Titel:
Zuständigkeit für einen Antrag auf Verlegung in den offenen Vollzug
Normenketten:
StVollzG § 10, § 109, § 116, § 118
BayStVollzG Art. 10, Art. 12 Abs. 2, Art. 208
Leitsätze:
1. Eine auf einen konkreten Antrag hin erfolgte – schriftliche – Mitteilung der Justizvollzugsanstalt, sie sei für eine Entscheidung über den an sie gerichteten Antrag nicht zuständig, kann eine anfechtbare Maßnahme im Sinne von § 109 StVollzG darstellen. (Rn. 10)
2. Der Begriff der Maßnahme in § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG ist unter Beachtung von Art. 19 Abs. 4 GG zu interpretieren und weit auszulegen. Für die Beantwortung der Frage, ob ein Handeln oder Unterlassen der Justizvollzugsanstalt eine regelnde Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG darstellt, kommt es darauf an, ob die Möglichkeit besteht, dass dieses Handeln oder Unterlassen Rechte des Gefangenen verletzt. Vom Maßnahmenbegriff umfasst wird nicht nur ein Verwaltungsakt, sondern jegliches vollzugsbehördliche Handeln, das im Einzelfall auf die Gestaltung von Lebensverhältnissen mit zumindest auch rechtlicher Wirkung gerichtet ist. Mangels Regelung nicht anfechtbar sind demgegenüber bloße Meinungsäußerungen, allgemeine Mitteilungen und Auskünfte. Ob eine Mitteilung der Vollzugsanstalt an einen Strafgefangenen eine allgemeine Auskunft darstellt oder ob ihr ein Regelungscharakter zukommt, indem sie etwa ein subjektives Recht des Gefangenen – hier auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung – verbindlich ablehnt, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont. Ob der Bedienstete befugt war, die Entscheidung zu treffen, ist für deren Anfechtbarkeit hingegen ohne Bedeutung, sondern betrifft alleine die Frage der Rechtmäßigkeit der Entscheidung. (Rn. 10)
3. Die Entscheidung über eine erstrebte Verlegung in eine Einrichtung des offenen Vollzugs nach Art. 12 Abs. 1 BayStVollzG obliegt der Justizvollzugsanstalt, in der sich der Strafgefangene zum Strafvollzug befindet. (Rn. 5)
4. Verantwortlich für die Verlegung aus dem geschlossenen in den offenen Vollzug ist der Leiter der abgebenden Anstalt. (Rn. 5)
5. Der Vollzugsbehörde ist bei der Prüfung der Eignung eines Gefangenen für den offenen Vollzug ein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Der Gefangene hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. (Rn. 6)
6. Den Gefangenen trifft bezüglich des Antrags auf Zulassung zum offenen Vollzug keine Darlegungspflicht. Vielmehr obliegt es der Vollzugsanstalt, auf einen Antrag des Gefangenen hin eine an der Person des Gefangenen orientierte Abwägung aller für die Beurteilung der Eignung sowie der Flucht- und Missbrauchsgefahr relevanten Umstände vorzunehmen und dabei auf die Persönlichkeit, die biografische, deliktische und vollzugliche Entwicklung sowie auf die Anlassverurteilung einzugehen. (Rn. 8)
Nach Art. 12 Abs. 1 BayStVollzG sind Gefangene im bayerischen Strafvollzug grundsätzlich im geschlossenen Vollzug unterzubringen. Nach Absatz 2 der Vorschrift sollen sie mit ihrer Zustimmung in einer Einrichtung des offenen Vollzugs untergebracht werden, wenn sie den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen und insbesondere nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werden. Die Vorschrift entspricht weitestgehend den Regelungen von § 10 StVollzG. (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
offener Vollzug, Verlegung, Justizvollzugsanstalt, Ermessen, Missbrauchsgefahr, Strafvollstreckungskammer
Vorinstanz:
LG Traunstein, Beschluss vom 18.06.2024 – StVK 483/24
Fundstellen:
LSK 2024, 26397
FDStrafR 2024, 026397
BeckRS 2024, 26397
NStZ 2025, 189
Tenor
1. Auf die Rechtsbeschwerde des Beschwerdeführers werden
a. der Bescheid der Justizvollzugsanstalt B. vom 14. Februar 2024,
b. der Beschluss des Landgerichts Traunstein vom 18. Juni 2024, soweit der Antrag auf Aufhebung des Bescheids vom 14. Februar 2024 und der hilfsweise gestellte Antrag auf Neubescheidung zurückgewiesen worden sind, nebst Kostenentscheidung,
2. Die Vollzugsbehörde wird verpflichtet, den Antrag des Beschwerdeführers auf Verlegung in den offenen Vollzug unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
3. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird zurückgewiesen.
4. Die Gerichtsgebühr wird in beiden Instanzen jeweils um die Hälfte ermäßigt. Die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers in beiden Instanzen tragen die Staatskasse und der Beschwerdeführer jeweils zur Hälfte.
5. Der Gegenstandswert wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren auf 1.000 € festgesetzt.
Gründe
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Der Beschwerdeführer verbüßt eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) B. . Mit Schreiben vom 12. Februar 2024 hat er bei der JVA B. beantragt, in den offenen Vollzug der JVA R. oder der JVA M. verlegt zu werden. Daraufhin hat die JVA B. dem Antragsteller mit Schreiben vom 14. Februar 2024 mitgeteilt, dass über die Unterbringung im offenen Vollzug nicht die JVA B. entscheiden würde. Zudem seien dem Antrag keine ausreichenden Gründe für eine Unterbringung im offenen Vollzug zu entnehmen.
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Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 25. Februar 2024 hat der Gefangene beim Landgericht Traunstein beantragt, den die Verlegung ablehnenden Bescheid der JVA B. aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn antragsgemäß in den offenen Vollzug zu verlegen, hilfsweise über seinen Antrag neu zu entscheiden. Das Landgericht – Strafvollstreckungskammer – hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung an Art. 10 BayStVollzG gemessen und mit dem angefochtenen Beschluss als unbegründet zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Gefangenen, mit der er die Verletzung materiellen Rechts rügt. Die Generalstaatsanwaltschaft M. beantragt, die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen.
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Die nach Art. 208 BayStVollzG, §§ 116, 118 StVollzG zulässige Rechtsbeschwerde ist weitestgehend begründet. Der angefochtene Beschluss der Strafvollstreckungskammer kann im tenorierten Umfang keinen Bestand haben. Der Bescheid der JVA B. unterliegt vollumfänglich der Aufhebung. Der Antragsteller hat nach Art. 12 Abs. 2 BayStVollzG gegen die JVA B. einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Neubescheidung seines Antrags auf Verlegung in den offenen Vollzug.
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1. Nach Art. 12 Abs. 1 BayStVollzG sind Gefangene im bayerischen Strafvollzug grundsätzlich im geschlossenen Vollzug unterzubringen. Nach Absatz 2 der Vorschrift sollen sie mit ihrer Zustimmung in einer Einrichtung des offenen Vollzugs untergebracht werden, wenn sie den besonderen Anforderungen des offenen Vollzugs genügen und insbesondere nicht zu befürchten ist, dass sie sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeiten des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werden. Die Vorschrift entspricht weitestgehend den Regelungen von § 10 StVollzG.
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2. Die Entscheidung über die erstrebte Verlegung in eine Einrichtung des offenen Vollzugs obliegt der Justizvollzugsanstalt, in der sich der Strafgefangene zum Strafvollzug befindet (OLG Hamm, Beschluss vom 4. September 2018 – 1 Vollz (Ws) 376/18-, juris Rn. 28; OLG Frankfurt, Beschluss vom 28. September 2000 – 3 Ws 882/00 (StVollz) –, juris; BGH, Beschluss vom 02. Dezember 1988 zu 2 ARs 536/88-, juris Rn. 8; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 10 Rn. 2; Lesting in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil II § 15 LandesR Rn. 44, 45). Verantwortlich für die Verlegung aus dem geschlossenen in den offenen Vollzug ist der Leiter der abgebenden Anstalt (Lesting a.a.O. Rn. 45; Verrel in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baierl, Strafvollzugsgesetze, 13. Aufl., Kap. D Rn. 5).
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3. Der Vollzugsbehörde ist bei der Prüfung der Eignung eines Gefangenen für den offenen Vollzug ein Beurteilungsspielraum eingeräumt (BVerfG, Beschluss vom 2. Mai 2017 – 2 BvR 1511/16, BeckRS 2017, 110805 Rn. 6; KG, Beschluss vom 12. September 2017 – 5 Ws 177/17 Vollz –, juris Rn. 10; Lesting a.a.O. Rn. 17 und 47; Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern, 20. Ed. 1.4.2024, BayStVollzG Art. 12 Rn. 7; Anstötz in BeckOK Strafvollzug Bund, 25. Ed. 1.2.2024, StVollzG § 10 Rn. 26; Verrel a.a.O. Rn. 8).
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4. Der Gefangene hat einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung (Lesting a.a.O. Rn. 9 und 48; Verrel a.a.O. Rn. 12; Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern a.a.O. Art. 12 Rn. 8 und 14).
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5. Ihn trifft bezüglich des Antrags auf Zulassung zum offenen Vollzug keine Darlegungspflicht. Vielmehr obliegt es der Vollzugsanstalt, auf einen Antrag des Gefangenen hin eine an der Person des Gefangenen orientierte Abwägung aller für die Beurteilung der Eignung sowie der Flucht- und Missbrauchsgefahr relevanten Umstände vorzunehmen und dabei auf die Persönlichkeit, die biografische, deliktische und vollzugliche Entwicklung sowie auf die Anlassverurteilung einzugehen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 14. Mai 2024 – 2 Ws 84/24 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 30. April 2021 – III-1 Vollz (Ws) 112/21 –, juris; KG, Beschluss vom 12. September 2017 a.a.O. Rn. 14; Arloth in BeckOK Strafvollzug Bayern a.a.O. Art. 12 Rn. 6).
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6. Gemessen daran erweist sich die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer bezogen auf die Anträge des Beschwerdeführers auf Aufhebung des Bescheids der JVA und auf Neubescheidung als rechtsfehlerhaft.
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a. Zutreffend ist die Strafvollstreckungskammer davon ausgegangen, dass die schriftliche Mitteilung der JVA B. vom 14. Februar 2024, sie sei für eine Entscheidung über den an sie gerichteten Antrag auf Verlegung in den offenen Vollzug nicht zuständig, eine anfechtbare Maßnahme im Sinne von § 109 StVollzG i.V.m. Art. 208 BayStVollzG darstellt. Der Rechtsweg nach §§ 109 ff. StVollzG ist eröffnet, wenn eine Maßnahme zur Regelung einzelner Angelegenheiten auf dem Gebiete des Strafvollzugs zur Überprüfung steht (§ 109 Abs. 1 StVollzG). Der Begriff der Maßnahme in § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG ist unter Beachtung von Art. 19 Abs. 4 GG zu interpretieren und weit auszulegen (st. Rspr., vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 28. Juli 2022 – 2 BvR 1814/21 –, juris Rn. 22; BayObLG, Beschluss vom 18. November 2021 – 204 StObWs 329/21 –, juris Rn. 20). Für die Beantwortung der Frage, ob ein Handeln oder Unterlassen der Justizvollzugsanstalt eine regelnde Maßnahme im Sinne des § 109 StVollzG darstellt, kommt es darauf an, ob die Möglichkeit besteht, dass dieses Handeln oder Unterlassen Rechte des Gefangenen verletzt (vgl. BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 12. März 2019 – 2 BvR 2255/17 –, juris Rn. 21 m.w.N.; BayObLG a.a.O. Rn. 20; Laubenthal in Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 12. Kapitel Rechtsbehelfe I § 109 Rn. 11). Vom Maßnahmenbegriff umfasst wird nicht nur ein Verwaltungsakt, sondern jegliches vollzugsbehördliche Handeln, das im Einzelfall auf die Gestaltung von Lebensverhältnissen mit zumindest auch rechtlicher Wirkung gerichtet ist (BayObLG a.a.O. m.w.N.; KG, Beschluss vom 26. Juni 2017 – 2 Ws 72/17, BeckRS 2017, 122457 Rn. 6). Mangels Regelung nicht anfechtbar sind demgegenüber bloße Meinungsäußerungen, allgemeine Mitteilungen und Auskünfte (vgl. BayObLG, Beschluss vom 30. September 2019 – 204 StObWs 1509/19, BeckRS 2019, 46576; OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 27. März 2018 – 3 Ws 906/17 (StVollz), BeckRS 2018, 5360; KG, Beschluss vom 1. August 2014 – 2 Ws 259/14 Vollz –, juris Rn. 8; Arloth/Krä a.a.O. § 109 Rn. 7; Laubenthal a.a.O. Rn. 16, 17; Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baierl, a.a.O. Kap. P § 109 Rn. 29). Ob eine Mitteilung der Vollzugsanstalt an einen Strafgefangenen eine allgemeine Auskunft darstellt oder ob ihr ein Regelungscharakter zukommt, indem sie etwa ein subjektives Recht des Gefangenen – hier auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung – verbindlich ablehnt, beurteilt sich nach dem Empfängerhorizont (OLG Celle, Beschluss vom 14. April 2010 – 1 Ws 143/10-, juris Rn. 8). Im vorliegenden Fall hat die Vollzugsanstalt nicht lediglich eine unverbindliche Rechtsauskunft ohne unmittelbare Rechtswirkung nach außen erteilt. Vielmehr hat die JVA in ihrem Schreiben aus Empfängersicht den an sie gerichteten Antrag des Strafgefangenen auf Verlegung in den offenen Vollzug unter Berufung auf ihre angeblich mangelnde Zuständigkeit endgültig abgelehnt (vgl. auch KG, Beschluss vom 26. Juni 2017 – 2 Ws 72/17, BeckRS 2017, 122457 Rn. 6). Sie hat damit eine den Betroffenen belastende Einzelfallregelung getroffen, die der Strafgefangene im gerichtlichen Verfahren nach § 109 StVollzG i.V.m. Art. 208 BayStVollzG zur Überprüfung stellen kann. Ob der Bedienstete nach Art. 177 Abs. 2 S. 2 BayStVollzG befugt war, die Entscheidung zu treffen, ist für deren Anfechtbarkeit hingegen ohne Bedeutung (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Mai 1990 – 2 BvR 1499/89 –, juris Rn. 25; Arloth/Krä a.a.O. § 109 Rn. 7; Laubenthal a.a.O. Rn. 11), sondern betrifft alleine die Frage der Rechtmäßigkeit der Entscheidung.
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b. Die Strafvollstreckungskammer hat die Entscheidung der Behörde rechtsfehlerhaft ausschließlich an Art. 10 BayStVollzG gemessen und aus dem Blick verloren, dass die Vollzugsanstalt B. als örtlich und sachlich zuständige Behörde über den Antrag nach Maßgabe von Art. 12 Abs. 2 BayStVollzG hätte entscheiden müssen. Da die JVA B. auch nach ihrem eigenen Vortrag aufgrund der Verkennung ihrer Zuständigkeit in diese Sachprüfung nicht eingetreten ist (Ermessensausfall), kann die Entscheidung der Vollzugsanstalt keinen Bestand haben.
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7. Die Sache ist im Sinne des § 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG spruchreif. Einer Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer bedarf es nicht. Die Anstaltsleitung wird nunmehr unter Beachtung der oben dargelegten Rechtsauffassung des Senats darüber zu entscheiden haben, ob es mit Blick auf die Persönlichkeit des Beschwerdeführers nach Art. 12 Abs. 2 BayStVollzG zu verantworten ist, den Verurteilten in den offenen Vollzug zu überführen.
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Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf Art. 208 BayStVollzG i.V.m. § 121 Abs. 4 StVollzG und § 473 Abs. 4 StPO. Die Festsetzung des Geschäftswerts folgt aus § 1 Abs. 1 Nr. 8, §§ 52, 60, 63, 65 GKG.