Titel:
Erfolgreiche Klage gegen Abschiebungsanordnung nach Italien im Rahmen des Dublin III-VO Verfahrens
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1, Abs. 2, Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7
AufenthG § 60 Abs. 5, Art. 7 S. 1
Leitsatz:
Der Erlass einer Abschiebungsanordnung setzt voraus, dass diese tatsächlich durchgeführt werden kann, was von der Aufnahmebereitschaft des jeweiligen Rückführungsstaates abhängt, die abschließend positiv feststehen muss. ( (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gerichtsbescheid, Dublin, Italien, keine systemischen Mängel, rechtswidrige Abschiebungsanordnung aufgrund fehlender Übernahmebereitschaft, Italiens, keine „refugee in orbit“ Situation, Asylverfahren, Elfenbeinküste, Dublin III Verfahren, Rückführung, Abschiebungsanordnung, Überstellungsfrist, Durchführung, Übernahmebereitschaft
Fundstelle:
BeckRS 2024, 27054
Tenor
I. Die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. August 2024 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte zu je 1/2. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig und die Abschiebungsanordnung nach Italien im Rahmen des „Dublin-Verfahrens“.
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1. Der Kläger ist nach eigenen Angaben ivorischer Staatsangehöriger, vom Volk der Djola und islamischen Glaubens. Er reiste am 5. Februar 2024 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13. März 2024 einen förmlichen Asylantrag.
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Bei seiner Erstbefragung und Anhörung zur Zulässigkeit seines Asylantrags gab der Kläger im Wesentlichen an: Er habe sein Herkunftsland am 2. September 2023 verlassen und sei über Mali, Algerien und Tunesien zunächst nach Italien eingereist. Dort habe er sich ungefähr drei Wochen in einem Flüchtlingscamp aufgehalten. Ihm seien Fingerabdrücke abgenommen worden, er habe aber keinen Asylantrag gestellt. In Italien habe sich niemand um sie gekümmert und die Lebensbedingungen seien schlecht gewesen. Er habe Probleme mit dem Atmen im Schlaf und Blut im Urin.
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Aufgrund eines EURODAC-Treffers lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates (Italien) für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor.
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Am 26. März 2024 wurde ein Übernahmeersuchen an Italien gerichtet, welches unbeantwortet blieb.
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Mit Bescheid vom 20. August 2024 – zugestellt am 23. August 2024 – lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien (Nr. 3) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4) wurden angeordnet.
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2. Am 26. August 2024 erhob der Kläger zu Protokoll des Urkundsbeamten Klage und beantragte,
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. August 2024 (Az.: …*) wird aufgehoben.
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Hilfsweise wird die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Italien vorliegen.
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Zur Begründung verweist er auf die Anhörung beim Bundesamt.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beantragt für die Beklagte,
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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3. Mit Beschluss vom 28. August 2024 (Az.: W 6 S 24.50312) ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien an.
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Mit Beschluss vom 5. September 2024 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
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Die Beteiligten wurden mit Schreiben vom 6. September 2024, dem Kläger zugestellt am 10. September 2024, zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
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4. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich des Verfahrens W 6 S 24.50312) sowie die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat teilweise Erfolg.
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Die Klage ist zulässig und begründet, soweit sie sich gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien (Nr. 3 des Bescheides) und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot (Nr. 4) richtet, da der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. August 2024 insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Im Übrigen ist die Klage unbegründet. Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig (Nr. 1) ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Er hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Italien (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
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1. Über die Klage konnte gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO nach Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
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Die Beteiligten wurden jeweils mit Schreiben vom 6. September 2024 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört (§ 84 Abs. 2 Satz 2 VwGO).
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2. Die Klage ist teilweise begründet.
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a.) Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig ist rechtmäßig und verletzt diesen nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Das Gericht nimmt insoweit Bezug auf die folgenden Ausführungen im Sofortverfahren:
„Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (sog. Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Zwar ist Italien gemäß Art. 3 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig, da dieser nach seinen eigenen Angaben, die durch einen EURODAC-Treffer der Kategorie 2 bestätigt werden, am 29. April 2023 erstmals (illegal) in das Gebiet der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union eingereist ist (Bl. 8 der Behördenakte). Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich mithin bereits aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO, weshalb es dahinstehen kann, ob der Antragsteller entgegen seiner Ausführungen tatsächlich in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hat, was aber der EURODAC-Treffer der Kategorie 1 zur Antragstellung am 3. Mai 2023 in Agrigent nahelegt (Bl. 7).
Die Zuständigkeit ist auch nicht auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die italienischen Behörden haben auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes bis zum heutigen Tage nicht geantwortet. Somit ist die Zwei-Monats-Frist des Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO abgelaufen und die Zuständigkeit auf Italien übergegangen. Das italienische Asylsystem leidet zudem nicht an systemischen Mängeln, welche eine Überstellung des Antragstellers bereits aus diesem Grund nach Art. 3 Abs. 2 Uabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen würden, wie die Antragsgegnerin im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend ausführt und worauf im Einzelnen verwiesen wird (i.E. auch: OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 4/23; BayVGH, B.v. 24.5.2023 – 24 ZB 22.50006; VG Gießen, B.v. 29.4.2024 – 8 L 1291/24.GI.A.; VG München, B.v. 24.4.2024 – M 3 S 24.50439; VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – VG 9 K 61/23 A; VG Freiburg, B.v. 10.4.2024 – A 9 K 1255/24 – alle juris jeweils m.w.N.). Eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK droht dem Antragsteller auch nicht im Falle einer unterstellten Zuerkennung internationalen Schutzes in Italien (hierzu ausführlich: BayVGH, U.v. 21.3.2024 – 24 B 23.30860; B.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – jeweils juris).
Zuletzt ergeben sich keine systemischen Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems aufgrund der im Folgenden dargestellten fehlenden Wiederaufnahmebereitschaft Italiens, da es insoweit an greifbaren Anhaltspunkten fehlt, dass hieraus die Gefahr einer extremen materiellen Not für den Einzelnen resultiert. Allein die Erklärungen des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 zur Aufnahmeverweigerung wegen mangelnder Aufnahmekapazitäten lassen für sich genommen nicht auf das Bestehen systemischer Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems schließen (vgl. BVerwG, B.v. 13.11.2023 – 1 B 31.23 – juris Rn. 15; B.v. 24.10.2023 – 1 B 22/23 – juris Rn. 15; OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 4/23 – juris Rn. 56 ff.; a.A. OVG NW, B.v. 13.6.2023 – 11 A 3513/20.A – juris Rn. 49 ff.).“
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An dieser Einschätzung hat sich im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) nichts geändert. Der Kläger hat nichts vorgetragen, was eine abweichende Beurteilung rechtfertigen würde. Derartige Gründe sind auch sonst nicht ersichtlich. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens in die Einhaltung der Erfordernisse der EU-Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 – NVwZ 2012, 417 Rn. 80) ist für die Italienische Republik nicht entkräftet.
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Des Weiteren fehlt es auch an sonstigen außergewöhnlichen Umständen, welche ausnahmsweise eine Pflicht der Beklagten zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO begründen könnten. Insoweit ist nicht erkennbar, dass diese das ihr zustehende Ermessen fehlerhaft ausgeübt hätte.
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Der Kläger wurde entgegen seiner ursprünglichen Angaben als volljährig eingeschätzt (Bl. 40 der Behördenakte) und hat nichts vorgetragen, was hieran durchgreifende Zweifel begründet.
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Es kommt zudem auch im Falle der Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung zu keiner von der Dublin III-VO nicht gewollten sog. „refugee in orbit“ Situation in welcher der Aufenthaltsstaat (Deutschland) und der für die Prüfung zuständigem Staat (Italien) dauerhaft auseinanderfallen, ohne dass der Asylantrag des Klägers inhaltlich geprüft würde. Denn insoweit ist der Kläger durch die Fristenregelungen in Art. 29 Dublin III-VO geschützt (so auch: VG Berlin, U.v. 29.5.2024 – VG 9 K 668/23 A – BeckRS 2024, 12481 Rn. 71 ff. m.w.N). Die Beklagte hat zudem in einem anderen Verfahren des erkennenden Einzelrichters mitgeteilt, im Falle der Rechtskraft der vorliegenden Entscheidung im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens das Selbsteintrittsrecht auszuüben. Für eine Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung ist daher aus o.g. Gründen kein Raum und eine solche auch nicht angezeigt (a.A.: VG Magdeburg, U.v. 9.4.2024 – 7 A 26/24 – juris Rn. 42).
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b.) Der Kläger hat zudem keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Italien (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG).
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Insoweit nimmt das Gericht auf die Ausführungen in der Begründung des Bescheids Bezug (§ 77 Abs. 3 AsylG) und macht sich diese zu Eigen. Ebenso wird auf die vorstehenden Ausführungen vollumfänglich verwiesen.
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Hinsichtlich der geäußerten unspezifischen gesundheitlichen Probleme ist der Kläger auf das italienische Gesundheitssystem zu verweisen. Im Übrigen ist aufgrund fehlender ärztlicher Atteste nicht ersichtlich, dass sich eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung des Klägers im Falle einer Überstellung nach Italien unmittelbar wesentlich verschlechtern würde (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG).
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c.) Die Abschiebungsanordnung nach Italien ist dagegen rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) steht nicht fest, dass die Abschiebung des Klägers nach Italien tatsächlich durchgeführt werden kann.
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Das Gericht hat hierzu im Beschluss des Sofortverfahrens bereits ausgeführt:
„Der Erlass einer Abschiebungsanordnung setzt nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG voraus, dass diese tatsächlich durchgeführt werden kann, was von der Aufnahmebereitschaft des jeweiligen Rückführungsstaates (hier: Italien) abhängt, welche abschließend positiv feststehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20; BayVGH, U.v. 7.4.2016 – 20 B 14.30214 – juris Rn. 17; siehe auch: Pietzsch in BeckOK, Ausländerrecht, 41. Edition, Stand: 1.4.2024, § 34a Rn. 12). Dies ist grundsätzlich immer dann anzunehmen, wenn der Zielstaat auf Grundlage entsprechender bilateraler oder unionsrechtlicher Regelungen – hier der Dublin III-VO – zur Übernahme verpflichtet ist. Einer ausdrücklichen Erklärung der Übernahmebereitschaft im jeweiligen Einzelfall bedarf es nicht. Voraussetzung für das Tatbestandsmerkmal des Feststehens ist, dass eine Überstellung in den jeweiligen Zielstaat sowohl rechtlich zulässig als auch zeitnah – mit großer Wahrscheinlichkeit – tatsächlich möglich ist. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist jedoch dann nicht zulässig, wenn zu diesem Zeitpunkt Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift und in systematischer Hinsicht auch daraus, dass der Gesetzgeber das Bundesamt in § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG für den Fall, dass die Möglichkeit der Überstellung im maßgeblichen Zeitpunkt nicht feststehen sollte, zum Erlass einer Abschiebungsandrohung verpflichtet hat (vgl. VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – VG 9 K 61/23 – juris Rn. 18; siehe auch: BT-Drs. 18/8829, S. 25, die davon ausgeht, dass vom Erlass einer Abschiebungsanordnung bereits „bei Unklarheiten bezüglich der Vollstreckbarkeit“ abzusehen sei).
Gemessen hieran bestehen erhebliche konkrete Zweifel an einer tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit des Antragstellers nach Italien und damit an der (Wieder-)aufnahmebereitschaft im obigen Sinne (im Ergebnis auch: VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – VG 9 K 61/23 A – juris Rn. 19 ff; VG Magdeburg, U.v. 9.4.2024 – 7 A 26/24 – juris Rn. 26 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 20.3.2024 – 22 L 497/24.A – juris Rn. 120 ff.; VG Hamburg, U.v. 19.2.2024 – 9 A 4685/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 16.10.2023 – A 4 K 429/23 – juris Rn. 21 ff.; sowie schon: NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; a.A. zuletzt etwa: VG Gießen, B.v. 29.4.2024 – 8 L 1291/24.GI.A; VG München, B.v. 24.4.2024 – M 3 S 24.50439; VG Chemnitz, B.v. 16.4.2024 – 6 L 151/24.A; OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 3/23 – alle juris m.w.N.).
Soweit der erkennende Einzelrichter bislang davon ausgegangen ist, dass allein die Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 die Annahme derartiger Zweifel nicht begründen könnten und insbesondere innerhalb der Überstellungsfrist des Art. 29 Dublin III-VO ernsthaft mit einer Wiederaufnahme von Überstellungen nach Italien zu rechnen sei, kann an dieser Auffassung unter Berücksichtigung aktueller Daten zu tatsächlichen Rücküberstellungen seit Erlass der entsprechenden Schreiben und des mittlerweile verstrichenen Zeitraums sowie fehlender Anhaltspunkte einer Wiederaufnahme von Überstellungen nach Italien in beachtlicher Anzahl nicht mehr festgehalten werden.
Ausweislich einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU vom 27. März 2023 (BT-Drs. 20/10869) hat die Antragsgegnerin im gesamten Jahr 2023 15.497 Übernahmeersuchen an Italien gerichtet. In lediglich elf, also in 0,07% der Fälle, hat eine Überstellung auch tatsächlich stattgefunden. In 13.813 Fällen scheiterte eine fristgerechte Überstellung nach Italien, wobei in 8.194 (59,3%) dieser Fälle nach Ansicht der Antragsgegnerin Italien als Grund für das Scheitern der Überstellung angesehen wurde (BT-Drs. 20/10869, S. 25 ff.). Im ersten Quartal des Jahres 2024 haben bundesweit zwei Überstellungen nach Italien im Rahmen des „Dublin-Verfahrens“ stattgefunden (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage auf die Anfrage Abgeordneten Bünger, Domscheit-Berg, Gohlke und weiterer Abgeordneter und der Gruppe Die Linke, BT-Drs. 20/1147 vom 17.5.2024, S. 14). Gepaart mit dem Umstand, dass der als temporär bezeichnete Wiederaufnahmestopp der italienischen Behörden nunmehr seit fast eineinhalb Jahren andauert, ohne dass ansatzweise ersichtlich wäre, dass eine Rückübernahme in beachtlichem Umfang alsbald wiederaufgenommen werden würde, bestehen mithin erhebliche Zweifel an der Wiederaufnahmebereitschaft Italiens, welche nicht durch die Rücknahme von Personen im Rahmen eines bilateralen Rückübernahmeabkommens mit der Schweiz, welches nicht im Zusammenhang mit dem Dublin-Verfahren steht (siehe: https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html#:~:text=Wegen%20der%20grossen%20Zahl%20an,gilt%20gegen%C3%BCber%20allen%20Dublin%2DStaaten.), ausgeräumt werden können (so aber: VG Freiburg, B.v. 10.4.2024 – A 9 K 1255/24 – juris; a.A. VG Berlin, a.a.O., Rn. 36).
Es ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, dass Italien Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens regelmäßig tatsächlich akzeptiert. Es gibt ferner keine Anhaltspunkte, dass – auch wenn der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für die Italienische Republik als Mitgliedsstaat der Europäischen Union weiterhin Geltung beansprucht – regelmäßige Rückführungen nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens zeitnah wiederaufgenommen werden. Die Vermutung, binnen sechs Monaten könnten Abschiebungen wieder durchgeführt werden, entbehrt daher zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) einer belastbaren Grundlage und gibt keinen Anlass von einer hinreichenden Überstellungswahrscheinlichkeit auszugehen, zumal auch die Antragsgegnerin weder im streitgegenständlichen Bescheid noch in ihrer Antragserwiderung Umstände vorgetragen hat, die darauf schließen lassen, dass die Übernahmebereitschaft Italiens vor dem Hintergrund der oben genannten Problematik dennoch weiter fortbesteht. Vielmehr enthält der streitgegenständliche Bescheid hierzu keinerlei nähere Begründung.“
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Hieran hat sich im weiteren Klageverfahren nichts geändert. Insbesondere hat die Beklagte keine tatsächlichen Umstände vorgebracht, die auf eine bestehende Wiederaufnahmebereitschaft bzw. eine Änderung der Rücknahmepraxis Italiens schließen lassen.
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Das Gericht verkennt dabei nicht, dass als Prognosezeitraum für das Bestehen einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Überstellung der Zeitraum der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO heranzuziehen ist. Gleichwohl gibt es unter Berücksichtigung der bisher seit dem als temporär bezeichneten Aufnahmestopp verstrichenen Zeit von mehr als eineinhalb Jahren sowie der fehlenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Wiederaufnahme von Überstellungen nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens in nennenswerter Zahl, keine Aspekte, die dafür sprechen, dass eine Überstellung der Kläger nach Italien innerhalb der Überstellungsfrist mit hoher Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden könnte.
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Mit der Aufhebung der Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des Bescheides fehlt es an einer tragfähigen rechtlichen Grundlage für die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots in dessen Nr. 4, weshalb dieses ebenfalls aufzuheben war. Denn nach § 75 Nr. 12 AufenthG gehört die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nur dann zu den Aufgaben des Bundesamtes, wenn auch eine Abschiebungsanordnung oder -androhung erlassen worden ist.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 84 Abs. 1 Satz 3 VwGO, § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 ZPO.