Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 27.09.2024 – AN 16 S 24.31643
Titel:

zu schützenswerten familiären Belangen

Normenketten:
AsylG § 30, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 36 Abs. 1, Abs. 4 S. 1
AufenthG § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Rückführungs-RL Art. 5
Leitsatz:
Normale verwandtschaftliche Bindung zwischen Geschwistern bzw. Eltern zu ihren volljährigen Kindern ohne Hinzukommen zusätzlicher Elemente der Abhängigkeit im Sinne eines aufeinander „Angewiesenseins“ begründen keine schützenswerten familiäre Belange iSd § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Venezuela – Asylantrag offensichtlich unbegründet – allg. Verhältnisse in Venezuela, Abschiebungsverbot mangels besonderer, vulnerabler Umstände verneint, Abschiebungsandrohung, familiäre Belange außerhalb der Kernfamilie, volljährige Antragstellerin, Verwandtschaftsverhältnis Geschwister (volljährige Schwester, minderjähriger Bruder), fehlende Darlegung einer Abhängigkeit, eines aufeinander „Angewiesenseins“ zu Mutter und Bruder, Asyl, Venezuela, Abschiebungsandrohung, Kernfamilie, familiäre Bindungen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26724

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin ist venezolanische Staatsangehörige. Sie reiste am 28. November 2023, zuletzt auf dem Landweg, in die Bundesrepublik Deutschland ein.
2
Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt gab die Antragstellerin an, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder auf Grund dessen gesundheitlicher Probleme nach Deutschland gekommen zu sein. Seit seiner Geburt leide er an Kryptorchismus. Die Operation in Venezuela sei nicht erfolgreich und die Beschwerden weiterhin vorhanden gewesen. Ihr Bruder benötige Untersuchungen durch Spezialisten.
3
Mit Bescheid vom 22. Juli 2024 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung sowie auf Zuerkennung subsidiären Schutzes als jeweils offensichtlich unbegründet ab (Ziffern 1 bis 3). Sie stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Sie erließ in Ziffer 5 eine Abschiebungsandrohung nach Venezuela und in Ziffer 6 ein befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot. Ihre Entscheidung begründete sie im Wesentlichen damit, dass die Antragstellerin nichts asyl- bzw. flüchtlingsrelevantes vorgebracht habe. Ihr selbst sei in Venezuela nichts geschehen, die Ausreise sei allein aufgrund der gewünschten medizinischen Versorgung des Bruders der Antragstellerin in Deutschland erfolgt. Eine Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen gewesen. Einer solchen stehe auch nicht die Rechtsprechung des EuGH entgegen. Nach der Erkenntnislage des Bundesamtes im Zeitpunkt der Asylentscheidung lägen gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG keine kindlichen und / oder familiären Belange als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis vor. Die Antragstellerin habe zwar unter anderem angegeben, in Deutschland ihre Mutter und ihren Bruder zu haben, die unter einem anderen Aktenzeichen einen eigenen Asylantrag gestellt hätten, da das Asylverfahren noch laufe, würden die Mutter und der Bruder jedoch über keinen verfestigten Aufenthalt in Deutschland verfügen.
4
Über ihre Bevollmächtigte hat die Antragstellerin am 31. Juli 2024 hiergegen Klage erheben lassen. Der Bescheid sei rechtswidrig, soweit Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG verneint worden seien. Das Existenzminimum der Antragstellerin sei in ihrem Herkunftsland nicht gewährleistet. Aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse in Venezuela drohe der Antragstellerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung bzw. Verelendung. Die Lebensverhältnisse im Zielstaat der Abschiebung würden eine Verletzung des Art. 3 EMRK / Art. 4 GRCh darstellen. Die Antragstellerin sei eine schutzbedürftige Frau. Die benötigte Versorgung mit Nahrung und Unterkunft würden bei Weitem ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Darüber hinaus sei die erlassene Abschiebungsandrohung rechtswidrig. Die Antragstellerin sei mit ihrer gesamten Kernfamilie (Mutter und Bruder) in der Hoffnung und Erwartung nach Deutschland gereist, dass ihr Bruder medizinisch versorgt werde. Die gesamte Familie sei seit ihrer Ankunft in Deutschland zusammen und würde gemeinsam in einer Wohnung leben. Die familiäre Beziehung habe schon in Venezuela bestanden. Die Antragstellerin habe ihr gesamtes Leben mit ihrer Mutter und ihrem Bruder verbracht. Die Mutter versorge die Familie. Der Vater sei weder moralisch noch finanziell eine Unterstützung. Die Antragstellerin kümmere sich um den Bruder seit er eineinhalb Jahre alt sei und sei wie eine zweite Mutter für ihn, da sie sich täglich um ihn kümmere und ihn beschütze. Die Antragstellerin würde dem Bruder regelmäßig seine Mahlzeiten zubereiten, seine Wäsche waschen und ihm seine Medikamente geben. Da sich der Bruder der Antragstellerin in Deutschland noch einer Operation unterziehen müsse, könne die Antragstellerin nicht abgeschoben werden, bevor nicht der Fall des Bruders geklärt sei. Eine Trennung der Antragstellerin von ihrer Mutter und ihrem Bruder beeinträchtige das Kindeswohl des Bruders und die familiären Beziehungen der Antragstellerin.
5
Die Antragstellerin beantragt,
Die aufschiebende Wirkung der Klage, die sich lediglich auf Ziffer 4 bis 6 des Bescheides vom 22. Juli 2024 beziehe, wird angeordnet.
6
Die Antragsgegnerin beantragt,
Antragsablehnung.
7
Die Antragstellerin sei eine erwachsene Person. Familiäre Bindungen zu einem Ehemann oder Kindern lägen nicht vor und seien daher im Rahmen der Abschiebungsandrohung nicht zu berücksichtigen. Die Antragstellerin sei aufgrund ihres Alters nicht (mehr) Teil der laut EuGH-Rechtsprechung zu schützenden Kernfamilie. Dass ein weiterer Verbleib der Antragstellerin in Deutschland zur Unterstützung von Mutter und Bruder unabdingbar sei, sei nicht vorgetragen worden und auch sonst nicht ersichtlich.
8
Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegte elektronische Behördenakte verwiesen.
II.
9
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 22. Juli 2024 ist zulässig, jedoch unbegründet.
10
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist statthaft und notwendig, weil die gleichzeitig erhobene Klage gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hat. Im Falle der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 AsylG ist die Abschiebungsandrohung gemäß § 36 Abs. 1 AsylG nach Ablauf der Ausreisefrist sofort vollziehbar. Hiergegen wendet sich die Antragstellerin.
11
Die Wochenfrist des § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG wurde eingehalten.
12
2. Der Antrag ist unbegründet.
13
Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung nicht standhält und der Richter – auch nach Abwägung aller für und gegen das Offensichtlichkeitsurteil sprechenden Faktoren – qualifizierte (erhebliche) Zweifel an der Entscheidung hat (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 97 ff.).
14
An der Rechtmäßigkeit der im Bescheid vom 22. Juli 2024 erlassenen Abschiebungsandrohung nach Venezuela und den sonstigen seitens der Antragsgegnerin getroffenen Verfügungen bestehen, soweit sie klägerseitig angegriffen werden, im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keine ernstlichen Zweifel. Auf die Begründung des zutreffenden und ausführlichen Bescheides wird gemäß § 77 Abs. 3 AsylG Bezug genommen. Ergänzend gilt Folgendes:
15
a) Das Gericht hat keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Versagung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.
16
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Schlechte humanitäre Verhältnisse im Herkunftsland können rechtlich aber nur ausnahmsweise ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung begründen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris 9; BayVGH, B.v. 26.3.2019 – 8 ZB 18.33221 – juris 11). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner jüngeren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh, der mit Art. 3 EMRK identisch ist, darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C- 297/17 u.a. – juris; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 21). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist dabei der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen. Erforderlich aber auch ausreichend ist die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2018 – 13a B 18.30632 – juris Rn. 28).
17
Dies ist bei der Antragstellerin nicht zu befürchten. Zwar befindet sich Venezuela derzeit unzweifelhaft in einer politischen und wirtschaftlichen Ausnahmesituation mit angespannter humanitärer Lage und Sicherheitslage (vgl. u.a. https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/venezuelasicherheit/224982#content_0, abgerufen am 5.9.24, Amnesty International Deutschland, 24.4.24; Freedom House, Freedom in der World, 29.2.24). Die Erkenntnisse zur humanitären Situation in Venezuela geben unter Berücksichtigung der familiären und wirtschaftlichen Situation der Antragstellerin jedoch keinen Anlass, für die Antragstellerin aufgrund besonderer vulnerabler Umstände, die sie von der Gesamtbevölkerung Venezuelas abheben und in eine Extremgefahr bringen würden, allein aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen in Venezuela ein Abschiebungsverbot festzustellen. Die Antragstellerin ist volljährig, gesund und arbeitsfähig. Auch bislang konnte sie mit Unterstützung ihrer Mutter ihren Lebensunterhalt sicherstellen, sodass ihre elementarsten Bedürfnisse gedeckt waren. Nicht ersichtlich ist, dass ihr dies nicht auch bei einer Rückkehr mit der Aufnahme einer eigenen Arbeitstätigkeit und / oder der finanziellen Unterstützung ihrer Mutter gelingen würde.
18
b) Etwas Anderes ergibt sich auch nicht hinsichtlich der in Ziffer 5 des Bescheides gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG verfügten Abschiebungsandrohung. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG in der seit 27. Februar 2024 geltenden Fassung erlässt das Bundesamt nach §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG eine schriftliche Abschiebungsandrohung, wenn der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit wurden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 ff.; U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – juris Rn. 60; U.v. 8.5.2018 – C-82/16 – juris Rn. 102; U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48).
19
Vorliegend stehen familiäre Bindungen dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
20
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG – für das Recht der Achtung des Familienlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 GRCh gilt im Grundsatz nichts anderes (vgl. VGH Bad.-Württ., B.v. 25.7.2023 – 11 S 985/22 – juris Rn. 24) – keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde – im vorliegenden Fall das Bundesamt –, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12 m.w.N.). Kann zur Vermeidung einer mit Blick auf das Wohl des Kindes unzumutbaren Trennungsphase die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, jedenfalls die einwanderungspolitischen Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46), vgl. zu der zu treffenden Abwägungsentscheidung auch VG Ansbach, B.v. 3.4.2024 – AN 16 S 24.30731 – juris m.w.N..
21
Familiäre Bindungen, die dem Erlass einer Abschiebungsandrohung vorliegend entgegenstehen könnten, sind zwar insofern grundsätzlich vorhanden, als sich die Mutter und der Bruder der Antragstellerin derzeit ebenfalls rechtmäßigerweise in Deutschland aufhalten. Allerdings sind diese familiären Bindungen im Ergebnis der vorzunehmenden Gesamtabwägung zwischen dem Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Rückführung der Antragstellerin und dem Schutz der Familie nicht derart schutzwürdig, dass damit erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der im Ausgangsbescheid erlassenen Abschiebungsandrohung begründet wären.
22
Zum einen ist die Antragstellerin volljährig. Weder ihre Mutter noch ihr Bruder zählen damit zur sog. „Kernfamilie“ (vgl. hierzu RL 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, dort (9) der Erwägungsgründe), die dem besonderen Schutz des Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 GRCh unterliegt. Zwar können grundsätzlich auch andere familiäre Bindungen, z.B. von oder zu volljährigen Kindern oder Geschwistern, schützenswerte familiäre Belange iSd § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG darstellen, allerdings erfordern Verwandtschaftsverhältnisse jenseits der Kernfamilie zusätzliche Elemente der Abhängigkeit im Sinne eines aufeinander „Angewiesenseins“. Entscheidend ist jeweils, ob die mit der Abschiebung verbundene Trennung der Familie im Einzelfall zumutbar ist oder nicht. Hierfür spielt vor allem die voraussichtliche Dauer der Trennung eine Rolle, die bei Ehegatten höher sein darf als bei kleinen Kindern, aber auch die Frage, ob es zumutbar ist, die familiäre Lebensgemeinschaft zumutbarerweise im Ausland fortzuführen (vgl. Waldvogel, in NJOZ 2024, 545, beck-online). Der diesbzgl. antragstellerseitig vorgebrachte Sachvortrag ist für die Annahme einer Abhängigkeit zwischen der Mutter und/oder dem Bruder und der Antragstellerin nicht ausreichend. Sowohl hinsichtlich des Bruders als auch der Mutter der Antragstellerin fehlt es an der substantiierten Darlegung eines tatsächlichen aufeinander „Angewiesenseins“. Zwar gab die Antragstellerin an, die Familie habe bereits in Venezuela stets zusammengelebt, tue das auch in Deutschland, die Mutter unterstütze die Antragstellerin finanziell und die Antragstellerin unterstütze den erkrankten Bruder im Alltag. Ein echtes aufeinander „Angewiesensein“, das über die normale verwandtschaftliche Bindung zwischen Geschwistern bzw. Eltern zu ihren volljährigen Kindern hinausgeht, erkennt das Gericht darin jedoch nicht. Eine finanzielle Unterstützung der Antragstellerin seitens ihrer Mutter kann auch im Falle einer räumlichen Trennung stattfinden. In Bezug auf den Bruder stellt die Antragstellerin keineswegs dessen Hauptbezugsperson dar, sondern wird allenfalls unterstützend tätig. Mangels anderer Anhaltspunkte ist davon auszugehen, dass grundsätzlich die Mutter den minderjährigen Bruder versorgt und diesem als erste Ansprechpartnerin in den elementaren Alltagsverrichtungen dient. Hinzukommt, dass der Bruder weder lebensbedrohlich erkrankt ist (Kryptorchismus) noch im Kleinkindalter ist, wo eine Trennung von der volljährigen Schwester ggf. nicht verständlich erklärt werden könnte.
23
Zum anderen verfügen weder die Mutter noch der Bruder der Antragstellerin über ein besonders gesichertes oder dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland (zur Einstellung auch der Gesichertheit des Aufenthaltsrechts in die erforderliche Gesamtabwägung: vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 34 AsylVfGNG Rn. 64). Beide besitzen eine Aufenthaltsgestattung iSd § 55 AsylG zur Durchführung des Asylverfahrens. Die Aufenthaltsgestattung für die Dauer des Asylverfahrens vermittelt für sich genommen jedoch keinen längerfristigen Belang des Familienschutzes (vgl. a.a.O. Rn. 64).
24
Das Gericht hat vor diesem Hintergrund keine ernstlichen Zweifel daran, dass es der Familie nicht zumutbar wäre, dass die Asylverfahren zeitlich keinen gemeinsamen Verlauf nehmen und die Familie für die restliche Dauer des Asylverfahrens kurzfristig getrennt wäre.
25
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylG.
26
Die Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.