Titel:
Kostenbescheid anlässlich einer Blockadeaktion der „Letzten Generation"
Normenketten:
GG Art. 8 Abs. 1
BayVersG Art. 15 Abs. 1, Abs. 4
VwGO § 58 Abs. 1
BayPAG Art. 11 Abs. 1, Art. 16, Art. 72 Abs. 1, Art. 75 Abs. 1, Art. 76
Leitsätze:
1. § 58 Abs. 1 VwGO verlangt grundsätzlich nicht die Angabe der vollständigen Anschrift – verpflichtend anzugeben ist nur das Gericht mit der postalischen Bezeichnung des Ortes, in dem die Stelle angesiedelt ist. Nimmt ein Beklagter aber überobligatorisch einen Hinweis zur Adresse auf, darf dieser nicht falsch oder irreführend sein. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Unfriedlich sind Versammlungen, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden. Dazu reicht aber für sich betrachtet nicht aus, dass es zu Behinderungen Dritter kommt, seien sie auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Die Verursachung von aus Sicht Unbeteiligter möglichenfalls belästigend empfundener, niederschwelliger Einschränkungen konstituieren keine Unfriedlichkeit – selbst wenn das zugrundeliegende Verhalten strafrechtlich relevant sein sollte. (Rn. 53) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Übrigen schließt auch die Tatsache der fehlenden Anmeldung als Versammlung nicht aus, dass die Zusammenkunft unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fällt. Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Versammlungsfreiheit umfasst die Selbstbestimmung über Art und Ort der Veranstaltung. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Versammlungsfreiheit vermittelt kein Recht, über alltägliche Belästigungen hinaus – wie das sich ungewollt dem Protest Dritter Ausgesetztsehen, aufgrund dessen man kurzzeitig anhalten oder der man ausweichen muss – in die Rechte Dritter einzugreifen. (Rn. 59) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenbescheid anlässlich einer Blockadeaktion der „Letzten, Generation“, Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts, Vollstreckung versammlungsrechtlicher Beschränkung, Lösen der Klebeverbindung und Wegtragen als jeweils selbstständige Maßnahmen, Rechtsmittel, Frist, Vollstreckungsvoraussetzungen, Ermessen, Billigkeitsklausel
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26723
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen einen Kostenbescheid des Beklagten.
2
Die Straßenkreuzung … ist einer der Verkehrsknotenpunkte … Sie führt zu einem nicht unbedeutenden Zugang zur … Altstadt; vor allem aber mündet sie in die …, einem der vielbefahrenen Wege stadtauswärts in Richtung des sog. … sowie der Stadt … Am … 2023 gegen … Uhr begab sich die Klägerin als Teil einer mehrköpfigen Gruppe an der genannten Kreuzung im Bereich der Lichtzeichenanlage auf Höhe des … auf die Fahrbahn. Die Gruppe wurde der „Letzten Generation“ zugerechnet. Die Klägerin und fünf weitere Personen setzten sich und klebten jeweils eine Hand mittels Sekundenklebers auf dem Asphalt fest; mind. zwei weitere Personen befanden sich auf der Straße, ohne sich festgeklebt zu haben. Eine Versammlungsanzeige war nicht erfolgt.
3
In der Folge kam der Verkehr auf allen sechs Fahrspuren in Fahrtrichtung Westen zum Erliegen. Es entstand nicht unerheblicher Rückstau. Im Bereich … musste der Verkehr auf dem … in westlicher Fahrtrichtung in die … abgeleitet werden. An der … musste der Verkehr in Richtung … abgeleitet werden. Im Bereich … leiteten die eingesetzten Polizeibeamten den Verkehr aus der … in die … ab. Weitere Beamte leiteten den Verkehr von der … in Richtung … ab.
4
Gegen 11:55 Uhr belehrte PHK+ … die Klägerin und die weiteren Festgeklebten in versammlungsrechtlicher Hinsicht; dabei merkte er an, dass ihnen eine Versammlungsfläche im Bereich des … zugewiesen worden sei. Zudem forderte er die Klägerin und die anderen an der Fahrbahn fixierten Personen auf, sich zu lösen und die Fahrbahn zu verlassen. Zugleich drohte er für den Fall der Zuwiderhandlung unmittelbaren Zwang in Form des Lösens des Klebers an, wobei er auf eine mögliche Kostenpflichtigkeit der Klägerin hinwies.
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Eine identische Belehrung führte der Beamte jeweils um 12:00 und um 12:05 Uhr durch.
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Die Klägerin und die weiteren festgeklebten Personen kamen dem nicht nach. Daher befragte PHK … die Klägerin gegen 12:05 Uhr, ob ein Rettungsdienst hinzugezogen werden solle. Als sie dies verneint hatte, lösten POM [heute PHM] … und PM … die festgeklebte linke Hand der Klägerin unter Gebrauch von „Tork Liquid Soap“ von der Fahrbahn. Unter Berücksichtigung entsprechender Einwirkungszeit war die Hand gegen 12:30 Uhr gelöst.
7
Sodann belehrten PM … und PHM … die Klägerin, dass sie die Fahrbahn verlassen und für den Fall des Zuwiderhandelns unmittelbarer Zwang angewendet werden müsse. Sie merkten an, dass in diesem Fall Kosten erhoben werden würden. Da sich die Klägerin aber weigerte die Fahrbahn zu verlassen, trugen sie die Beamten von der Straße.
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Gegen 12:35 Uhr gaben die Polizeibeamten den Verkehr wieder frei.
9
Unter dem 1. August 2023 hörte der Beklagte die Klägerin dazu an, dass er für die am 3. Juli 2023 vorgenommenen Amtshandlungen Kosten von 160,00 EUR zu erheben gedenke.
10
Die Klägerin äußerte sich nicht.
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Mit Bescheid vom 21. August 2023 – Aufgabe des einfachen Briefs bei der Post am 23. August 2023 – stellte der Beklagte der Klägerin aufgrund der Ereignisse bzw. des Einsatzes vom 3. Juli 2023 insgesamt einen Betrag von 160,00 EUR in Rechnung. Zur Begründung erklärte er, er habe ihr gegenüber damals unmittelbaren Zwang in Form des Lösens ihrer Hand von der Fahrbahn ausüben müssen (Gebühr: 80,00 EUR). Daneben habe er unmittelbaren Zwang in Form des Wegtragens von der Fahrbahn ausüben müssen (Gebühr ebenfalls 80,00 EUR). Als Rechtsgrundlage nannte er jeweils Art. 75 Abs. 3, 93 PAG, §§ 1 Nr. 8, 2 PolKV und Art. 10 Abs. 1 Nr. 5 KostG). In der Rechtsbehelfsbelehrung des Bescheides heißt es dabei u.a.: „Gegen diesen Bescheid kann innerhalb eines Monats nach seiner Bekanntgabe Klage erhoben werden bei dem […] Verwaltungsgericht Ansbach] Postanschrift: Postfach 616, 9... A., Hausanschrift: Promenade 24-28, 9... A.“.
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Dagegen hat die Klägerin unter dem 21. September 2023 Klage erhoben; ihre Klage ging beim Verwaltungsgericht (VG) Ansbach am 27. September 2023 ein.
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Die Klägerin hat bis zuletzt:
Keinen expliziten Antrag gestellt.
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Der Beklagte beantragt zuletzt,
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Zur Begründung verweist er auf die Gründe seiner angegriffenen Verwaltungsentscheidung. Ergänzend trägt er insb. vor, er habe seines Erachtens zum Ablösen der Klägerin von der Fahrbahn rechtmäßig unmittelbaren Zwang ausgeübt. Der Verwaltungszwang sei im gestuften Verfahren nach Art. 70 Abs. 1 PAG erfolgt. Vorausgegangen sei eine atypische Maßnahme (Art. 11 Abs. 1 PAG) mit der Regelung, dass sich die Klägerin selbst von der Straße lösen solle. Seines Erachtens sei irrelevant, ob die Primärmaßnahme rechtmäßig gewesen sei. Sie sei jedenfalls wirksam und sofort vollziehbar gewesen. Zudem sei sie unaufschiebbar gewesen.
16
Das Ablösen von der Fahrbahn sei unmittelbarer Zwang i.S.d. Art. 75 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1, 2 und 3 PAG. Die Hand sei mittels Mullbinde und Seife durch eine „Hin- und Her-Bewegung“ ähnlich dem Einsatz von Zahnseide von der Fahrbahn gelöst worden. Insofern hätten physische Kräfte auf den Körper der Klägerin gewirkt.
17
Die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts habe dem unmittelbaren Zwang seines Erachtens nicht entgegengestanden; gesperrt seien nur Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen, nicht aber Vollstreckungshandlungen.
18
Er habe nach seiner Ansicht verhältnismäßig gehandelt, Art. 4 Abs. 1 PAG. Andere Zwangsmittel wären weniger effektiv gewesen; die Sache sei eilbedürftig gewesen.
19
Der unmittelbare Zwang sei ordnungsgemäß iSv. Art. 81 Abs. 1 S. 1 PAG angedroht worden.
20
Der Einsatz von Seifenlauge und Mullbinden sei zur Lösung der Hand geeignet gewesen. Mildere, gleich effektive Mittel hätten nicht zur Verfügung gestanden. Er sei nach einem Stufenkonzept vorgegangen. Zunächst ordne er gegenüber Protestierenden wie der Klägerin an, sich selbst von der Straße zu lösen – nach seiner Erfahrung führten vergleichbare Personen stets Lösungsmittel mit sich. Auf der nächsten Stufe erfolge wie hier der Einsatz von Seife oder auch Speiseöl sowie Mullbinden. Chemische Lösungsmittel oder Werkzeuge wie Winkelschleifer („Flex“) würden nur als ultima ratio verwendet. Der unmittelbare Zwang sei angemessen gewesen. Er habe die körperliche Unversehrtheit der Klägerin marginal berührt; Verletzungen der Hand der Klägerin seien nicht feststellbar gewesen.
21
Ferner sei das Wegtragen der Klägerin von der Fahrbahn als unmittelbarer Zwang rechtmäßig gewesen, Art. 70 Abs. 1, Art. 71 Abs. 1 Nr. 3, Art. 75 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 und 2 PAG. Dem Wegtragen sei ein Platzverweis nach Art. 16 Abs. 1 PAG vorausgegangen. Die Primärmaßnahme sei wirksam und nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VwGO sofort vollziehbar gewesen.
22
Die allgemeinen und die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen hätten vorgelegen. Die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwangs sei verhältnismäßig gewesen. Insb. hätten den Polizeibeamten keine milderen, gleich effektiven Mittel zur Verfügung gestanden.
23
Der Kostenansatz zu beiden Amtshandlungen sei seines Erachtens rechtmäßig: Die festgesetzte Gebühr für die Anwendung unmittelbaren Zwangs nach Art. 75 Abs. 3, Art. 93 PAG, § 1 Nr. 8, § 2 PolKV iVm. Art. 10 Abs. 1 Nr. 1, 5 KG sei korrekt. Gebühren bemäßen sich nach der PolKV, Art. 93 Satz 4 PAG. Zum Zweck einheitlicher Verwaltungspraxis greife er zudem auf die KR-Pol bzw. die Anlage zur KR-Pol zurück. Gemäß § 1 Nr. 8 PolKV betrage der Gebührenrahmen für die Anwendung unmittelbaren Zwangs 36 bis 1.500 EUR. Die Regelgebühr für die Anwendung unmittelbaren Zwangs durch geschlossene Einheiten betrage nach Ziff. 2.1.4.1 KR-Pol i.V.m. Ziff. 50.2 der Anlage zur KR-Pol (Stand 01.10.2021) 80,00 EUR. Dies liege im unteren Bereich des Rahmens aus § 1 Nr. 8 PolKV. Außerdem sei die Klägerin richtige Kostenschuldnerin, Art. 7 Abs. 1 PAG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 KG. Zuletzt sei seines Erachtens nichts ersichtlich, was i.S.v. Art. 93 Satz 5 PAG der Kostentragungspflicht entgegenstehe.
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In der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2024 hat die Kammer mit den anwesenden Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert; die anwesenden Beteiligten hat sie ergänzend befragt.
25
Im Übrigen wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Sie alle sind Grundlage der richterlichen Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig.
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1. Sie war dem klägerischen (Kassations-)Begehren (§ 88 VwGO) entsprechend als statthafte Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO) auszulegen. Es geht der Klägerin um die Aufhebung der Kostenrechnung als Leistungsbescheid iSv. Art. 23 Abs. 1 VwZVG vom 21. August 2023.
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2. Die Klägerin hat ihre Klage auch fristgerecht erhoben.
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Ausgehend von einer Bekanntgabe am 26. August 2023 hat die Klägerin die hier maßgebliche Jahresfrist gewahrt.
30
Die Kostenrechnung wurde am 23. August 2023 mit einfachem Brief an die Klägerin gesendet. Mithin galt der Bescheid gemäß Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG am 26. August 2023 als bekannt gegeben; Anhaltspunkte für einen späteren Zugang bestehen nicht (Art. 41 Abs. 2 Satz 3 BayVwVfG). Somit war die Jahresfrist zur Zeit der Klageerhebung vom 27. September 2023 nicht verstrichen (§§ 57 Abs. 2 VwGO iVm. 187ff BGB).
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Dabei war die genannte Jahresfrist ausnahmsweise auch maßgeblich: Zwar ist die Anfechtungsklage nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO generell innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des betreffenden Verwaltungsakts zu erheben (wobei diese Frist zur Zeit des Klageeingangs abgelaufen gewesen wäre, §§ 57 Abs. 2 VwGO iVm. 222 Abs. 1 ZPO iVm. 187ff BGB). Dies gilt nach § 58 Abs. 2 VwGO aber nicht, wenn die Rechtsbehelfsbelehrungunrichtig erteilt worden ist. Unrichtig ist die Belehrung u.a., wenn sie irreführende Zusätze enthält, die generell geeignet sind, beim Betroffenen einen Irrtum über die Voraussetzungen des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs hervorzurufen und ihn dadurch abhalten können, den Rechtsbehelf rechtzeitig einzulegen (stRspr BVerwG, vgl. nur B.v. 31.8.2015 – 2 B 61/14 = NVwZ 2015, 1699 (Rn. 8)). Dies gilt ungeachtet dessen, ob der jeweilige Hinweis rechtlich betrachtet überhaupt erforderlich ist. Es führt auch zur Unrichtigkeit, wenn eine Behörde in die Rechtbehelfsbelehrung nicht verpflichtende, sich aber als irreführend oder falsch erweisende Hinweise aufnimmt (statt aller: Schoch/Schneider/Meissner/Schenk, 45. EL Januar 2024, VwGO § 58 Rn. 44, 59, 61).
32
So liegt die Sache hier: Vorliegend merkte die Rechtbehelfsbelehrung der angegriffenen Kostenrechnung u.a. an, gegen den Bescheid könne Klage beim VG Ansbach erhoben werden, wobei als Postanschrift „Postfach 616, 9... A.“ genannt war. De facto war dieses frühere Postfach des Verwaltungsgerichts bereits zum 31. Mai 2023 gekündigt worden. Folglich stellt die Rechtbehelfsbelehrung die Erhebung der Klage bei einer nicht existenten Postanschrift anheim. Sie setzte damit eine Ursache für die verfristete Klageerhebung. Immerhin führt die mit der Kündigung des Postfachs beauftragte Weiterleitung von an das Postfach adressierten Schreiben denknotwendig zur Verlängerung der regulären Postlaufzeit.
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Dabei ist nach dem Vorstehenden nicht relevant, dass § 58 Abs. 1 VwGO die Angabe der vollständigen Anschrift grundsätzlich gar nicht verlangt – verpflichtend anzugeben war nur das Gericht mit der postalischen Bezeichnung des Ortes, in dem die Stelle angesiedelt ist (OVG Koblenz, B.v. 12.6.2019 – 8 A 11392/18 = NVwZ-RR 2020, 91 (92; Rn. 7) m.w.N.; BeckOK VwGO/Kimmel, 69. Ed. 1.1.2024, VwGO § 58 Rn. 15). Nimmt ein Beklagter wie hier überobligatorisch einen Hinweis zur Adresse auf, darf dieser nicht falsch oder irreführend sein.
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Schließlich ist nicht zu entscheiden, ob eine fehlerhafte Belehrung zuweilen nicht zur Geltung der Jahresfrist führt. Letzteres könnte erwogen werden, wenn sich ein Fehler nachweislich nicht auf die Einhaltung der Klagefrist hat auswirken können. Hier ist dies aber nicht der Fall: Die Klägerin hat ihre Klage nicht an die ebenfalls in der Rechtsbehelfsbelehrunggenannte korrekte Anschrift, sondern das zur Zeit der Klageerhebung nicht mehr existente Postfach adressiert. Insofern liegt eine Kausalbeziehung vor; bei einer richtigen Rechtsbehelfsbelehrungwäre die Klage jedenfalls nicht ausschließbar in der Regelfrist von einem Monat eingegangen.
35
Die Klage erweist sich aber als unbegründet. Der angegriffene Kostenbescheid vom 21. August 2023 erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt als rechtmäßig. Er verletzt die Klägerin folglich nicht in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
36
Dies hat die Beklagte in der angegriffenen Verwaltungsentscheidung vom 21. August 2023 rechtlich einwandfrei ausgeführt. Deshalb folgt das Gericht der Begründung des genannten Bescheides und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen nach § 117 Abs. 5 VwGO von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.
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Ergänzend ist das Folgende auszuführen.
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1. Maßgeblicher Zeitpunkt im oben genannten Sinn ist abweichend vom die Anfechtungsklage betreffenden Regelfall nicht der der letzten Behördenentscheidung, sondern die Sach- und Rechtslage bei Entstehung der Kostenschuld.
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Welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebend ist, beantwortet nicht das Prozessrecht (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sondern das einschlägige materielle Recht (vgl. BVerwG, NVwZ 2017, 485 Rn. 12 und NVwZ 1991, 360 = NJW 1991, 2584 Ls.; VGH Mannheim U.v. 3.5.2021 – 1 S 512/19).
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Derartiges gilt für das Gebührenrecht. Da dessen Regelungen sicherstellen sollen, dass die mit der Vornahme einer Amtshandlung verbundenen Kosten für den Kostenschuldner vorhersehbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.10.2016 – 7 C 6.15 – NVwZ 2017, 485), ist bei der Anfechtung von Bescheiden über die Heranziehung zu Kosten (Gebühren und Auslagen) maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entstehung der Kostenschuld abzustellen (VGH Mannheim Urt. v. 3.5.2021 – 1 S 512/19, BeckRS 2021, 11956 Rn. 20, beck-online m.w.N.).
41
Nach Art. 11 Satz 1 KostG (Kostengesetz (KG) vom 20. Februar 1998 (GVBl. S. 43, BayRS 2013-1-1-F), zuletzt geändert durch Art. 10 des Gesetzes vom 21. April 2023 (GVBl. S. 128)) entsteht der Kostenanspruch generell mit der Beendigung der kostenpflichtigen Amtshandlung.
42
Entscheidend ist vorliegend insofern die Sach- und Rechtslage am Tag der Durchführung der polizeilichen Maßnahmen.
43
2. Die Regelungen des Kostenbescheides basieren auf Art. 72 Abs. 1 Satz 2 (Lösen der Hand), 75 Abs. 3 Satz 1 (Wegtragen), 93 Satz 1 PAG, § 1 Nr. 8, 2 PolKV, Art. 10 Abs. 1 Nr. 1, 5 KG.
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3. Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des Kostenbescheides bestehen nicht. Insbesondere hat der Beklagte die Klägerin unter dem 1. August 2023 zur in Aussicht genommenen Kostenerhebung angehört (Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG).
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4. Der angegriffene Bescheid ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
46
Der Beklagte erhebt in rechtmäßiger Weise jeweils einen Betrag von 80,00 EUR für das Lösen der Hand der Klägerin von der Fahrbahn sowie das Wegtragen.
47
a) Zwar kommt es nach Ansicht der Kammer entgegen dem Beklagten auf die Rechtmäßigkeit der Primärmaßnahmen an. Nach zutreffender Ansicht gilt jedenfalls auf der tertiären Ebene des Kostenersatzes anders als auf der sekundären Ebene zwangsweiser Durchsetzung von Maßnahmen der Gefahrenabwehr der sog. Konnexitätsgrundsatz. Nach Art. 16 Abs. 5 KostG werden solche Kosten nicht erhoben, die bei richtiger Sachbehandlung nicht entstanden wären. In Rechnung gestellt werden können nur Kosten für rechtmäßige Amtshandlungen (Schmidbauer/Steiner/Schmidbauer, 6. Aufl. 2023, PAG Art. 93 Rn. 28). Nach der jedenfalls in Bayern herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung impliziert dies nicht nur die Rechtmäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme (sekundäre Ebene), sondern auch die Rechtmäßigkeit des vollstreckten (primären oder Grund-) Verwaltungsakts (BHKM BayÖffR, 3. Teil. Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht Rn. 233, 423ff, beck-online; BayVGH, U.v. 17.4.2008 – 10 B 07.219 (Ls. 2) sowie B.v. 28.6.2019 – 10 C 18.375 – juris Rn. 6; mit Blick auf das Berliner Recht: VG Berlin, B.v. 21.9.2023 – VG 1 L 263/23 = BeckRS 2023, 26287 Rn. 13; a.A. wohl – freilich nicht zum bayerischen Landesrecht: BVerwG B.v. 25.11.2021 – 6 B 7.21 = BeckRS 2021, 412011 Rn. 12). Im Übrigen konterkariert eine andere Betrachtung die Wertung das Ordnungswidrigkeitenrecht betreffender Rechtsprechung: Die Weigerung, sich unverzüglich aus einer aufgelösten Versammlung zu entfernen, kann danach nur mit Geldbuße bewehrt werden, wenn die Auflösung rechtmäßig war (BVerfG, B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 = NVwZ 2007,1180 (1181).
48
Indes sind die polizeilichen Maßnahmen „Lösen der Hand“ und „Wegtragen“ rechtmäßig erfolgt.
49
b) Wie der Beklagte jedenfalls im Ergebnis zutreffend meint, sperrt die Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts hier nicht den Rückgriff auf die Befugnisse aus dem Polizeiaufgabengesetz. Die eingesetzten Polizeibeamten konnten auf Basis des PAG tätig werden.
50
Für die Kammer folgt das gleichberechtigt aus mehreren Aspekten.
51
(aa) Zwar darf der Klägerin, den weiteren fünf Festgeklebten sowie den weiteren an der Aktion vom … 2023 in … teilhabenden Mitgliedern der Gruppe Letzte Generation wohl zugestanden werden, dass sie damit kollektiv Kritik an den Verhältnissen üben wollten – insb. an als unzureichend empfundenen Maßnahmen staatlicher Entscheidungsträger im Bereich der Umweltpolitik. Angesichts dieser beabsichtigten Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (Art. 2 Abs. 1 BayVersG) wird man der Zusammenkunft zum Zweck des Protests auf Höhe des … die Qualifizierung als Versammlung iSv. Art. 8 Abs. 1 GG schwerlich absprechen können (allg. dazu, inwieweit der Schutzbereich von Art. 8 GG Sitzblockaden umfasst: BVerfG, B.v. 7.3.2011 – 1 BvR 388/05 – juris Rn. 35; a.A.: Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 103. EL Januar 2024, GG Art. 8 Rn. 68; zum Meinungsstand im Kontext des § 240 StGB: Huber/Voßkuhle in Huber/Voßkuhle/Gusy, 8. Aufl. 2024, GG Art. 8 Rn. 79ff).
52
Das Treffen verliert den Schutz des Art. 8 GG auch nicht wegen kollektiver Unfriedlichkeit.
53
Unfriedlich sind Versammlungen, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden. Dazu reicht aber für sich betrachtet nicht aus, dass es zu Behinderungen Dritter kommt, seien sie auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen (vgl. u.a. BVerfG, U.v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83 u. a = BVerfGE 73, 206 [248] = NJW 1987, 43 (47); BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. = NJW 2002, 1031; a.A. wohl VG Gießen, U.v. 4.3.2022 – 4 K 2855/21 – juris Rn. 78ff mit Verweis auf die einer Blockade bzw. Abseilaktion innewohnende Gefährlichkeit; in diese Richtung wohl auch: Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 103. EL Januar 2024, GG Art. 8 Rn. 68, beck-online). Die Verursachung von aus Sicht Unbeteiligter möglichenfalls belästigend empfundener, niederschwelliger Einschränkungen konstituieren keine Unfriedlichkeit – selbst wenn das zugrundeliegende Verhalten strafrechtlich relevant sein sollte.
54
Im Übrigen schließt auch die Tatsache der fehlenden Anmeldung als Versammlung nicht aus, dass die Zusammenkunft unter den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG fällt (BayVGH, B.v. 13.9.2023 – 10 CS 23.1650 – juris Rn. 41; BVerfGE 69, 315 [351] = NJW 1985, 2395; BVerfG, B.v. 26.10.2004 – 1 BvR 1726/01 = NJW 2005, 353 Ls.3; B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 = NVwZ 2007,1180 (Ls. 1). Er endet mit der rechtmäßigen Auflösung der Versammlung (BVerfG, U.v. 11.11.1986 -1 BvR 713/83 u.a. = NJW 1987, 43 (47)).
55
Die Schutzbereichseröffnung wird auch nicht mit dem Argument verneint werden können, dass die Gruppe um die Klägerin selbsthilfeähnlich Forderungen habe durchsetzen wollen. Zwar schützt Art. 8 Abs. 1 GG tatsächlich nicht die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 –, BVerfGE 104, 92-126, juris Rn. 44; U.v. 11.11.1986 – 1 BvR 713/83 –, BVerfGE 73, 206-261, juris Rn. 89). Die Ausnahme greift aber nur, sofern die Protestierenden eine konkrete Forderung vor Ort durchsetzen wollten (BVerfG, B.v. 24.10.2001 – 1 BvR 1190/90 –, BVerfGE 104, 92-126, juris Rn. 44; B.v. 7. 3. 2011 − 1 BvR 388/05 –, BVerfGK 18, 365-377, juris Rn. 35). In dieser Konstellation tritt der Aspekt beabsichtigter Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung in den Hinter- und das „erpresserische“ Element respektive die Verfolgung eigennütziger Ziele in den Vordergrund.
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Im Fall der Aktion vom … 2023 ist diese Ausnahme aber nicht erfüllt. Zwar hat die letzte Generation mehrere umweltpolitische Einzelziele proklamiert – u.a. die Forderung nach der Errichtung eines sog. Gesellschaftsrates (https://letztegeneration.org/gesellschaftsrat/; abgerufen am 13. August 2024) sowie Unterzeichnung eines Fossil Fuel Treaty (https://letztegeneration.org/der-elefant-im-raum/; abgerufen am 13. August 2024). Allerdings handelt es sich dabei schon nicht um ganz konkrete den Straßenverkehr betreffende Forderungen – erst Recht nicht solche, die in spezifischen örtlichen … Gegebenheiten wurzeln. Die Blockadeaktion diente ganz allgemein der Schaffung von Aufmerksamkeit.
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(bb) Indes neigt die Kammer dazu, schon auf Schutzbereichs-Ebene zu berücksichtigen, dass dieser keine bewusste Schädigung Dritter umfassen kann. Zwar deckt die Versammlungsfreiheit Behinderungen und Belästigungen Dritter, die sich typischerweise aus der Durchführung der Versammlung ergeben und ohne Nachteile für den Versammlungszweck faktisch unvermeidbar sind. So ist etwa einer Protestaktion anlässlich einer innerstädtischen Baumaßnahme immanent, dass sie einen örtlichen Bezug zur Maßnahme aufweisen soll und dass damit angesichts der Lage denknotwendig nicht wenige (unbeteiligte) Dritte betroffen sein werden.
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Vorliegend handelt es sich aber nicht um den „Normalfall“, in dem die praktische Konkordanz gebietet, die allgemeine Handlungsfreiheit der übrigen Verkehrsteilnehmer zurücktreten zu lassen – so dass sie etwa einen Demonstrationszug passieren lassen oder ihm ausweichen müssen. Es geht nicht darum, dass die Grundrechte der Nicht-Versammlungsteilnehmer – zu deren Sicherung versammlungsrechtliche Auflagen möglich sind – nur ausnahmsweise der Versammlungsfreiheit vorgehen. Denn es gilt das Gebot des „neminem laedere“: Freilich umfasst die Versammlungsfreiheit die Selbstbestimmung über Art und Ort der Veranstaltung (BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 = NJW 1985, 2395 (2396)). Sie impliziert ein Recht zur Mitbenutzung der im Allgemeingebrauch stehenden Straße. Demnach überschreitet es nicht schon den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG, wenn die Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit – wie regelmäßig und kaum vermeidbar – mit gewissen nötigenden Wirkungen in Form von Behinderungen einhergeht.
59
Indes rechtfertigt Art. 8 GG solche Behinderungen und Zwangswirkungen nur, wenn sie sozial-adäquate Nebenfolge rechtmäßiger Demonstrationen sind und sich auch nicht mittels zumutbarer Auflagen vermeiden lassen. Anders liegt der Fall, wenn die Behinderung Dritter nicht nur als Nebenfolge in Kauf genommen, sondern beabsichtigt wird, um die Aufmerksamkeit für das Demonstrationsanliegen zu erhöhen. Die Versammlungsfreiheit vermittelt kein Recht, über alltägliche Belästigungen hinaus – wie das sich ungewollt dem Protest Dritter Ausgesetztsehen, aufgrund dessen man kurzzeitig anhalten oder der man ausweichen muss – in die Rechte Dritter einzugreifen (Dürig/Herzog/Scholz/Depenheuer, 103. EL Januar 2024, GG Art. 8 Rn. 62; in diese Richtung: BGH, U.v. 8.8.1969 – 2 StR 171/69 = NJW 1969, 1770 (1773), beck-online; Rulinski in SächsVBl. 2024, 37; Naumann berichtet in BayVBl 2024, 373 (374), dass Prof. Sch. (Universität W.) Klimaproteste wie den hier behandelten nicht mehr als geschützte Versammlung betrachte, wenn sie Dritte zwangsweise als Instrument der eigenen Zielverfolgung „benutzten“; Dritte würden durch das Meinungsoktroi der Demonstranten zum Objekt gemacht).
60
Vorliegend bildet die Beeinträchtigung der Grundrechte der Nicht-Versammlungsteilnehmer nicht nur eine Nebenfolge der Versammlung. Es ging der Gruppierung um die Klägerin nachgerade darum, über das Blockieren Unbeteiligter Aufmerksamkeit zu erlangen. In Rede steht nicht eine hinzunehmende punktuelle Beschränkung der Rechte Dritter. Vielmehr hat die Protest-Gruppe gezielt eine stark-frequentierte Straße in … gewählt (vgl. dazu: Verkehrszählung der Stadt … 2023, https://www. …de/imperia/md/verkehrsplanung/dokumente/bericht_entwicklung_gesamtverkehr_2023_reduziert.pdf) und Dritte durch die Blockadeaktion bewusst für einen nicht unerheblichen Zeitraum an der Ausübung ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Rechte gehindert – u.a. der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Um ihren vor allem an die Politik gerichteten Forderungen Nachdruck zu verleihen, hinderten sie die dritten Personen – solche die regelmäßig nicht politische Verantwortungsträger, mithin keine Adressaten der Forderungen sind – an der Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Rechte; dies erfolgte ungeachtet dessen, ob die Dritten an der Versammlung teilnehmen mochten sowie dessen, ob sie deren Ziele und/oder die Mittel durch Durchsetzung derselben teilen. Es ist aber zweifelhaft, ob das Recht sich zu versammeln impliziert, Dritte ungefragt und für mehr als nur unerhebliche Zeiträume für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Dies zumal die hiesige Aktion auch nicht der „klassischen Sitzblockade“ (Blockade von Castor-Transporten, Zufahrtsstraßen zu militärischen Einrichtungen oder zum Gelände der Baustelle umweltpolitisch kritisierter Einrichtungen) entspricht, die von Protestierenden in der Nähe einer den Kern des Protestes bildenden Einrichtung abgehalten wird und die demzufolge auf die Nähe zur Einrichtung angewiesen ist und bei der die Betroffenheit neutraler Dritte eher notwendige Konsequenz, denn erstes Ziel der Aktion ist.
61
(cc) Selbst wenn man das Verhalten der Klägerin aber vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst halten möchte, steht der Grundsatz der Polizeifestigkeit nicht entgegen.
62
Gewiss ist zu berücksichtigen, dass das Versammlungsgesetz mit seinen spezifischen Tatbestandsmerkmalen der Bedeutung des Art. 8 GG für die demokratische Meinungsäußerung besonders Rechnung trägt (Fischer-Uebler/Gölzer in JA 2020, 683, beck-online). Daher ist das Versammlungsrecht tatsächlich im Grundsatz polizeifest. Das Versammlungsgesetz entfaltet gegenüber dem allgemeinen Polizeirecht grundsätzlich eine Sperrwirkung. Nach allgemeinem Polizeirecht erlassene Maßnahmen, die – wie ein Platzverweis – die Teilnahme an einer Versammlung beenden, sind rechtswidrig, solange die Versammlung nicht aufgelöst worden ist (BVerfG, B.v. 26.10.2004 -1 BvR 1726/01 = NVwZ 2005,80 (Ls. 5)); B.v. 30.4.2007 – 1 BvR 1090/06 = NVwZ 2007, 1180 (1182)). Es gilt zu vermeiden, dass etwa grundrechtsdienend streng auszulegende Tatbestandsmerkmale durch den Rückgriff auf allgemeine polizeirechtliche Befugnistatbestände umgangen werden.
63
Zwar argumentiert der Beklagte mindestens widersprüchlich: Er meint im Ausgangspunkt zutreffend, die Polizeifestigkeit sperre „Maßnahmen der Gefahrenabwehr“ nicht aber Vollstreckungshandlungen. Zugleich will er als Primärmaßnahmen für das Lösen der Hand eine atypische Maßnahme iSd. Art. 11 Abs. 1 PAG und für das Wegtragen einen Platzverweis (Art. 16 PAG) erkennen – Maßnahmen der Gefahrenabwehr, die nach seinem Vortrag gesperrt wären. Richtig ist aber seine Grundannahme: Die Anwendung des allgemeinen Polizeirechts ist nicht unumstößlich ausgeschlossen. Ein Rückgriff kommt in diversen Konstellationen in Betracht, ohne dass es eine Begrenzung auf bestimmte Fallgruppen gäbe (BVerwG, U.v. 27.3.2024 – 6 C 1/22 – juris Rn. 32-34). Die Polizeifestigkeit gilt nicht so absolut, dass in die Versammlungsfreiheit nur auf Basis des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden könnte. Letzteres enthält keine abschließende Regelung für die Abwehr sämtlicher Gefahren, die im Kontext von Versammlungen auftreten können. Möglich ist der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht jedenfalls, wenn das Versammlungsrecht keine spezifischen Befugnisse enthält. Möglich ist es u.a. auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassene Verfügungen auf Basis des PAG zu vollstrecken (BVerwG, B.v. 3.5.2019 – 6 B 149.18 – juris Rn. 9).
64
(aa) Nach Auffassung der Kammer hat der Beklagte in persona des PHK+ … gegenüber der Klägerin und den weiteren Mitgliedern der Gruppierung „Letzte Generation“ eine Versammlungsbeschränkung i.S.v. Art. 15 Abs. 1 Var. 1, Abs. 4 BayVersG ausgesprochen, indem er ihnen eine nahegelegene Versammlungsfläche abseits der Fahrbahn zuwies.
65
Die Versammlungsfreiheit ist nicht schrankenlos gewährleistet, Art. 8 Abs. 2 GG. Insb. ermöglicht es das Bayerische Versammlungsgesetz unter engen Voraussetzungen, Versammlungen zu beschränken. Nach dessen Art. 15 Abs. 1, Abs. 4 kann die zuständige Behörde eine unter freiem Himmel stattfindende Versammlung nach deren Beginn insb. beschränken, wenn nach den zur Zeit des Ausspruchs der Beschränkung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.
66
Eine unmittelbare Gefahr idS. ist gegeben, wenn eine auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhende Prognose bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Gefahreneintritts ergibt (BVerfG, B.v. 4.9.2009 – 1 BvR 2147/09 – juris Rn. 9). Die Unmittelbarkeit in diesem Sinn stellt besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts, mithin strengere Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad. Ein zum Eingriff berechtigender Sachverhalt liegt erst vor, wenn der Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit, das heißt „fast mit Gewissheit“ zu erwarten ist (BVerwG, U.v. 25.6.2008 – 6 C 21.07, BeckRS 2008, 38433 (Tz. 14), beck-online). Dabei bedarf es einer konkreten Sachlage, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (VG Bayreuth, B.v. 13.2. 2020 – B 7 S 20.142 – juris Rn. 27). Das Kriterium der Unmittelbarkeit engt die Eingriffsvoraussetzungen stärker ein als im allgemeinen Polizeirecht. Es bedarf stets einer Gefahrenprognose im konkreten Fall. Zwar ist einer Prognose wesensimmanent, ein Wahrscheinlichkeitsurteil zu enthalten. Allerdings können und müssen ihre Grundlagen ausgewiesen werden. In diesem Sinn verlangt Art. 15 Abs. 1 BayVersG, dass die Annahme der Gefahr auf „erkennbaren Umständen“ beruhen muss – auf Tatsachen, Sachverhalten und sonstigen Einzelheiten; ein bloßer Verdacht reicht nicht (BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 = NJW 1985, 2395 (2398).
67
Der Begriff der öffentlichen Sicherheit aus Art. 15 Abs. 1 BayVersG entspricht dem der polizeirespektive sicherheitsrechtlichen Generalklauseln (VGH München, U.v. 22.9.2015 -10 B 14.2246 = NVwZ-RR 2016, 498 Rn. 53; BVerfG, B.v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 = NJW 1985, 2395 (2398); Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, 2. Aufl. 2022, VersammlG § 15 Rn. 40). Er umfasst die Unverletzlichkeit der subjektiven Rechte und Rechtsgüter Einzelner, des Bestandes der Einrichtungen und der Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt sowie der Rechtsordnung, zu der neben Strafgesetzen auch verwaltungsrechtliche Ge- und Verbotsnormen gehören (VGH München, aaO; BVerwG U. v. 25.6.2008 – 6 C 21.07, BeckRS 2008, 38433 Rn. 13, beck-online). Eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit wird in der Regel angenommen, wenn eine strafbare Verletzung dieser Schutzgüter droht (BeckOK PolR Bayern/M. Müller, 24. Ed. 1.3.2024, BayVersG Art. 15 Rn. 11 m.w.N.).
68
Die Beschränkung i.S.v. Art. 15 Abs. 1, Abs. 4 BayVersG wiederum meint jede unterhalb eines Verbots bzw. der Auflösung einer Versammlung liegende Maßnahme. Mittels einer Beschränkung wird nicht das „Ob“, sondern das „Wie“ der Versammlung geregelt. Ein Bespiel einer Beschränkung ist etwa die Verlegung des Versammlungsortes (Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, 2. Aufl. 2022, VersammlG § 15 Rn. 100; zur Frage, wann eine Verlegung einem Verbot gleichkommt: Dürig-Friedl/Enders/Dürig-Friedl, a.a.O; § 15 Rn. 100).
69
Ab Versammlungsbeginn ist dabei die Polizei i.S.d. Art. 1 PAG für den Ausspruch etwaiger Beschränkungen zuständig (vgl. Art. 24 Abs. 1, 2 Satz 2 BayVersG).
70
Vorliegend haben die Klägerin und die weiteren Mitglieder ihrer Gruppe am … 2023 eine der Hauptverkehrsadern der … Innenstadt blockiert (vgl. S. 13). In der Folge kam der Verkehr zum Erliegen. Nur durch erheblichen verkehrspolizeilichen Aufwand konnte ein gänzlicher „Verkehrskollaps“ ebenso vermieden werden wie daraus resultierende Schadensereignisse.
71
Es liegt für die Kammer nicht fern, dass das klägerische Verhalten den Straftatbestand der Nötigung verwirklicht hat (zur Frage möglicher Rechtfertigung vgl. auch S. 26). Schon unter diesem Blickwinkel dürfte sich am … 2023 eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit realisiert haben: Nach der höchstrichterlich gebilligten „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ bilden die von einer Blockade zuerst gestoppten Fahrzeuge für die Fahrzeuge in der zweiten Reihe ein physisches Hindernis (BGH NJW 1995, 2643 (2644)). Es handelt sich um eine mittelbare Täterschaft durch zurechenbare Gewaltanwendung des ersten gegenüber den nachfolgenden Fahrzeugführern (BGH, U.v. 20.7.1995 – 1 StR 126/95 = BGH NJW 1995, 2643 (2644)). Das Bundesverfassungsgericht hat dies bestätigt (BVerfG, B.v. 7.3.2011 − 1 BvR 388/05 = NJW 2011, 3020 (Ls. 1/Rn. 28ff). In der folgenden Verwerflichkeitsprüfung aus § 240 Abs. 2 StGB sind die Versammlungsfreiheit sowie Art und Maß der Auswirkungen auf die betroffenen Dritte und deren Grundrechte gegeneinander abzuwägen. Einzustellen sind die Dauer und die Intensität der Blockade, deren vorherige Bekanntgabe, Ausweichmöglichkeiten und die Dringlichkeit des blockierten Transports; zu berücksichtigen ist auch, ob die Blockade und der Versammlungsgegenstand sachlich zusammenhängen (BVerfGE 104, 92 (112); BVerfG NJW 2011, 3020 Rn. 39; in diese Richtung: BayVGH, B.v. 13.9.2023 – 10 CS 23.1650 – juris Rn. 37ff = NJW 2024, 1761).
72
Vorliegend ist zu bedenken, dass der Bereich um den … nicht nur für den Rettungsverkehr große Bedeutung hat. Zudem haben die Klägerin und die weiteren Demonstrierenden wohl bewusst für die Mittagszeit entschieden, mithin nicht einen weit weniger störungsintensiven Zeitpunkt. Sie hatten keine Versammlung angemeldet, weshalb die zuständigen Behörden nicht im Vorfeld vorbeugende (Verkehrs-)Maßnahmen treffen konnten. Zuletzt war die Gruppe der Klägerin allenfalls zur Steigerung der mit der Aktion generierten Aufmerksamkeit auf die Kreuzung am … angewiesen. Die „Letzte Generation“ verfolgt keine spezifisch auf die gewählte … Lokalität bezogene konkreten Ziele; überhaupt hängen ihre generellen Zielsetzungen allenfalls mittelbar mit dem Straßenverkehr zusammen.
73
Jedenfalls realisierte sich durch das Verhalten der Klägerin und der weiteren Blockierenden eine Gefahr für die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) all der Personen, denen die Aktion für mehr als nur einen unerheblichen Zeitraum die Möglichkeit der Fortbewegung nahm.
74
Ferner lag auch eine Gefahr für die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) vor, da die Protestierenden durch ihre Aktion zurechenbar einen Zustand schufen, in dem eine Vielzahl von KFZ nicht mehr imstande waren, vorwärts oder rückwärts zu fahren. Die insoweit geschaffene Eng- bzw. Blockadesituation birgt für sich betrachtet schon enorme Risiken. Hinzu kommt, dass diese mit einer latenten Aggressivität der Betroffenen einhergeht, die ihrerseits die Gefahr von Verkehrsunfällen erhöht – und komme es nur zu dem „gesunden Menschenverstand widersprechenden“ Ausweichversuchen. Im Übrigen ist aus dem aktenkundigen Lageplan des Beklagten nicht ersichtlich, dass ein ausreichender Rettungsweg freigelassen worden wäre.
75
Außerdem realisierte sich aufgrund des Verhaltens u.a. der Klägerin eine Gefahr für die sog. Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs (zu diesem Schutzgut: VG München, B.v. 4.5.2024 – M 10 S 24.2228 – juris Rn. 26).
76
Zuletzt erscheint es unterkomplex, die Gefahr mit dem Argument zu verneinen, dass die Klägerin sich dieser Gefahr eigenverantwortlich ausgesetzt habe. Dies blendet aus, dass die Gruppe um die Klägerin eine in ihrer Reichweite schwer zu überblickende Gefahr für eine Vielzahl anderer Personen schafft. Eher abwegig wirkt auch das wenig juristisch anmutende, die betroffenen Schutzgüter Dritter ausblendende Argument, das Lösen der Klebeverbindung bzw. das Wegtragen sei „nur“ erfolgt, da der Straßenverkehr behindert worden sei bzw. um die Fahrbahn freizugeben und nicht „zur Gefahrenabwehr für Personen, Sachen oder Tiere“ (vgl. zu beidem: VG Berlin, B.v. 21.9.2023 – VG 1 L 263/23 = BeckRS 2023, 26287 Rn. 15).
77
(bb) Die Beschränkung der Versammlung war auch verhältnismäßig.
78
Sie verfolgte den legitimen Zweck, die oben beschriebenen Gefahren für die öffentliche Sicherheit zu beseitigen. Sie waren dazu auch geeignet. Darüber hinaus war sie erforderlich; insb. war kein milderes Mittel erkennbar: Wie dargelegt war für den Zeitpunkt der Aktion keine Versammlung angemeldet worden, so dass keine Maßnahmen im Vorfeld getroffen werden konnten. Schließlich erweist sich die Beschränkung in Form der Verlegung auch als angemessen bzw. verhältnismäßig im engeren Sinn. Dabei ist zu bedenken, dass die Blockierenden zur Kundgabe ihres Anliegens nicht auf den spezifisch gewählten Ort angewiesen waren – allenfalls unter dem nicht schutzwürdigen Gedanken, möglichst viele Personen zu treffen und insofern ein Maximum an Aufmerksamkeit zu generieren. Wie skizziert verfolgten sie weder spezifisch „…“ Ziele noch stehen ihre Forderungen überhaupt in einem engen Zusammenhang mit dem Straßenverkehr. Zwar ist der Kammer bewusst, dass Aktionen wie die vom … 2023 auf vielbefahrene Straßen angewiesen sind. Insofern wird eine Beschränkung in Form einer Verlegung in ihrer Wirkung vielfach einer Auflösung der Versammlung nahekommen. Andererseits legitimiert Art. 8 Abs. 1 GG wie dargelegt nicht jede Form der Schaffung von Aufmerksamkeit, sondern die Teilhabe an der öffentlichen Willensbildung. Insofern müssen Mittel des Protests gegenüber den Grundrechten der davon Betroffenen zurückstehen, wenn sich die Protestierenden selbsthilfeähnlich und ohne demokratische Legitimation zum Sachwalter der Allgemeinheit erheben und letzter – selbst wenn man einen langfristig positiven Effekt derartiger Proteste unterstellen mag – zunächst nur schaden. Für die Kammer ist eine Vielzahl kreativer Formaten des Protestes vorstellbar, die kaum weniger effektiv die Aufmerksamkeit auf das Ziel des Umweltschutzes respektive den Kampf gegen die Erderwärmung lenken, ohne unbeteiligte Dritte – ungeachtet dessen, ob diese den Protest der Blockierenden teilen bzw. ob die Dritten selbst überhaupt „Umweltsünder“ sind – zu instrumentalisieren.
79
(cc) Nimmt man das Verhalten der Klägerin bereits vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit aus, ändert das nichts an obigem Befund. In diesem Fall stützen sich die jeweils vollstreckten Grundverfügungen wie vom Beklagten ausführlich geschildert auf Art. 11 PAG (Anordnung des Lösens des Klebers) bzw. Art. 16 PAG (Anordnung, die Fahrbahn zu verlassen).
80
c) Die allgemeinen und besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt.
81
(a) Zwar hat der Beklagte entgegen seiner Angabe beim Lösen der Hand nach Auffassung der Kammer keinen unmittelbaren Zwang i.S.d. Art. 75 Abs. 1 Satz 1 PAG angewendet. Indes berührt dies nicht die Rechtmäßigkeit des Bescheides, da die Voraussetzungen der Ersatzvornahme nach Art. 72 Abs. 1 Satz 1 PAG vorlagen.
82
(aa) Mit der Ersatzvornahme kann die Polizei nach Art. 72 Abs. 1 Satz 1 PAG eine Handlung vornehmen, die zu erbringen eigentlich eine bestimmte Person verpflichtet ist, die sie aber nicht vornimmt. Das Zwangsmittel der Ersatzvornahme dient der Durchsetzung von Maßnahmen, die eine Handlungspflicht des Betroffenen begründen. Es kommt allein bei vertretbaren Handlungen i.S.d. Art. 32 Satz 1 VwZVG in Betracht. Voraussetzung ist demnach eine Handlung, die auch ein Dritter erbringen kann und nicht notwendig vom eigentlich Pflichtigen erbracht werden muss (BeckOK PolR Bayern/Buggisch, 24. Ed. 1.3.2024, PAG Art. 72 Rn. 5, beck-online).
83
Vorliegend steht zunächst die Pflicht in Rede, sich von der Fahrbahn zu lösen. Im nächsten Schritt geht es um die Pflicht, sich von der Fahrbahn zu entfernen. Dabei erschiene der Kammer etwas artifiziell, das Lösen und das Wegtragen mit dem Argument zur Einheit zu fingieren, dass beide dem Ziel der Beseitigung der Behinderung des Straßenverkehrs dienen (so das VG Berlin, B.v. 21.9.2023 – VG 1 L 263/23 = BeckRS 2023, 26287 Rn. 13; danach sei „die primär verlangte Handlung“ das Verlassen der Straße, „für die das Lösen der Klebeverbindung zwischen […der] Hand und der Fahrbahn nur ein (wenn auch notwendiger) Zwischenschritt“ sei). Für die Kammer erscheint die Betrachtung als zweiaktiges Geschehen schon deshalb zwingend, da eine unterschiedliche Entwicklung mit Blick auf beide Pflichten nicht ausgeschlossen ist (wer sich lösen lässt, kann sich dennoch weigern, die Fahrbahn zu verlassen et cetera). Im Übrigen ist nicht ersichtlich, weshalb ein möglicherweise übergeordnetes Ziel (hier die Freigabe der Fahrbahn für den Straßenverkehr) dazu führen soll, mehrere zur Zielerreichung ergriffene Maßnahmen als Einheit zu betrachten. Im Gegenteil dienen etwa auch sämtliche Standardmaßnahmen der Gefahrenabwehr; auch auf der Primärebene werden aber mit dieser Begründung nicht einzelne Maßnahmen zusammengefasst.
84
Dieses Lösen ist eine Handlung, deren Vornahme durch einen anderen möglich ist. Die „Lösungspflicht“ besteht darin, so auf den Kleber einzuwirken, dass selbiger seine Haftung verliert und die Verbindung der jeweiligen Hand mit der Fahrbahn aufgehoben wird. Dieser Verpflichtung liegt eine vertretbare Handlung zugrunde. Es handelt sich nicht um eine höchstpersönliche Pflicht. Vielmehr kann die betreffende Handlung jeder Dritte vornehmen, der Lösungsmittel mitführt oder sonstige manuelle Optionen der Lösung der Verbindung ergreifen kann.
85
Die Einordnung als unmittelbarer Zwang ergibt sich nach Auffassung der Kammer auch nicht daraus, dass die Entfernung des Klebestoffs mit gewissen physischen Wirkungen wie der Entfernung von Hautzellen einhergehen dürfte. Den Schwerpunkt des Handelns bildet nach hiesiger Betrachtung das Einwirken auf den Klebstoff und nicht die physisch vermittelte Einwirkung auf den Körper des Betroffenen (so auch: Rulinski in SächsVBl. 2024, 37 (38); vgl. auch die dort nicht entscheidungserheblichen Ausführungen des VG Berlin, B.v. 21.9.2023 – VG 1 L 263/23 = BeckRS 2023, 26287 Rn. 13).
86
(bb) Kommt ein Gericht zum Ergebnis, dass ein Bescheid auf eine nicht tragfähige oder weniger naheliegende Rechtsgrundlage gestützt wurde, ist es nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Prüfung verpflichtet, ob und inwieweit der Bescheid mit Blick auf sonstige Rechtsgrundlagen aufrechtzuerhalten ist. Dies entspricht dem Grundsatz „iura novit curia“ und manifestiert sich in § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: Danach hebt das Verwaltungsgericht einen angefochtenen Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid nur auf, wenn und soweit er rechtswidrig ist und den Rechtsschutzsuchenden in seinen Rechten verletzt. Kommt das Gericht zur Erkenntnis, dass der Verwaltungsakt zu Unrecht auf die von der Behörde herangezogene Rechtsnorm gestützt ist, verpflichtet es § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Prüfung, ob und inwieweit der Bescheid mit Blick auf eine andere Rechtsgrundlage aufrechterhalten werden kann. Voraussetzung ist dabei, dass der Bescheid durch die Berücksichtigung der anderen Rechtsnorm und die dadurch geänderte Begründung nicht in seinem Wesen verändert wird (instruktiv: BVerwG, B.v. 29.7.2019 – 2 B 19/18 – juris Rn. 24; vergleichbar bereits: U.v. 19.8.1988 – 8 C 29/87 – juris Rn. 13; BayVGH, U.v. 23.7.2020 – 14 B 18.1472 – juris Rn. 29ff). In einer solchen Konstellation bedarf es keiner richterlichen Umdeutung. Insofern ist die Aufrechterhaltung eines Bescheides nicht davon abhängig, ob die Voraussetzungen aus Art. 47 BayVwVfG gewahrt sind.
87
Dies greift hier ein: Sowohl der zugrundliegende Sachverhalt als auch der Regelungsgehalt des angegriffenen Bescheids bleiben unverändert, wenn der Bezugspunkt der Kostenerhebung statt des angegebenen unmittelbaren Zwangs die Ersatzvornahme ist. Hinsichtlich der Ausführung einer Ersatzvornahme bedarf es keiner weiteren Ermessenserwägungen als für den angegebenen unmittelbaren Zwang. Die Rechtsfolgen erweisen sich bei Zugrundlegung einer Ersatzvornahme für die Klägerin nicht ungünstiger als bei Annahme unmittelbaren Zwangs. Schließlich entspricht es ersichtlich der Absicht des Beklagten, für die Anwendung polizeilichen Zwangs am … 2024 in Form des Lösens des Klebers Kosten zu erheben; hingegen dürfte es dem Beklagten nicht gerade auf die angegebene spezifische Rechtsgrundlage ankommen.
88
(cc) Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen sind erfüllt. Insb. bildet die mündliche Versammlungsbeschränkung eine vollstreckbare Grundverfügung. Entsprechende Rechtsmittel haben nach Art. 25 BayVersG keine aufschiebende Wirkung. Nimmt man das Verhalten der Klägerin aus dem Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG aus, folgt die sofortige Vollziehbarkeit aus § 80 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
89
(dd) Auch die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen liegen vor. Insb. war auch die Klägerin Adressatin der Grundverfügungen. Weiter ist sie der Pflicht zur Lösung der Klebeverbindung nicht nachgekommen. Indes wäre ihr die Erfüllung tatsächlich und rechtlich möglich gewesen. Dabei kann die Kammer offen lassen, ob die Annahme des Beklagten zutrifft, dass der Klägerin vergleichbare Personen typischerweise Lösungsmittel mit sich führen. Jedenfalls hatte der Beklagte am … 2023 nachweislich solche Mittel dabei. Lebensnah betrachtet hätte er sie der Klägerin überlassen, falls sie Bereitschaft zur eigenständigen Lösung gezeigt hätte, nachdem sie der Beklagte dazu aufgefordert hatte.
90
Außerdem hat der Beklagte der Klägerin die Anwendung des zwangsweisen Lösens des Klebers mittels polizeilichen Zwangs auch i.S.d. Art. 76 Abs. 1 Satz 1 PAG angedroht (vgl. dazu die polizeilichen Einsatzberichte bzw. Aktenvermerke, insb. d. PHM … und PM …*) – wobei angesichts des dynamischen Einsatzgeschehens bzw. der zeitlichen Dringlichkeit kein Raum für eine schriftliche Androhung war. Dabei ist nach Auffassung der Kammer nicht entscheidend, dass er unmittelbaren Zwang angedroht hat. Entscheidend ist, dass der Beklagte der Klägerin in Aussicht gestellt hat, dass die betreffende Handlung des Lösens des Klebers zwangsweise durchgeführt werden wird. Die gewählte Drohung stellte ausreichend konkret in Aussicht, mit welcher Konsequenz die Klägerin für den Fall des Unterbleibens des geforderten Verhaltens rechnen musste. Dabei stand der Klägerin auch eine ausreichende Frist zur Verfügung, innerhalb derer sie der Aufforderung des „Entklebens“ hätte nachkommen können (Art. 76 Abs. 1 Satz 2 PAG). Schließlich ist zwar nicht ersichtlich, dass der Klägerin iSd. Art. 76 Abs. 4 PAG die voraussichtlich entstehenden Kosten aufgezeigt worden wären. Allerdings wurde sie grundsätzlich über die drohende Kostenpflicht belehrt. Im Übrigen führt das Unterbleiben der Benennung der voraussichtlichen Kosten nicht zur Rechtswidrigkeit. Bei Art. 76 Abs. 4 PAG handelt es sich um eine Soll-Vorschrift; werden die voraussichtlichen Kosten der Ersatzvornahme nicht benannt, bleibt die Androhung gleichwohl rechtmäßig (BeckOK PolR Bayern/Buggisch, 24. Ed. 1.3.2024, PAG Art. 76 Rn. 7, beck-online).
91
Der Beklagte hat sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt (Art. 5 PAG); überdies erweist sich die Ersatzvornahme auch angesichts des gestuften Vorgehens (dazu: S. 2) als verhältnismäßig (Art. 4 PAG). Auf obige Ausführungen und den unbestrittenen Vortrag des Beklagten wird hingewiesen.
92
(b) Mit dem Wegtragen der Klägerin von der Fahrbahn hat der Beklagte rechtmäßig unmittelbaren Zwang i.S.d. Art. 75 Abs. 1 Satz 1 PAG ausgeübt.
93
Anders als die Pflicht zur Lösung des Klebers ist die Handlungspflicht, den Straßenverkehrsraum zu verlassen, eine unvertretbare Handlung (VG Berlin, B.v. 21.9.2023 – VG 1 L 263/23 = BeckRS 2023, 26287 Rn. 13; Rulinski in SächsVBl. 2024, 37 (39)). Dieser Pflicht kann nur der Verpflichtete höchstpersönlich nachkommen. Eine Vornahme durch einen Dritten scheidet aus.
94
Die allgemeinen und die besonderen Vollstreckungsvoraussetzungen waren gegeben. Insb. wurde der unmittelbare Zwang in Form des Wegtragens ordnungsgemäß angedroht (vgl. dazu die polizeilichen Einsatzberichte bzw. Aktenvermerke, insb. d. PHM … und PM …*). Im Übrigen wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
95
(d) Hinsichtlich der Ordnungsmäßigkeit der Kostenerhebung respektive der Rechtmäßigkeit der Forderung ist weder bezüglich der Ersatzvornahme noch der Anwendung unmittelbaren Zwangs etwas zu erinnern.
96
Rechtsgrundlagen der Kostenerhebung sind hinsichtlich der Ersatzvornahme Art. 93 S. 1, 72 Abs. 1 Satz 2 PAG und mit Blick auf den unmittelbaren Zwang Art. 93 S. 1, 75 Abs. 2 PAG. Es handelt sich um spezielle Vorschriften, die den Rückgriff auf die generelle Regelung zur Kostenfreiheit von Amtshandlungen der Polizei aus Art. 3 Nr. 10 lit. 1 PAG ausschließen.
97
Die Klägerin ist als Handlungspflichtige i.S.d. Art. 72 Abs. 1 Satz 1 hinsichtlich der Ersatzvornahme und als Adressatin des polizeilichen Zwangs gemäß Art. 75 Abs. 1, 3 PAG taugliche Kostenschuldnerin.
98
Die Höhe der jeweils angesetzten Kosten erweist sich als rechtmäßig. Die jeweils in Rechnung gestellte Regelgebühr von 80,00 EUR ist nicht zu beanstanden: Sie wahrt sowohl mit Blick auf die Ersatzvornahme als auch hinsichtlich der Anwendung unmittelbaren Zwangs den Rahmen von 36 bis 500,00 EUR (vgl. 1 Nr. 6 bzw. Nr. 8 PolKV). Die geltend gemachte Regelgebühr entspricht Ziff. 2.1.2.2 (Ersatzvornahme) bzw. 2.1.2.3 (unmittelbarer Zwang), 2.1.4 PolKV iVm. Ziff. 50.2 Anl. KR-Pol (unmittelbarer Zwang) bzw. Ziff. 62, 22 Anl. KR-Pol (Ersatzvornahme). Zudem hat der Beklagte in Übereinstimmung mit § 2 PolKV keine Auslagen geltend gemacht.
99
Die Rechtsgrundlagen sehen hinsichtlich der Kostenerhebung kein Ermessen des Beklagten vor. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, weshalb die Erhebung der Kosten der Billigkeit widersprechen soll (Art. 93 Satz 5 PAG). Insofern ist das diesbezügliche Ermessen des Beklagten, aus Gründen der Billigkeit von der Kostenerhebung abzusehen, nicht eröffnet.
100
Als allgemeiner Rechtsgrundsatz ermöglicht es Art. 16 BayKG Behörden, für den Fall der Unbilligkeit auf die Erhebung von Kosten zu verzichten. In Bezug auf polizeiliche Amtshandlungen findet dieser Grundsatz Niederschlag in Art. 93 S. 5 PAG und Art. 3 Abs. 1 Nr. 10 S. 3 BayKG.
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Die Billigkeitsklauseln ermöglichen es in Härtefällen, in denen die Kostenerhebung dem natürlichen Gerechtigkeitsgefühl widerspricht, von der Kostenerhebung abzusehen (BayVGH, U.v. 22.10.2008 – 10 B 08.1984 – juris Rn. 14). Durch die Möglichkeit des Billigkeitserlasses entsteht auf der Ebene des Kostenrechts ein Korrektiv dafür, dass auf es auf der Primärebene polizeilichen Handelns auf die Veranlassung, nicht aber das Verschulden eines Störers ankommt (BeckOK PolR Bayern/Unterreitmeier, 24. Ed. 1.3.2024, PAG Art. 93 Rn. 71, beck-online mit Verweis auf BKK BayPAG Art. 76 Rn. 14 – zur alten Fassung des PAG).
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In diesem Sinn wiederholt Nr. 2.1.3.1 BayKR-Pol, dass i.S.d. Art. 3 Abs. 1 Nr. 10 S. 3 BayKG aus Gründen der Billigkeit von der Kostenerhebung abgesehen werden kann. Dazu führt die Anlage zu den BayKR-Pol Regelfälle des Billigkeits-Verzichts auf (vgl. etwa Fn. 3, 15, 42 oder auch Ziff. 25.1 und 50.3). Die Ausnahmen der KR-Pol sind aber nicht abschließend (BeckOK PolR Bayern/Unterreitmeier, 24. Ed. 1.3.2024, PAG Art. 93 Rn. 6, beck-online).
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Vorliegend ist nichts ersichtlich, was die Unbilligkeit begründen würde. Insbesondere führt das Fernziel des Schutzes des Planeten im Allgemeinen respektive der Einwirkung auf Entscheidungsträger im Speziellen nicht zur Annahme eines Härtefalls, in dem die Kostenerhebung dem natürlichen Gerechtigkeitsgefühl widerspricht.
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Es ist bereits keiner der Regelfälle der KR-Pol ersichtlich. Zudem ist auch kein ungeschriebener Verzichtsgrund erkennbar. Den Fallgruppen der KR-Pol ist gemein, dass der de iure Kostenpflichtige faktisch nicht hätte handeln können; es geht gleichermaßen typisiert um das Fehlen der (individuellen) Vorwerfbarkeit der tatsächlichen Veranlassung einer Maßnahme (z.B. Kostenfreiheit des Abschleppens und Verwahrens von KFZ, wenn das Parken des Fahrzeugs zunächst zulässig war und erst nachträglich verboten wurde (Ziff. 3.1 und 3.2 iVm. Fn. 3 Nr. 4 Anlage KR-Pol); Kostenfreiheit des Bergens und Bewachsens von KFZ oder Sachen, wenn es dem Verfügungsberechtigten wegen Handlungsunfähigkeit nicht zumutbar war, diese selbst zu bergen/bewachen oder wenn es ihm unzumutbar war, diese durch Dritte bergen/bewachen zu lassen – etwa wenn die Wasserschutzpolizei bei der Rettung von Menschen aus Seenot gleichzeitig das Wassersportgerät birgt (Ziff. 14.1 Fn. 15 Nr. 1 Anlage KR-Pol); Kostenfreiheit der Anwendung unmittelbaren Zwangs bei der Verhinderung eines Suizidversuchs (Ziff. 50 Fn. 42 Nr. 2 Anlage KR-Pol); Kostenfreiheit unmittelbaren Zwangs, sofern der Betroffene aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage war, den Verwaltungsakt zu befolgen (Ziff. 50.3. Anlage KR-Pol). Dies erscheint auch sachgerecht, da das Absehen wegen Unbilligkeit in all diesen Fällen das oben beschriebene Gegengewicht dazu bildet, dass es auf Tatbestandsebene nicht auf Kategorien des Verschuldens bzw. der Vorwerfbarkeit ankommt. In Rede steht hier aber das zielbewusste Auslösen polizeilicher Maßnahmen. Insofern bedarf es keines Ausgleichs möglicherweise fehlender Vorwerfbarkeit auf Ebene der Kostenerhebung.
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Unabhängig ob und inwieweit eine strafrechtliche Rechtfertigung überhaupt die Kostentragung ausschließen kann: Nach den schlüssigen Ausführungen des OLG Schleswig lässt sich in solchen Fällen ein rechtfertigender Notstand iSd. § 34 StGB wohl kaum begründen. Bezweckt ein Verhalten das Rechtsgut Klima allein dadurch zu schützen, dass auf klimaschädliche Gefahren aufmerksam gemacht wird, um so politischen Druck auszuüben und damit umfassenderen Klimaschutz zu erreichen, ist die Eignung einer derartigen Notstandshandlung zweifelhaft. Sogenannte Fernziele finden im Rahmen der Geeignetheitsprüfung iSd. § 34 keine Berücksichtigung (OLG Schleswig, U.v. 9.8.2023 – 1 ORs 4 Ss 7/23 – juris Ls.5).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Grundlage in §§ 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.