Titel:
Unzulässiger Eilantrag mangels Rechtsschutzbedürfnisses – Inobhutnahme eines Kindes
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
SGB VIII § 8a, § 42
GG Art. 6
Leitsatz:
Erklären die Eltern ihres in Obhut genommenen Kindes im Anhörungstermin vor dem Familiengericht, dass sie das Kind nicht ohne vorherige gerichtliche Entscheidung des Familiengerichts oder ohne Zustimmung des Jugendamts aus der Pflegefamilie herausnehmen werden, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis an einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren betreffend die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII. (Rn. 4 – 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Inobhutnahme, vorläufiger Rechtsschutz, Rechtsschutzbedürfnis, familiengerichtlicher Eilrechtsschutz, Verhältnismäßigkeit, familiengerichtliche Entscheidung, Pflegefamilie
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 30.07.2024 – M 18 S 24.4443
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26733
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Die Antragsteller sind die Eltern des am 2. August 2022 geboren Kindes S. Sie begehren im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die seitens des Antragsgegners am 17. Juli 2024 vollzogene und mit Bescheid vom selben Tag bestätigte Inobhutnahme von S.
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Die Beschwerde ist unbegründet, da das Verwaltungsgericht auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragsteller im Beschwerdeverfahren, auf dessen Überprüfung der Senat gem. § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 17. Juli 2024 zu Recht abgelehnt hat.
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1. Die Begründung des Sofortvollzugs in der schriftlichen Bestätigung der Inobhutnahme mit Bescheid vom 17. Juli 2024 entspricht noch den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Danach hat die Behörde, die die sofortige Vollziehung eines von ihr erlassenen Verwaltungsakts anordnet, das besondere Interesse an dessen sofortiger Vollziehung schriftlich zu begründen. Das Erlassinteresse kann dabei ausnahmsweise mit dem Vollzugsinteresse identisch sein (Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 46). Dies ist hier der Fall, weil der Zweck der Inobhutnahme als Sofortmaßnahme zum Schutz des Kindeswohls ohne Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht erreicht werden kann. Der Begründungspflicht ist daher formell Genüge getan worden. Es ist trotz der insgesamt knappen Begründung erkennbar, welche Gründe den Antragsgegner bewogen haben, die Inobhutnahme anzuordnen und zu vollziehen, nämlich dass der Schutz des Sohnes der Antragsteller bis zu einer Entscheidung des Familiengerichts nicht gewährleistet wäre.
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2. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist unzulässig, weil ihm das Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
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Auch in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ist das Vorliegen eines rechtlich schutzwürdigen Interesses an dem erstrebten Rechtsschutzziel Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags. Ein solches besteht nur dann, wenn die Antragsteller durch die erstrebte Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihre Rechtsstellung verbessern können. Das Rechtsschutzbegehren darf also nicht von vornherein nutzlos sein (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 83).
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Vorliegend ist kein vorläufiger rechtlicher oder tatsächlicher Vorteil erkennbar, den die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage für die Antragsteller mit sich bringen würde.
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Die Antragsteller haben im Anhörungstermin vor dem Familiengericht am 25. Juli 2024 ausdrücklich erklärt, dass sie das Kind nicht ohne vorherige gerichtliche Entscheidung des Familiengerichts oder ohne Zustimmung des Jugendamts aus der Pflegefamilie herausnehmen werden. Dementsprechend ließen sie durch ihren Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 20. August 2024 gegenüber dem Familiengericht erklären, dass sich das Kind in der Pflegefamilie befinde und für den Erlass einer einstweiligen Anordnung kein Rechtsschutzbedürfnis bestehe. Dem lässt sich entnehmen, dass das Rechtsschutzziel der vorliegenden Beschwerde also offensichtlich nicht darin besteht, dass den Antragstellern ihr Kind sofort wieder übergeben werden soll.
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Solange die Antragsteller akzeptieren, dass ihr Sohn vorübergehend – bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung – in einer Pflegefamilie untergebracht ist, stünde die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hierzu in Widerspruch. Diese würde dazu führen, dass die Inobhutnahme unmittelbar endet und das Kind wieder seinen Eltern übergeben wird. Das wäre jedoch unvereinbar mit dem erklärten Willen, zunächst eine familiengerichtliche Entscheidung abzuwarten. Somit ist kein rechtlicher oder tatsächlicher Vorteil erkennbar, den eine stattgebende Entscheidung für die Antragsteller bringen würde. Sollte sich die Sachlage insoweit verändern, haben die Antragsteller die Möglichkeit, einen Antrag auf Abänderung des Beschlusses nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu stellen. Soweit die Antragsteller – gegebenenfalls auch im Hinblick auf einen etwaigen Kostenbeitrag – die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme festgestellt haben möchten, ist dies nicht Gegenstand des Eilverfahrens, sondern des Klageverfahrens. Selbst die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung hätte keinen Einfluss auf die Frage, ob die Antragsteller für die Inobhutnahme einen Kostenbeitrag zu leisten haben.
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3. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass nach dem Vorbringen der Antragsteller im Beschwerdeverfahren im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme von S., welche mit Bescheid vom 17. Juli 2024 bestätigt wurde, bestehen (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO analog; zu diesem Prüfungsmaßstab vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 95).
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Rechtsgrundlage für die erfolgte und noch andauernde Inobhutnahme ist § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB VIII. Danach ist das zuständige Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erfordert und entweder die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Darüber hinaus muss die Inobhutnahme auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. es darf insbesondere keine das Elternrecht weniger stark tangierende, gleich geeignete Maßnahme zur Sicherung des Kindeswohls geben.
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Grundvoraussetzung einer Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII bildet zunächst eine dringende Gefahr für das Kindeswohl. Eine dringende Gefahr im Sinne der genannten Bestimmung muss indes – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete Gefahr sein (so VG Schwerin, U.v. 3.5.2015 – 6 A 719/12 – juris Rn. 42 betreffend eine nicht ausreichende latente Suizidgefahr von Mutter und Kind). Eine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr für das Kindeswohl reicht zur Rechtfertigung einer Inobhutnahme hingegen nicht aus (vgl. BayVGH, B. v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 8f.).
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Den Gründen des Bescheids und den dem Senat vorliegenden Akten des Antragsgegners und des Jugendamts Weißenburg-Gunzenhausen lässt sich eine dringende Gefahr für das Kindeswohl im Zeitpunkt der Inobhutnahme am 17. Juli 2024 entnehmen.
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Nach dem eskalierten Streit zwischen den Antragstellern am 18. Juni 2024, in dessen Verlauf der alkoholisierte Antragsteller gedroht hat, die Antragstellerin und ihren Sohn sowie sich selbst umzubringen, und der Antragsteller aufgrund Eigen- und Fremdgefährlichkeit ins Bezirksklinikum eingewiesen worden war, ist der Antragsteller aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, auch wenn er sich insbesondere am Wochenende zunächst wieder dort aufgehalten hat. Die Antragstellerin erklärte mehrfach gegenüber dem Jugendamt, dass sie die Betreuung von S. nicht schaffe; ohne die Unterstützung des Antragstellers sei sie mit der Betreuung und Versorgung überfordert (Protokoll des Hausbesuchs vom 20. Juni 2024, Aktenvermerk vom 21. Juni 2024, Protokoll des Hausbesuchs vom 24. Juni 2024, Aktenvermerk vom 26. Juni 2024). Auch nach Einschätzung des Jugendamts ist eine Versorgung des Kindes allein durch die Antragstellerin unmöglich (Aktenvermerk vom 2. Juli 2024). Da ambulante Maßnahmen nicht mehr für ausreichend gehalten wurden, um den Schutz des Kindes zu gewährleisten, wurde der Antragstellerin ab dem 3. Juli 2024 Jugendhilfe in Form der gemeinsamen Unterbringung in einer betreuten Wohnform gewährt. Gleichzeitig wurde die bisher gewährte Sozialpädagogische Familienhilfe eingestellt.
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In ihrer Stellungnahme vom 15. Juli 2024 führte die Mutter-Kind-Einrichtung aus, dass die Überzeugungen der Antragstellerin dem Kindeswohl entgegenstünden und die Grenzen zur Vernachlässigung, Gefährdung und Misshandlung überschritten. Sie scheine keinerlei Gefahrenbewusstsein zu haben und gebe sich mangelndem Antrieb und Gleichgültigkeit hin. Vernachlässigungsmomente zeigten sich in der Ernährung, Körperhygiene und Pflege des Jungen sowie der mangelnden Interaktionsbereitschaft. Misshandlungen zeigten sich im Abwerten, grob Anfassen, an einer Extremität hinter sich herziehen, auf die Finger schlagen sowie durch massive Drohungen. Es gebe Anhaltspunkte für eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls, wenn die Antragstellerin die Einrichtung verlasse und für ihren Sohn allein die Verantwortung tragen müsse.
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Vor diesem Hintergrund sieht der Senat auf Grundlage der aktuell vorliegenden Unterlagen eine hinreichende Tatsachengrundlage, aus der zum Zeitpunkt der Inobhutnahme ablesbar war, dass entweder bereits ein Schaden beim Kind eingetreten oder aber bei seiner weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist (vgl. BayVGH, B. v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 12). Es erschien zu diesem Zeitpunkt hinreichend wahrscheinlich, dass S. bei einem ungehinderten Geschehensablauf einen erheblichen Schaden an seiner körperlichen und psychischen Gesundheit nehmen würde. Mit der sofortigen Beendigung der Unterbringung in der Einrichtung wäre er in eine Situation zurückgekehrt, in der die bisher engmaschige Hilfestellung und Unterstützung der Antragsteller bei der Betreuung und Versorgung ihres Kindes jedenfalls unmittelbar nicht sichergestellt gewesen wäre. Die Antragstellerin, an deren Erziehungsunfähigkeit das Familiengericht im Rahmen des Sorgerechtsverfahrens betreffend ihre ersten beiden Kinder keine Zweifel hatte (Amtsgericht Weißenburg i. Bay., B. v. 10. Januar 2020, Az. 003 F 331/18), hätte auch weder beständig auf die Hilfe ihrer Mutter noch auf die des Antragstellers zurückgreifen können, zumal die jeweiligen Beziehungen extrem konfliktbehaftet und wechselhaft sind.
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4. Die Inobhutnahme muss auch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren, also insbesondere erforderlich sein. Entscheidend ist, ob es ein im Vergleich zur Inobhutnahme milderes gleich geeignetes Mittel gibt. Dies gilt umso mehr bei Aufrechterhaltung der Inobhutnahme über einen längeren Zeitraum, weil das Familiengericht zwar angerufen worden ist, aber keine vorläufige Entscheidung trifft.
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Der Senat hat insofern Zweifel, ob eine weitere Aufrechterhaltung der Inobhutnahme über einen unbestimmten Zeitraum nach der Beschwerdeentscheidung noch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt.
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Die Inobhutnahme ist nur eine vorläufige Maßnahme, welche beendet werden muss, sobald die dringende Gefahr nicht mehr besteht. Die Fortsetzung der Inobhutnahme bis zu einer Entscheidung des Familiengerichts setzt also voraus, dass der Antragsgegner immer wieder selbst prüft, ob die Voraussetzungen für eine Fortsetzung der Inobhutnahme noch gegeben sind (vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 27.5.2024, § 42 SGB VIII, Rn. 233ff.).
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Hinzu kommt, dass nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 b) SGB VIII eine Inobhutnahme nur zulässig ist, wenn eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Zum Zeitpunkt der Inobhutnahme mag das noch zu bejahen gewesen sein. Nach § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII hat das Jugendamt jedoch, wenn die Erziehungsberechtigten der Inobhutnahme widersprechen, unverzüglich eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes herbeizuführen. Dies haben der Antragsgegner und das Landratsamt Weißenburg-Gunzenhausen vorliegend getan, eine einstweilige Anordnung ist aber (bislang) unterblieben mit der Begründung, die Antragsteller akzeptierten die vorübergehende Unterbringung ihres Sohnes in einer Pflegefamilie. Hierbei übersieht das Familiengericht, dass es für die Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung auf die Situation des Kindes bei seinen Eltern ankommt und nicht darauf, dass es durch die Inobhutnahme aktuell in einem „sicheren“ Umfeld lebt.
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Der Richtervorbehalt des § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII ist verfassungsrechtlich begründet. Das Gesetz ordnet nämlich die Befugnisse zur Ausübung des staatlichen Wächteramts in erster Linie in die familienrechtliche Sorge ein (§§ 1666 ff. BGB). Die vorgesehenen Maßnahmen sind in die Hand des Familiengerichts gelegt; das entspricht der Tragweite des Eingriffs in die familiäre Lebensgemeinschaft und das Elternrecht (so Ernst, JAmt 2024, 392 [397]). Der Senat macht das Familiengericht daher ausdrücklich darauf aufmerksam, dass es nach § 157 Abs. 3 FamFG seine Pflicht ist, in Verfahren nach den §§ 1666 und 1666a BGB unverzüglich den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu prüfen. Dennoch dauert vorliegend die Trennung des Kindes von seinen Eltern allein aufgrund einer behördlichen Entscheidung bereits mehr als zwei Monate an. Dass die Antragsteller den Verbleib ihres Kindes bei einer Pflegefamilie derzeit hinnehmen, entbindet das Familiengericht nicht von seiner Pflicht zu einer unverzüglichen Entscheidung.
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5. Da die Antragsteller ihren Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Schriftsatz vom 10. September 2024 zurückgenommen haben, ist die Beschwerde insoweit gegenstandslos geworden.
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6. Die Antragsteller tragen nach § 154 Abs. 2 VwGO die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden in Angelegenheiten des Kinder- und Jugendhilferechts nach § 188 Satz 2, 1 VwGO nicht erhoben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).