Titel:
Rücknahme von Aufenthaltstiteln
Normenketten:
BayVwVfG Art. 48 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2, Abs. 3
AuslG § 30 Abs. 4, § 35 Abs. 1 (idF bis zum 31.12.2004)
Leitsatz:
Eine gemäß § 30 Abs. 4 AuslG in der bis zum 31.12.2004 geltenden Fassung erteilte Aufenthaltsbefugnis wurde rechtswidrig erteilt, wenn der Ausländer neben der behaupteten Staatsangehörigkeit eine weitere (tatsächliche) Staatsangehörigkeit besitzt; in diesem Falle wäre ihm die Einreise und der längerfristige Aufenthalt im Staat seiner tatsächlichen Staatsangehörigkeit möglich. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltsrecht, Rücknahme von Aufenthaltstiteln bzw. Aufenthaltsgenehmigungen, behauptete afghanische Staatsangehörigkeit, Täuschung über bzw. Verschweigen einer (weiteren) Staatsangehörigkeit (hier: pakistanisch), Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an abgelehnte afghanische Asylbewerber gemäß IMS vom 17. Juli 1998, Pakistani, Afghane, Verschweigen der Staatsangehörigkeit, Vertrauensschutz, arglistige Täuschung
Vorinstanz:
VG München vom -- – M 4 K 19.1234
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26727
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Kläger verfolgt mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2019 weiter. Mit diesem hat die Beklagte seinen Antrag auf Übertrag/Neuausstellung der Niederlassungserlaubnis in seinen pakistanischen Reisepass abgelehnt, die dem Kläger jeweils am 27. Oktober 1998, 21. Oktober 1999, 20. Oktober 2000, 14. Februar 2002 und 10. Dezember 2002 erteilten Aufenthaltsbefugnisse sowie die am 23. März 2004 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis mit Wirkung zum jeweiligen Erteilungszeitpunkt zurückgenommen und ihm die Abschiebung nach Pakistan angedroht; die gleichzeitig verfügte Ausweisung unter Erlass eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots wurde im Lauf des gerichtlichen Verfahrens wieder aufgehoben.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des Art. 48 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayVwVfG für eine Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte seien gegeben.
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Die Aufenthaltsbefugnisse vom 27. Oktober 1998, 21. Oktober 1999, 20. Oktober 2000, 14. Februar 2002 und 10. Dezember 2002 seien jeweils nach § 30 Abs. 4 AuslG (damaliger Fassung) in Verbindung mit der Weisung des Bayerischen Innenministeriums vom 17. Juli 1998 betreffend die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen an afghanische Staatsangehörige, deren Asylanträge abgelehnt worden sind, erteilt worden. Nach dieser Weisung sei eine Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen jedoch ausgeschlossen gewesen bei der Möglichkeit der Einreise und des längerfristigen Aufenthalts in einem Drittstaat. Das sei beim Kläger der Fall gewesen; er besitze die pakistanische Staatsangehörigkeit, weshalb ihm die Einreise und ein längerfristiger Aufenthalt dort möglich gewesen wären.
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Jedoch habe der Kläger bei seiner Asylantragstellung und seit April 1997 gegenüber der Ausländerbehörde hinsichtlich seiner Personalien falsche Angaben gemacht und sich als afghanischer Staatsangehöriger ausgegeben.
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Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger tatsächlich afghanischer Staatsangehöriger sei. Er habe 2017 selbst vorgetragen, dass er die pakistanische Staatsangehörigkeit besitze, und hierfür Dokumente vorgelegt. Soweit er in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragen habe, sein Vater sei Afghane gewesen, und einen für diesen ausgestellten afghanischen Staatsangehörigkeitsausweis (Tazkira) vorgelegt habe, vermöge dies nicht seine eigene afghanische Staatsangehörigkeit nachzuweisen, ebenso wenig der Vortrag, dass die afghanische Botschaft auf dieser Grundlage ihm am 1. April 2010 einen Reisepass auf seine Alias-Personalien ausgestellt habe. Auch aus dem Umstand, dass die afghanische Botschaft ihm schon vorher einen Reisepass auf seine Alias-Personalien ausgestellt habe, ergebe sich nicht, dass er die afghanische Staatsangehörigkeit besessen oder in schutzwürdiger Weise darauf vertraut habe, sie zu besitzen. Der Kläger sei in Pakistan geboren und habe bei seinem „Berichtigungsantrag“ im Jahr 2017 gerade seine pakistanische Staatsangehörigkeit geltend gemacht. Das Gericht sei deshalb überzeugt, dass der Kläger die pakistanische Staatsangehörigkeit besitze und ihm dies bei Stellung der Anträge auf einen Aufenthaltstitel bekannt gewesen sei.
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Selbst wenn der Kläger neben der pakistanischen auch die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen würde, wäre ihm die Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 Abs. 4 AuslG rechtswidrig erteilt worden, da ihm damit die Einreise und der längerfristige Aufenthalt in einem Drittstaat, nämlich Pakistan, möglich gewesen wäre; in einem solchen Fall sei eine Erteilung ausgeschlossen gewesen.
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Die am 23. März 2004 erteilte (und gemäß § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltende) unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach § 35 Abs. 1 AuslG sei ebenfalls rechtswidrig erteilt worden, da der Kläger infolge der Rücknahme der Aufenthaltsbefugnisse die notwendigen Aufenthaltszeiten nicht mehr erfülle. Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankomme, sei die Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis auch deshalb rechtswidrig gewesen, weil die Erteilungsvoraussetzung nach § 24 Abs. 1 Nr. 6 AuslG nicht erfüllt gewesen sei, da Ausweisungsgründe vorgelegen hätten; der Kläger habe in der sicherheitsrechtlichen Befragung am 17. Februar 2004 falsche Angaben gemacht und damit Ausweisungsgründe nach § 47 Abs. 2 Nr. 5 AuslG wie nach § 46 Nr. 1 AuslG erfüllt.
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Der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz im Sinn von Art. 48 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BayVwVfG berufen, weil er die begünstigenden Verwaltungsakte durch arglistige Täuschung erwirkt habe. Er habe bewusst falsche Angaben gemacht, indem er sowohl im Asylverfahren als auch mehrfach gegenüber der Beklagten eine unzutreffende Identität und Staatsangehörigkeit angegeben habe, um damit Aufenthaltsgenehmigungen für sich zu erwirken, auf die er ohne die arglistige Täuschung keinen Anspruch gehabt hätte und die ihm in Kenntnis seiner wahren Identität und Staatsangehörigkeit nicht erteilt worden wären. Wegen der arglistigen Täuschung gelte auch die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG nicht. Die Rücknahmen der Aufenthaltsbefugnisse und der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis seien auch ermessensfehlerfrei erfolgt. Die Beklagte habe den öffentlichen Interessen an der Herstellung rechtmäßiger Zustände zu Recht den Vorrang vor den privaten Interessen des Klägers eingeräumt. Zwar lebe er (zum damaligen Zeitpunkt) sei 23 Jahren in Deutschland, sei seit dem 23. Dezember 1996 beim selben Arbeitgeber beschäftigt und könne sich in einfacher Weise auf Deutsch verständigen, allerdings lägen darüber hinaus keine weitergehenden Integrationsleistungen vor. Er habe auch keine Familienangehörigen in Deutschland; ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK oder Art. 6 GG liege nicht vor. Ermessensfehlerfrei habe die Beklagte die Rücknahmen der Aufenthaltstitel auch mit Wirkung für die Vergangenheit ausgesprochen.
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Der Kläger trägt hiergegen vor, den Ausführungen des Verwaltungsgerichts, er sei nicht afghanischer Staatsangehöriger, könne nicht gefolgt werden. Es stehe einer deutschen Behörde nicht zu, die Entscheidung der afghanischen Behörden zur Ausstellung eines Passes in Zweifel zu ziehen. Er habe vielmehr vorgetragen, den afghanischen Reisepass aufgrund eines authentischen Staatsangehörigkeitsnachweises seines Vaters erhalten zu habe. Es gebe keine Anhaltspunkte, dass er sich diesen Reisepass erschlichen habe. Jedenfalls habe er aufgrund des Staatsangehörigkeitsnachweises seines Vaters davon ausgehen dürfen, dass er gleichfalls die afghanische Staatsangehörigkeit besitze.
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Ungeachtet dessen habe das Gericht die vorgelegten Dokumente nicht hinreichend gewürdigt. Das afghanische Generalkonsulat habe dem Kläger über Jahre hinweg nach eingehender Prüfung afghanische Reisepässe ausgestellt; seine afghanische Staatsangehörigkeit sei dadurch belegt. Dass der Kläger im Rahmen des Asylverfahrens möglicherweise falsche Angaben zu seinen Personalien gemacht habe, sei irrelevant, da diese Angaben nicht entscheidungserheblich gewesen seien; die Aufenthaltsbefugnis sei gleichwohl erteilt worden.
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Keinesfalls könne dem Kläger Arglist vorgeworfen werden. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger tatsächlich nicht die afghanische Staatsangehörigkeit besitze oder besessen habe; eine Vermutung könne nicht ausreichen. Auch fehle es daran, dass der Kläger falsche Angaben in dem Bewusstsein gemacht hätte, bei dem Behördenmitarbeiter einen Irrtum hervorzurufen. Der Behörde seien die Zweifel an der afghanischen Staatsangehörigkeit aus dem Asylverfahren bereits bekannt gewesen, auch habe es eine Negativbescheinigung seitens des afghanischen Generalkonsulats gegeben. Erst nach der Vorlage des afghanischen Reisepasses habe die Ausländerbehörde dann doch eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, ohne weiter nachzuforschen. Wenn aber bereits Zweifel bestünden, könne kein Irrtum erweckt werden; eine arglistige Täuschung liege nicht vor.
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Damit kann der Kläger jedoch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht durchgreifend in Zweifel ziehen.
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Denn die Begründung des Zulassungsantrags geht allein auf die Frage ein, ob der Kläger die afghanische Staatsangehörigkeit besitzt bzw. besaß und ob er bei der Angabe, Afghane zu sein, subjektiv richtige oder falsche Angaben gemacht hat. Im Ergebnis kommt es jedoch nicht darauf an, ob der Kläger (auch) die afghanische Staatsangehörigkeit besaß oder darauf vertrauen durfte, sie zu besitzen. Denn das Verwaltungsgericht hat zu Recht – und selbständig tragend – ausgeführt, dass ihm die Aufenthaltsbefugnis gemäß § 30 Abs. 4 AuslG auch dann rechtswidrig erteilt worden wäre, wenn er neben der pakistanischen auch die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen würde, weil ihm dann die Einreise und der längerfristige Aufenthalt in einem Drittstaat, nämlich Pakistan, möglich gewesen wäre, und in einem solchen Fall gemäß der innenministeriellen Weisung eine Erteilung ausgeschlossen war (UA Rn. 57).
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Jedenfalls hat der Kläger bis 2017 und damit vor der Erteilung der zurückgenommenen Aufenthaltstitel bzw. Aufenthaltsgenehmigungen nie offengelegt, dass er (auch) im Besitz der pakistanischen Staatsangehörigkeit war, obwohl er nach entsprechender Frage zu einer Offenlegung verpflichtet gewesen wäre. So hat er in den Formularen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung vom 15. Oktober 1998, 21. Oktober 1998, 15. Oktober 2000, 26. Oktober 2001, 10. Dezember 2002 und 13. Januar 2004 (Bl. 117-119, 127-129, 132-134, 153-155, 159-161, 173-175 der Ausländerakte) die Frage nach einer weiteren Staatsangehörigkeit (außer afghanisch) jeweils unbeantwortet gelassen bzw. erneut „afghanisch“ eingetragen. In den Formblättern „Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis an afghanische Staatsangehörige, deren Asylanträge abgelehnt worden sind“, die der Erteilung der jeweiligen Aufenthaltsbefugnis zugrunde lagen, vom 27. Oktober 1998, 21. Oktober 1999, 20. Oktober 2000, 14. Februar 2002 und 10. Dezember 2002 (Bl. 124, 125, 137, 157, 163 der Ausländerakte) ist jeweils vermerkt, dass die Aufenthaltsbefugnis im Falle des Vorliegens einer Aufenthaltsmöglichkeit in einem Drittstaat nicht mehr verlängert werden kann; der Kläger hat dies mit seiner Unterschrift bestätigt. Schließlich hat der Kläger bei seiner „Sicherheitsrechtlichen Befragung“ vom 7. Februar 2004 die ausdrückliche Frage „Besitzen Sie eine weitere Staatsangehörigkeit?“ verneint (Bl. 212 der Behördenakte).
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Auf die weiteren tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen im Urteil des Verwaltungsgerichts, insbesondere zur Rechtswidrigkeit und damit Rücknehmbarkeit der erteilten Aufenthaltsgenehmigungen und der rechtmäßigen Ermessensausübung der Beklagten, geht die Begründung des Zulassungsantrags nicht ein.
18
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
19
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).