktober 2022, zugestellt am 6. Oktober 2022, wurde dem Kläger von der Beklagten mitgeteilt, angesichts seines langsamen Studienfortschritts sei beabsichtigt, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abzulehnen. Ihm wurde Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Daraufhin erbat er mit E-Mail vom 7. Oktober 2022 eine erneute Chance, um seine Studienleistungen zu steigern. Er wies insbesondere darauf hin, dass er während der Corona-Pandemie eine schwere Depression entwickelt habe, es ihm momentan aber besser gehe und er zuversichtlich sei, sein Studium noch abzuschließen. Er habe im laufenden Semester an zahlreichen Prüfungen teilgenommen. Daraufhin wurde am 31. Oktober 2022 seine Fiktionsbescheinigung verlängert, um die Prüfungsergebnisse des laufenden Semesters bis Ende April 2023 abzuwarten. Eine Verlängerung darüber hinaus komme aber nur bei signifikant besseren Prüfungsergebnissen in Betracht.
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Nachdem der Kläger wegen endgültig nicht bestandener Prüfungen in seinem Zweitstudium zum 14. März 2023 zwangsexmatrikuliert worden war, wurde er am 25. April 2023, zugestellt am 27. April 2023, erneut über die beabsichtigte Ablehnung der Verlängerungsentscheidung informiert.
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3. Mit Bescheid der Stadt Sch. vom 29. Juni 2023 (Az. …), dem Kläger zugestellt am 1. Juli 2023, wurde der Antrag des Klägers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis abgelehnt (Ziffer 1) und der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen (Ziffer 2). Anderenfalls wurde ihm die Abschiebung nach Ägypten oder in einen anderen zur Übernahme verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3). Es wurde eine Gebühr in Höhe von 93,00 EUR festgesetzt und darauf hingewiesen, dass er die Kosten einer etwaigen Abschiebung zu tragen habe (Ziffer 4).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angegeben, infolge der Exmatrikulation sei die auflösende Bedingung seiner bisherigen Aufenthaltserlaubnis nach § 16b Abs. 1 AufenthG eingetreten. Diese sei zum 28. März 2023 erloschen. Auch die Fiktionswirkung seines Verlängerungsantrags nach § 81 Abs. 4 AufenthG sei infolge der Verlängerungsablehnung entfallen. Der bisherige Aufenthaltszweck des Studiums liege nicht mehr vor. Es sei auch keine weitere Rechtsgrundlage für eine Aufenthaltserlaubnis ersichtlich. Die Ausreisepflicht folge daher aus § 50 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG, die Abschiebungsandrohung beruhe auf § 58 Abs. 1 und § 59 Abs. 1 AufenthG. Abschiebungshindernisse gebe es nicht. Es sei bewusst die gesetzliche Höchstfrist von 30 Tagen für eine Ausreise gesetzt worden, damit der Kläger seine Angelegenheiten organisieren könne. Die Kostenentscheidung beruhe auf § 49 Abs. 2 i.V.m. § 45 Nr. 2b AufenthV.
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4. Hiergegen ließ der Kläger am 28. August 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erheben und sinngemäß beantragen,
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 29. Juni 2023 verpflichtet, die Aufenthaltserlaubnis des Klägers über den 28. März 2023 hinaus zu verlängern.
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Zudem ließ der Kläger die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand beantragen, weil er aufgrund psychischer Erkrankung nicht in der Lage gewesen sei, während der Klagefrist seine Post zu öffnen. Hierzu habe er sich erst am 12. August 2023 überwinden können, nachdem er seine weitere studentische Karriere mit der Hochschule habe klären können. Eine entsprechende eidesstattliche Versicherung des Klägers vom 28. August 2023 wurde beigefügt. Hierin gab der Kläger im Wesentlichen an, er befinde sich seit März 2020 wegen einer manisch depressiven Störung in der Behandlung seines Arztes in Ägypten. Denn während der Corona-Pandemie hätten seine psychischen Probleme immer weiter zugenommen. Die Behandlung setze er auch von Deutschland aus via Facebook und Zoom fort. Erst nach Zusage eines Studiengangwechsels durch die Technische Hochschule W. -S. zum Wintersemester 2023/24 habe er seine Panik überwinden können und die Briefe der Beklagten am 12. August 2023 geöffnet. Ein Attest zu seiner Erkrankung könne er nicht übermitteln, weil sein Arzt derzeit selbst in stationärer Behandlung sei.
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Auf die Bitte des Gerichts um Konkretisierung des Vortrags zur Wiedereinsetzung ließ der Kläger ein Attest seines behandelnden Arztes aus Ägypten vom 5. September 2023 vorlegen. Daraus ergibt sich, dass der Kläger an einer bipolaren Störung mit depressiver Episode leide (ICD-11 Code: GA 60.6). Es werden verschiedene persönliche Untersuchungstermine in den Jahren 2019 bis 2022 in Ägypten angegeben und darauf hingewiesen, dass die Behandlung online fortgesetzt worden sei. Zudem werden verabreichte Antidepressiva gelistet. Eine depressive Episode ab Mai 2023 wird eingehender geschildert. Demnach sei der Kläger nicht mehr in der Lage gewesen, im Alltag zu funktionieren. Zwischen Juni 2023 und Ende August 2023 habe der Kläger keine Briefe mehr öffnen können und auch nicht mehr mit seiner Familie telefonieren können. Die Behandlung und Medikamentierung werde weiterhin fortgesetzt.
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Am 9. September 2024 ließ der Kläger mitteilen, er habe in den vergangenen Wochen versucht, sich in Deutschland in psychiatrische Behandlung zu begeben und hierzu eine allgemeinärztliche Überweisung erhalten. Auf einen Termin müsse er aber noch warten. Er nehme weiterhin Online-Behandlungstermine in Ägypten wahr. Hierzu wurde eine ärztliche Stellungnahme eines weiteren ägyptischen Arztes vom 3. September 2024 übermittelt. Demnach befinde sich der Kläger in dessen Behandlung. Die Lücke im Text der Stellungnahme, in der eine Angabe des Behandlungsbeginns vorgesehen ist, ist unausgefüllt. Dem Kläger werden eine Depression und ADHS diagnostiziert. Seine psychische Gesundheit habe ihm nicht erlaubt, mit Erfolg am akademischen Leben teilzunehmen. Die psychischen Probleme hätten durch das Verwaltungs- und das Gerichtsverfahren bzgl. seines Aufenthaltsstatus zugenommen. Der Kläger nehme Medikamente ein und habe – durch die Symptome bedingt lediglich sporadisch – psychotherapeutische Sitzungen wahrgenommen. Aus ärztlicher Sicht sei die Berücksichtigung der gesundheitlichen Belange bei Entscheidungen über das weitere Studium erforderlich. Dem Kläger seien Zeit und Unterstützung zu gewähren.
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Zudem ließ der Kläger auf gerichtliche Nachfrage mitteilen, das Bestätigungsschreiben zum Studiengangwechsel, nach dessen Empfang er sich zum Öffnen seiner Post habe überwinden können, datiere auf den 4. August 2023. Dieses Schreiben wurde in der Anlage mitgesendet.
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Zur Begründetheit der Klage ließ er im Wesentlichen vorbringen, im Wintersemester 2023/24 habe er die erforderlichen Prüfungen abgelegt und 49,5 ECTS erzielt. Er habe seine gesundheitlichen Probleme aufgearbeitet und studiere wieder ordnungsgemäß. Die Prognoseentscheidung aus dem streitgegenständlichen Bescheid sei daher zurückzuweisen. In diese Entscheidung seien auch die psychischen Probleme des Klägers einzustellen. Das habe die Beklagte nicht getan. Die fehlende Leistungsfähigkeit im Studium habe der Kläger nicht zu vertreten. Denn er sei erkrankt gewesen. Der Rechtsgedanke des § 16b Abs. 6 AufenthG sei auf einen solchen Fall der fehlenden Verlängerung einer auflösend bedingten Aufenthaltserlaubnis bei Erkrankung übertragbar. Demnach müsse dem Kläger ein Studiengangwechsel binnen neun Monaten ermöglicht werden.
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Zudem wurde ein Antrag auf Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung gestellt, zu dem allerdings keine Unterlagen vorgelegt wurden.
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5. Die Beklagte äußerte sich nicht zum Verfahren.
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6. Mit Schreiben vom 21. August 2024 wurde der Kläger auf die voraussichtliche Erfolglosigkeit der Klage hingewiesen. Er wurde nach seinem Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gefragt und zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Der Kläger ließ mitteilen, er wolle auf die mündliche Verhandlung nicht verzichten.
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Bezüglich des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die das Gericht nach Anhörung durch Gerichtsbescheid entscheidet (§ 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO), ist bereits unzulässig (1.). Lediglich hilfsweise wird darauf hingewiesen, dass die Klage sich ferner als unbegründet erweist (2.).
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1. Die Klage ist unzulässig.
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Sie wurde nach Ablauf der Klagefrist gemäß §§ 74 Abs. 2, Abs. 1 Satz 2 VwGO erhoben. Diese beträgt einen Monat ab Bekanntgabe des Verwaltungsakts.
23
Der Bescheid vom 29. Juni 2023 wurde dem Kläger laut Postzustellungsurkunde am 1. Juli 2023 in den Briefkasten eingelegt, nachdem eine persönliche Übergabe nicht möglich gewesen sei.
24
Damit ist die von der Beklagten konkludent angeordnete Bekanntgabe durch förmliche Zustellung nach Art. 41 Abs. 5 BayVwVfG, Art. 1 Abs. 5 Alt. 2, Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, § 180 Satz 1 ZPO wirksam erfolgt. Nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 180 Satz 2 ZPO gilt der Bescheid mit der Einlegung in den Briefkasten als zugestellt.
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Nach §§ 57 Abs. 1, Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 1 ZPO, 187 Abs. 1 BGB begann die Klagefrist daher am 2. Juli 2023 und endete mit Ablauf des 1. August 2023 (§§ 57 Abs. 2 VwGO, 188 Abs. 2 BGB).
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Die Klageerhebung am 28. August 2023 erfolgte außerhalb dieser Frist.
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Wegen der Versäumung der Klagefrist war dem Kläger auch nicht die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Nach § 60 Abs. 1 VwGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Verschulden liegt vor, wenn der Beteiligte hinsichtlich der Wahrung der Frist diejenige Sorgfalt außer Acht lässt, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozessführenden im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen des konkreten Falles zugemutet werden kann.
28
Ärztlich behandelte psychische Ausnahmesituationen können die Einlegung von Rechtsbehelfen unverschuldet unmöglich machen, wenn der Kläger infolge der Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, einen Rechtsanwalt sachgemäß zu unterrichten (vgl. BGH, B.v. 24.3.1994 – X ZB 24/93 – juris Rn. 5). Wenn der Empfänger infolge einer zeitweisen persönlichen Krisensituation „unangenehme“ Post von vornherein ungeöffnet beiseitelegt, ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Konsequenzen einer Zustellung und gegenüber der Notwendigkeit, sich über Fristen zu informieren, zwar regelmäßig verschuldet. Ausnahmen können sich aber ergeben, wenn der Zustand der Lethargie und Apathie pathologische Formen annimmt, was – wie jede Krankheit – durch ein ärztliches Attest nachgewiesen werden muss (Czybulka/Kluckert in Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Aufl. 2018, § 60 Rn. 76).
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Aus einem solchen Attest müssen sich die Schwere und die Dauer der Erkrankung und damit das fehlende Verschulden an der Fristversäumnis ergeben. Bei einer psychischen Erkrankung muss der bescheinigende Arzt zudem in dem Attest angeben, aufgrund welcher Untersuchungsergebnisse er die Schwere der psychischen Erkrankung festgestellt hat (OLG Köln, B.v. 29.1.2019 – 27 UF 170/18 – juris Rn. 12).
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Es ist hier schon fraglich, inwieweit der Kläger Vorkehrungen gegen mögliche aus einer krankheitsbedingten Beeinträchtigung seiner Handlungsfähigkeit resultierende Fehler und Versäumnisse hätte treffen können und müssen. Konkret wäre etwa die Bevollmächtigung eines Vertreters bereits im laufenden Verwaltungsverfahren in Betracht gekommen (m.w.N. LSG Bayern, B.v. 2.8.2016 – L 15 SF 206/16 – juris Rn. 38). Denn laut Attest vom 5. September 2023 befindet sich der Kläger bereits seit 2019 wegen Depressionen in Behandlung.
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Jedenfalls ist der Vortrag des Klägers, wie er sich aus seiner eidesstattlichen Versicherung in Zusammenschau mit den beiden ärztlichen Attesten vom 5. September 2023 und vom 9. September 2024 ergibt, nicht schlüssig.
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Der Kläger gab an, erst am 12. August 2023 habe er sich überwinden können, nach einer depressiven Episode seine Post wieder zu öffnen, nachdem ihm von seiner Hochschule ein weiterer Studienfachwechsel gestattet worden sei. Der 12. August 2023 ist der rechnerisch letzte Tag, von dem ausgehend ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bzgl. der Klage vom 28. August 2023 noch innerhalb der Zweiwochenfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 VwGO erfolgen konnte. Das auf Nachfrage des Gerichts übermittelte Bestätigungsschreiben der Hochschule datiert auf den 4. August 2023. Dass der Kläger dieses Schreiben erst am 12. August 2023 geöffnet hat, erscheint in Anbetracht der zeitlichen Zusammenhänge zumindest zweifelhaft.
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Die Angabe seines Arztes im Attest vom 5. September 2023, der Kläger habe erst Ende August 2023 wieder Briefe öffnen können, widerspricht außerdem der klägerischen Angabe, dieser habe seine Post am 12. August 2023 wieder geöffnet. Zudem fehlen im Attest Angaben dazu, auf welcher Untersuchung die Annahme des behandelnden Arztes beruht, von Mai 2023 bis Ende August 2023 sei beim Kläger eine akute depressive Episode aufgetreten. Es werden zwar persönliche Untersuchungstermine in den Jahren 2019 bis 2022 aufgelistet. Sodann folgt allerdings lediglich ein allgemeiner Hinweis, die Behandlung sei online fortgesetzt worden, ohne dass konkrete Termine von Online-Sitzungen im relevanten Zeitraum, zwischen Juli und August 2023 bzw. unmittelbar danach, benannt würden. Dasselbe gilt für die weitere ärztliche Stellungnahme vom 3. September 2024, die überhaupt keine Behandlungstermine benennt. Die Angabe des Behandlungsbeginns im Jahr 2019 deckt sich im Übrigen nicht mit der eidesstattlichen Versicherung des Klägers, er befinde sich seit März 2020 in Behandlung.
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Ein Nachweis der gesundheitlich bedingten Unmöglichkeit der Fristwahrung ist dem Kläger nach alledem nicht gelungen. Zusammenfassend passt erstens der im Attest vom 5. September 2023 angegebene Zeitraum (bis Ende August 2023) nicht zum klägerischen Vortrag, wonach er ab 12. August 2023 seine Post wieder geöffnet habe. Zweitens führen beide Atteste nicht aus, auf welchen Untersuchungen die ärztlichen Annahmen beruhen. Drittens schürt das auf den 4. August 2023 datierte Bestätigungsschreiben zum Studienfachwechsel weitere Zweifel am Vortrag des Klägers, infolge dieses Schreibens habe er am 12. August 2023 seine Post wieder öffnen können. Wahrscheinlicher erscheint es, dass dieses Datum einzig im Hinblick auf die Frist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 VwGO angegeben wurde.
35
Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand scheidet nach alledem aus, sodass die außerhalb der Frist erhobene Klage unzulässig ist.
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2. Lediglich hilfsweise sei festgehalten, dass sich die Klage angesichts der bisherigen Studienleistungen des Klägers außerdem als unbegründet erweist.
37
Die Aufenthaltserlaubnis zu Studienzwecken wird nach § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG verlängert, wenn der Aufenthaltszweck noch nicht erreicht ist und in einem angemessenen Zeitraum noch erreicht werden kann. Insofern ist eine behördliche bzw. gerichtliche Prognoseentscheidung notwendig.
38
Als Grenze für den angemessenen Zeitraum wird auf Basis von Nr. 16.2.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz regelmäßig angenommen, eine Gesamtdauer von zehn Jahren dürfe auch bei einem Studiengangwechsel nicht überschritten werden (Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 16b AufenthG Rn. 15). Im Gesetz findet sich diese Frist nicht. Dennoch handelt es sich bei der Zehnjahresgrenze, die augenscheinlich von der Beklagten in ständiger Verwaltungspraxis zur Anwendung gebracht wird, um einen gewichtigen Anhaltspunkt für die Gesetzesauslegung. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass die Zehnjahresgrenze ein Bachelor- und ein anschließendes Masterstudium ermöglichen soll und erst ab dem Promotionsstudium eine Überschreitung naheliegt (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 16b AufenthG Rn. 19).
39
Eine auch erhebliche Überschreitung der durchschnittlichen Studienzeit indiziert indes nicht notwendigerweise eine Verfehlung der Zielsetzung der Aufenthaltsgewährung. Sie kann zu tolerieren sein, wenn sie zwar durch unzureichende Studienbemühungen und -leistungen in früheren Abschnitten des Studiums bedingt ist, im entscheidungserheblichen Zeitpunkt jedoch aufgrund einer inzwischen eingetretenen deutlichen Leistungssteigerung mit einem erfolgreichen Abschluss des Studiums in einem überschaubaren Zeitraum zu rechnen ist, der effektive Einsatz der durch das Studium erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten noch realistisch und gewährleistet ist, dass während des studienbedingten Aufenthalts eine Aufenthaltsverfestigung nicht eintritt (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.7.2024, § 16b AufenthG Rn. 42).
40
In die Prognoseentscheidung können auch persönliche Belange einbezogen und bei der Festlegung dessen, was noch als angemessen gelten kann, berücksichtigt werden (OVG NW, B.v. 21.8.1998 – 17 B 2314/96 – juris Rn. 4). Insbesondere krankheitsbedingte Verzögerungen können gewürdigt werden (BayVGH, B.v. 18.9.2023 – 10 CS 22.863, 10 C 22.864 – juris Rn. 25).
41
Der Kläger studiert bereits seit dem Jahr 2016 in Deutschland und hat noch keinen Bachelorabschluss erlangt. Zwar würde ein Abschluss seines jetzigen Drittstudiums innerhalb der Regelstudienzeit gerade noch innerhalb des Zehnjahreszeitraums liegen. Der Umstand, dass es sich um den dritten Versuch zum Erwerb eines Bachelorabschlusses handelt, ist bei der Prognose aber jedenfalls als großer Unsicherheitsfaktor einzustellen.
42
Im zuletzt vorgelegten „Transcript of Exam Results“ der Technischen Hochschule W.-Sch. vom 13. August 2024 werden für den Kläger 59,5 verbuchte ECTS (von insgesamt 210 ECTS im Studiengang) angegeben. Dabei handelt es sich laut Vermerk in der Spalte „Accreditation“ (hochgestellte Ziffer 1) bei 52 ECTS um angerechnete Leistungen aus früheren Studiengängen des Klägers. Im ersten Semester des zum 1. Oktober 2023 aufgenommenen Bachelorstudiums Logistics hat der Kläger dieser Bescheinigung zufolge lediglich den Kurs „Spanish for International Students“ erfolgreich absolviert und damit 2,5 ECTS erworben, im laufenden Sommersemester folgte der Kurs „Transportation Management and Forwarding“ mit 5,0 ECTS.
43
Der Studiengang des Klägers hat eine Regelstudienzeit von sieben Semestern (https://fwi.thws.de/studium/bachelor-logistics-ibl/, abgerufen am 10.9.2024). Für ein erfolgreiches Studium ist daher ein Erwerb von durchschnittlich 30 ECTS pro Semester erforderlich. In den ersten beiden Semestern seines Studiums hat der Kläger bisher 7,5 ECTS erworben. Selbst wenn Einzelleistungen aus dem vergangenen Sommersemester derzeit noch nicht verbucht sein sollten, ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger noch in die Nähe der in zwei Semestern zu erwartenden 60 ECTS kommen wird. Seine verbuchten Gesamtleistungen belaufen sich lediglich deshalb auf 59,5 ECTS, weil hier einige Prüfungsleistungen angerechnet wurden, die der Kläger in früheren Studiengängen seit dem Wintersemester 2016/17 erlangt hat. Eine merkliche Steigerung der Studienleistungen ist demnach nicht eingetreten. Es ist nicht zu erwarten, dass der Kläger sein derzeitiges Drittstudium noch abschließen wird.
44
Diese negative Prognose ändert sich auch nicht, wenn man die Erkrankung des Klägers einstellt. Dieser hat durch die vorgelegten Atteste plausibel dargelegt, dass er an einer Depression leidet. Eine solche Diagnose kann dazu führen, den angemessenen Zeitraum i.S.d. § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG länger anzusetzen.
45
Zur Überzeugung des Gerichts ist ein erfolgreicher Studienabschluss des Klägers auf Basis seines bisherigen Studienverlaufs, insbesondere der Prüfungsleistungen in den letzten beiden Semestern seines Drittstudiums, aber nicht zu erwarten. Selbst eine Fristverlängerung über die Regelstudienzeit hinaus durch die Hochschule (vgl. § 17 der Allgemeinen Prüfungsordnung der Hochschule für angewandte Wissenschaften W. -S. v. 26.10.2010) und daran anknüpfend eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis über eine Gesamtdauer von zehn Jahren hinaus könnte einen Studienabschluss nicht mehr ermöglichen. Auch bei großzügiger Handhabung der Verlängerungsmöglichkeiten einerseits durch die Hochschule und andererseits durch die Ausländerbehörde unter Berücksichtigung der Erkrankung des Klägers ist auf Basis des Gesamtbilds nicht zu erwarten, dass der Kläger innerhalb eines absehbaren Zeitraums noch einen Studienabschluss erlangen wird. In diesem Zusammenhang ist insbesondere einzustellen, dass die Beklagte den gesundheitlichen Belangen des Klägers bereits im Rahmen seines ersten Studiengangwechsels nach Sch. durch mehrere Verlängerungsentscheidungen auf angesichts des Studienverlaufs unsicherer Basis Rechnung getragen hat.
46
Auch die von der Klägerbevollmächtigten angeführte Verlängerung nach § 16b Abs. 6 AufenthG kommt nicht in Betracht. Diese ermöglicht einen Wechsel der Bildungseinrichtung in Fällen, in denen der Ausländer diese aus von ihm nicht zu vertretenden Umständen nicht mehr besuchen kann und in der Folge die Aufenthaltserlaubnis aufgehoben werden müsste. Der Vorschrift liegt ein Sphärengedanke zugrunde. Sie erfasst Fälle, in denen Bildungseinrichtungen ohne Zutun ihrer Studenten geschlossen werden (vgl. Samel in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 16b AufenthG Rn. 24). Die Bestimmung entbindet nicht von den Verlängerungsvoraussetzungen des § 16b Abs. 2 Satz 4 AufenthG, sondern erlaubt den Fortbestand einer Aufenthaltserlaubnis in einer bis zu neunmonatigen Zwischenzeit, in der Studenten einer geschlossenen Bildungseinrichtung sich um die Zulassung bei einer anderen Bildungseinrichtung bemühen. Einer solchen Situation ist der Kläger nicht ausgesetzt.
47
Auch an der Rechtmäßigkeit der Nebenentscheidungen im angefochtenen Bescheid bestehen keine Zweifel.
48
3. Die Klage ist mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus §§ 84 Abs. 1 Satz 3, 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.