Titel:
Gefahrenprognose nach Hundebiss
Normenkette:
VwGO § 86 Abs. 1, § 108 Abs. 1, § 124a Abs. 4 S. 4
Leitsatz:
Angesichts der Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter der Gesundheit und des Eigentums Dritter sind bei einem Hundebiss keine zu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts weiterer Schäden zu stellen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Anordnung zur Hundehaltung, Leinenpflicht im Innen- und Außenbereich, Gefahrenprognose, Zulassungsgründe nicht dargelegt, Hundehaltung, Leinenpflicht, Innenbereich, Außenbereich, Wahrscheinlichkeit, Hundebiss, Bissverletzung
Vorinstanz:
VG Würzburg, Urteil vom 19.03.2024 – W 9 K 23.547
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26728
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,-- Euro festgesetzt.
Gründe
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Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgen die Kläger ihre in erster Instanz insoweit erfolglose Klage gegen einen von der Beklagten mit Bescheid vom 28. März 2023 angeordneten Leinenzwang für ihren Hund „Kalle“ weiter.
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Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und des (der Sache nach geltend gemachten) Verfahrensfehlers im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sind nicht ausreichend dargelegt und liegen auch nicht vor.
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1. Das Zulassungsvorbringen legt zunächst keine entscheidungserheblichen Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO dar.
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Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe den Sachverhalt im Hinblick auf die streitgegenständlichen Beißvorfälle am 24. bzw. 25. Januar 2023 nicht ausreichend aufgeklärt und damit gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) verstoßen, greift schon deswegen nicht durch, weil eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht grundsätzlich nicht geltend gemacht werden kann, wenn der Kläger es – wie hier – unterlassen hat, in der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen (vgl. etwa BVerwG, B.v. 20.12.2012 – 4 B 20.12 – juris Rn. 6). Mit der Aufklärungsrüge können Versäumnisse eines Verfahrensbeteiligten, vor allem unterbliebene Beweisanträge, nicht kompensiert werden (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2017 – 10 ZB 16.1049 – juris Rn. 8). Ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung am 18. Juli 2023 (Bl. 58 ff. der Gerichtsakte des Verwaltungsgerichts) haben die Kläger keinen Beweisantrag gestellt.
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Eine Aufklärungsrüge nach § 86 Abs. 1 VwGO setzt zudem die Darlegung voraus, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-rechtlichen Auffassung des Verwaltungsgerichts ermittlungsbedürftig gewesen wären, welche Beweismittel zur Verfügung gestanden hätten und welche tatsächlichen Feststellungen bei der Durchführung der vermissten Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären (BVerwG, B.v. 8.7.2009 – 4 BN 12.09 – juris Rn. 7). Solche Darlegungen enthält der Zulassungsantrag nicht in substantiierter Form.
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2. Auch der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend vorgetragen und liegt auch nicht vor.
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Solche ernstlichen Zweifel bestünden dann, wenn die Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätten (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Die von § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO geforderte Darlegung dieses Zulassungsgrundes erfordert innerhalb der Zulassungsbegründungsfrist von zwei Monaten eine konkret fallbezogene und hinreichend substantiierte Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung; es muss dargelegt werden, dass und weshalb das Verwaltungsgericht entscheidungstragende Rechts- und Tatsachenfragen unrichtig entschieden hat (BayVGH, B.v. 29.4.2020 – 10 ZB 20.104 – juris Rn. 3), wobei „darlegen“ schon nach allgemeinem Sprachgebrauch mehr als lediglich einen allgemeinen Hinweis bedeutet; „etwas darlegen“ bedeutet vielmehr so viel wie „erläutern“, „erklären“ oder „näher auf etwas eingehen“ (BVerwG, B.v. 9.3.1993 – 3 B 105.92 – juris Rn. 3 m.w.N.).
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Gemessen daran werden mit dem Zulassungsantrag ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht dargelegt.
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Dies gilt zunächst für die Rüge der Kläger, das Verwaltungsgericht habe die Rechtmäßigkeit des Leinenzwangs außerhalb bebauter Ortsteile mit zwei Vorfällen am 24. bzw. 25. Januar 2023 begründet, obwohl die Darstellung dieser Vorfälle durch die Kläger signifikant von den Darstellungen der geschädigten anderen Hundehalter abgewichen sei. Dieser Einwand greift nicht durch.
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Ob von einem Hund eine konkrete Gefahr ausgeht, entscheidet das Gericht gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es ist bei der Würdigung aller erheblichen Tatsachen frei. Soweit eine fehlerhafte Überzeugungsbildung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, genügt für den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO allein der Vortrag, die Tatsachen seien anders als vom Verwaltungsgericht angenommen oder der Sachverhalt sei anders zu bewerten, nicht. Mit Einwänden gegen die freie, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnene richterliche Überzeugung wird die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts erst dann in Frage gestellt, wenn Gründe dafür aufgezeigt werden, dass die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Überzeugungsbildung fehlerhaft ist, etwa weil das Verwaltungsgericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden bzw. auch unzureichend ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung gedankliche Lücken oder Ungereimtheiten aufweist (BayVGH, B.v. 13.1.2020 – 10 ZB 19.1599 – juris Rn. 7). Letzteres ist insbesondere bei einer Verletzung von Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen, gegebenenfalls heranzuziehenden gesetzlichen Beweisregeln oder sachwidriger Beweiswürdigung anzunehmen (BayVGH, B.v. vom 25.10.2017 – 5 ZB 17.340 – juris Rn. 39; OVG Bln-Bbg, B.v. 29.9.2017 – OVG 5 N 40.16 – juris Rn. 9). Derartige Mängel zeigt die Begründung des Zulassungsantrags jedoch nicht auf. Allein der Hinweis darauf, dass die Kläger den Sachverhalt anders schildern als dies die (selbst) geschädigten anderen Hundehalter gegenüber der Beklagten getan haben, genügt insofern nicht.
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Auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe es unterlassen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob als milderes Mittel auch ein Leinenzwang nur bei Führung durch die Klägerin in Frage komme, greift nicht durch. Den Klägern ist einzuräumen, dass der Kläger selbst bei den streitgegenständlichen Vorfällen nicht zugegen war und der Hund dabei von der Klägerin bzw. vom Vater des Klägers begleitet wurde. Dies allein musste das Gericht allerdings nicht veranlassen, gesonderte Erwägungen dazu anzustellen, ob im Falle des Ausführens durch den Kläger möglicherweise keine konkrete Gefahr besteht. Nach den vom Zulassungsvorbringen nicht durchgreifend (s.o.) in Zweifel gezogenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts handelt es sich bei dem Kangal-Rüden der Kläger um einen sehr großen und schweren Hund, der bereits in zwei Vorfälle verwickelt war, darunter ein Fall mit einer erheblichen Bissverletzung bei einem anderen Hund. Weiter hat das Verwaltungsgericht zu Recht und in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Senats ausgeführt, dass auch die von den Klägern vorgelegte Einschätzung eines Hundesachverständigen, wonach der Hund keine gesteigerte Aggressivität und Gefährlichkeit aufweise und vom Kläger gut geführt werden könne, nicht geeignet sei, eine konkrete Gefahr auszuschließen, weil selbst Sachverständigengutachten und Wesenstests nur eine Momentaufnahme darstellen und lediglich besagen, dass ein Hund in der geprüften Situation zu diesem Zeitpunkt kein (gesteigertes) aggressives Verhalten gezeigt hat (vgl. zuletzt etwa BayVGH, B.v. 16.8.2022 – 10 ZB 22.786 – juris Rn. 14; B.v. 3.6.2022 – 10 CS 22.982, 10 C 22.983 – juris Rn. 17 m.w.N.). Zudem hat das Erstgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass angesichts der Gefahr für die hochrangigen Rechtsgüter der Gesundheit und des Eigentums Dritter, die sich im Falle des Hundes des Klägers jedenfalls im Hinblick auf das Eigentum bereits realisiert hatte, keine zu hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Eintritts weiterer Schäden gestellt werden dürfen (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 12.4.2021 – 10 B 19.1716 – juris Rn. 64; U.v. 12.10.2020 – 10 B 20.1795 – juris Rn. 28; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Vor diesem Hintergrund war eine zwischen den beiden Klägern differenzierende Gefahrenprognose nicht erforderlich.
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3. Die Berufung ist auch nicht wegen rechtsgrundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
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Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts eine konkrete, jedoch fallübergreifende Rechts- oder Tatsachenfrage von Bedeutung ist, deren noch ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zu einer bedeutsamen Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Dementsprechend verlangt die Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung, dass eine konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und entscheidungserheblich (klärungsfähig) ist; ferner muss dargelegt werden, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 10 ZB 18.1768 – Rn. 11; B.v. 14.2.2019 – 10 ZB 18.1967 – juris Rn. 10).
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Gemessen daran zeigt das Zulassungsvorbringen eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht auf.
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Soweit die Kläger die Frage aufwerfen, ob „bei der erforderlichen Gefahrenprognose allein auf den Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides abzustellen (ist) oder (…) es sich bei der sicherheitsbehördlichen Anordnung um einen Dauerverwaltungsakt (handelt), für dessen gerichtliche Überprüfung auch hinsichtlich der Gefahrenprognose der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist“, legen sie nicht dar, dass diese Frage entscheidungserheblich ist. Weder hier noch im Rahmen des Zulassungsgrundes der ernstlichen Zweifel nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (s.o). wird substantiiert dargelegt, dass die Frage der konkreten Gefahr im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung anders zu beurteilen wäre.
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Auch die als klärungsbedürftig bezeichnet Frage, „(w) elche Anforderungen (…) an die Nachweise zur Widerlegung einer konkreten Gefahr eines Hundes nach einer Rechtsgutsverletzung zu stellen“ seien, rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Frage, ob von einem Hund im maßgeblichen Zeitpunkt eine konkrete Gefahr ausgeht, nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls (stRspr, vgl. etwa BayVGH, U.v. 6.4.2016 – 10 B 14.1054 – juris Rn. 19; allgemein BayVGH, B.v. 14.12.2020 – 10 ZB 20.2656 – juris Rn. 11) – und damit auch unter Berücksichtigung der von den Haltern angeführten entlastenden Umstände – beurteilt werden kann. Einer weitergehenden, grundsätzlichen Klärung ist diese Frage aufgrund dieser Einzelfallabhängigkeit nicht zugänglich.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).