Titel:
Folgen der Vollstreckung einer nicht rechtskräftigen Bewährungswiderrufsentscheidung auf die Prüfung der Widerrufsgründe in der Beschwerdeinstanz
Normenketten:
StGB § 56f Abs. 1 Nr. 2, Nr. 3
StPO § 449
Leitsätze:
Vollstreckt die Staatsanwaltschaft entgegen § 449 StPO einen Teil einer Freiheitsstrafe, obwohl der Verurteilte gegen den Widerruf der Strafaussetzung zulässig sofortige Beschwerde erhoben hatte, so ist die Warnwirkung dieses Vollzugs geeignet, bei der Beurteilung des Widerrufes der Strafaussetzung durch das Beschwerdegericht besondere Berücksichtigung zu finden. (Rn. 28)
1. Die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung hat aufschiebende Wirkung, da gem. § 449 StPO analog die Entscheidung über die sofortige Beschwerde abzuwarten ist. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Einzelfallumstände sind bei der Würdigung des Bewährungsversagens mit Blick auf die Legalprognose und die Klärung, ob ein gröblicher und/oder beharrlicher Verstoß iSv § 56f Abs. 1 Nr. 3 StGB vorliegt und der Widerruf der Bewährung verhältnismäßig ist, zu berücksichtigen. Dazu gehört auch der Umstand, dass die StA den Probanden entgegen § 449 StPO zum Strafantritt lädt, Freiheitsstrafe vollstreckt und dadurch bei diesem ein frischer Hafteindruck entsteht. (Rn. 21, 24 und 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Gleiches gilt für die Beurteilung, ob der Widerrufsgrund des § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB vorliegt. Ein entstandener frischer Hafteindruck kann geeignet sein, den Probanden zur Beachtung der Weisungen anzuhalten und somit die Prognose zu verbessern. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafaussetzung, Widerruf, sofortige Beschwerde, aufschiebende Wirkung, Bewährungswiderruf, Prognose, Hafteindruck, Vollstreckung, Weisungen, Auflagen, Verstoß, Besorgnis erneuter Straftaten, Verhältnismäßigkeit
Vorinstanz:
AG Regensburg, Beschluss vom 26.06.2024 – BRs 25 Ds 208 Js 25475/21
Fundstellen:
StV 2025, 41
LSK 2024, 26270
BeckRS 2024, 26270
Tenor
1. Auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten H wird der Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 26.06.2024 aufgehoben.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers im Beschwerdeverfahren zu tragen.
Gründe
1
Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 30.03.2023, Aktenzeichen 25 Ds 208 Js 25475/21 (Bl. 3-8 d.A.), wegen Diebstahls in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit unbefugtem Gebrauch eines Fahrzeugs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom selben Tage (Bl. 1 d.A.) wurde die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt, der Beschwerdeführer für die Dauer von drei Jahren der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt, der Beschwerdeführer angewiesen, jeden Wechsel des Wohnsitzes oder des Aufenthaltsorts mitzuteilen und dem Beschwerdeführer auferlegt, binnen 12 Monaten ab Rechtskraft 80 Stunden gemeinnützige und unentgeltliche Arbeit nach näherer Weisung des Bewährungshelfers zu leisten.
2
Mit Bericht vom 17.01.2024 (Bl. 17 d.A.) teilte die Bewährungshelferin Ra mit, dass bislang sieben persönliche Kontakte stattgefunden hätten. Der Beschwerdeführer habe ihr im letzten Gespräch am 10.01.2024 mitgeteilt, dass er wegen einer Verletzung am Finger bislang keine Arbeitsstunden habe ableisten können.
3
Mit Bericht vom 05.04.2024 (Bl. 17 d.A.) hatte die Bewährungshelferin Ra eine gerichtliche Anhörung des Beschwerdeführers angeregt und zur Begründung mitgeteilt, dass der Beschwerdeführer zuletzt am 31.01.2024 versucht habe, sie zu erreichen, sie ihn am 22.02.2024 telefonisch nicht habe erreichen können und er drei schriftlichen Vorladungen nicht nachgekommen sei. Auch der Versuch, über den Sozialpädagogen des Werkhofes einen Termin zustande zu bringen, sei gescheitert.
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Die Staatsanwaltschaft R. beantragte mit Verfügung vom 16.04.2024 (Bl. 21 d.A.) im Hinblick auf den Bericht der Bewährungshelferin vom 05.04.2024 den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung und die Ansetzung eines Anhörungstermins.
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Der Beschwerdeführer erschien zum Anhörungstermins am 14.05.2024 nicht (Bl. 25 d.A.).
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Mit Beschluss vom 26.06.2024 widerrief das Amtsgericht Regensburg die dem Beschwerdeführer gewährte Strafaussetzung zur Bewährung und ordnete die Vollstreckung der durch Urteil des Amtsgerichts in Regensburg vom 30.03.2023 festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe an. Hinsichtlich der Begründung dieses Beschlusses wird auf Bl. 30-31 d.A. Bezug genommen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Beschluss dem Beschwerdeführer am 02.07.2024 zugestellt.
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Zur Niederschrift durch das Amtsgericht Regensburg vom 09.07.2024 legte der Beschwerdeführer gegen den Beschluss vom 26.06.2024 sofortige Beschwerde ein und beantragte, diesen Beschluss aufzuheben. Zur Begründung führte der Beschwerdeführer an, er habe den Termin am 14.05.2024 unverschuldet versäumt, […] .
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Mit Verfügung vom 10.07.2024 (Bl. 38 d.A.) legte das Amtsgericht Regensburg die Akte der Staatsanwaltschaft R. zur Vorlage an das Landgericht Regensburg zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vor.
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Die Staatsanwaltschaft R. lud den Beschwerdeführer mit Verfügung vom 17.07.2024 (Bl. 41 d.A.) zum Haftantritt innerhalb einer Woche ab Zugang der Ladung, welche dem Beschwerdeführer ausweislich der Postzustellungsurkunde am 19.07.2024 zugestellt wurde.
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Die Zeugin POMin Ha […] teilte der Staatsanwaltschaft R. mit Schreiben vom 18.08.2024, eingegangen am 27.08.2024 (Bl. 46-47 d.A.), mit, dass die Mutter des Beschwerdeführers anlässlich einer Durchsuchung der Wohnanschrift des Beschuldigten im Anwesen […] mitgeteilt habe, es handele sich nur um die Meldeanschrift des Beschwerdeführers und sie vermute, er halte sich im Stadtgebiet von R […] auf. Persönliche Gegenstände des Beschwerdeführers hätten nicht festgestellt werden können.
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Am 28.08.2024 erließ die Staatsanwaltschaft R. Vollstreckungshaftbefehl gegen den Beschwerdeführer (Bl. 62f. d.A.) und schrieb ihn zur Festnahme aus.
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Mit Verfügung vom 18.09.2024 (Bl. 64 d.A.) löschte die Staatsanwaltschaft R. die Ausschreibung des Beschwerdeführers zur Fahndung wegen der fehlenden Rechtskraft der Entscheidung des Amtsgerichts Regensburg über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung. Mit Schreiben vom 25.09.2024 (Bl. 68 d.A.) an den Beschwerdeführer an die Adresse […] teilte die Staatsanwaltschaft R. dem Beschwerdeführer mit, dass die Ladung zum Haftantritt irrtümlich erfolgt sei und derzeit keine Gefahr der Inhaftierung bestehe, da noch über die sofortige Beschwerde zu entscheiden sei.
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Die Staatsanwaltschaft R. legte das Bewährungsheft erst mit Verfügung vom 25.09.2024 dem Landgericht Regensburg zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vor und beantragte, diese als unbegründet zu verwerfen. Hinsichtlich der Begründung wird auf Bl. 69 d.A. Bezug genommen.
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Die Bewährungshelferin Ra teilte auf telefonische Anfrage des Berichterstatters am 02.10.2024 mit, dass sie am 07.08.2024 Kontakt mit dem Beschwerdeführer gehabt habe. Er habe ihr mitgeteilt, dass die Adresse […] nur seine Postadresse sei und er bei „Kumpels in der Stadt“ übernachte. Die Arbeitsauflage sei noch nicht angetreten worden. Sie berichtete zudem, dass er sich nunmehr in dieser Sache in Haft befinde.
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Der Beschwerdeführer befand sich aufgrund der mit Urteil des Amtsgerichts Regensburg vom 30.03.2023, Aktenzeichen 25 Ds 208 Js 25475/21, verhängten Gesamtfreiheitsstrafe vom 30.09.2024 bis 02.10.2024 in Haft in der Justizvollzugsanstalt R, nachdem er sich zum Haftantritt gestellt hatte. Wegen der Einzelheiten wird auf die Vollstreckungsübersicht der Justizvollzugsanstalt R vom 02.10.2024 Bezug genommen (Bl. 71).
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Die sofortige Beschwerde hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Amtsgerichts Regensburg vom 26.06.2024
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I. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 453 Abs. 2 S. 3 StPO der statthafte Rechtsbehelf gegen den Beschluss des Amtsgerichts Regensburg vom 26.06.2024. Die Beschwerdefrist des § 311 Abs. 2 StPO ist gewahrt, auch die sonstigen Zulässigkeitsvoraussetzungen liegen vor.
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II. Die sofortige Beschwerde ist auch begründet.
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II.1. Dabei ist anzumerken, dass das Verhalten des Beschwerdeführers bis zum 29.09.2024 durchaus geeignet gewesen sein mag, einen Widerruf der Strafaussetzung zu begründen. Aufgrund der Besonderheit, dass hier die zugrunde liegende Strafe bereits anvollstreckt wurde, bevor die Akten der Kammer zur Entscheidung über die zulässige sofortige Beschwerde vorgelegt wurden, kann jedoch jedenfalls derzeit aufgrund der von diesem Strafvollzug ausgehenden Warnwirkung ein Widerruf der Strafaussetzung nicht mehr begründet werden.
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II.2. Nach § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person gegen Weisungen gröblich oder beharrlich verstößt oder sich der Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin oder des Bewährungshelfers beharrlich entzieht und dadurch Anlass zu der Besorgnis gibt, dass sie erneut Straftaten begehen wird. Nach § 56f Abs. 1 Nr. 3 StGB erfolgt der Widerruf, wenn die verurteilte Person gröblich oder beharrlich gegen Auflagen verstößt.
21
Bei Auflagen ist die an die Strafaussetzung geknüpfte Erwartung primär darauf gerichtet, dass die verurteilte Person für das begangene Unrecht Genugtuung leistet (Kinzig in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 56f, Rn. 16). Die Umstände des Einzelfalls sind bei der Würdigung des Bewährungsversagens mit Blick auf die Legalprognose bzw. bei der Frage, ob ein „gröblicher“ und/oder „beharrlicher“ Verstoß gegeben ist, zu berücksichtigen.
22
Vorliegend lag dem Beschwerdeführer ein Verstoß gegen die Auflage, binnen 12 Monaten ab Rechtskraft 80 Stunden gemeinnützige und unentgeltliche Arbeit zu leisten, zur Last.
23
Die sofortige Beschwerde gegen den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung hatte aufschiebende Wirkung, da gem. § 449 StPO analog die Entscheidung über die sofortige Beschwerde abzuwarten war (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 67. Aufl. 2024, § 307, Rn. 1).
24
Bei der zu treffenden Gesamtabwägung zur Frage der Gröblichkeit/Beharrlichkeit des Verstoßes, aber auch zur Frage der Verhältnismäßigkeit des Widerrufes, war hier auch in den Blick zu nehmen, dass die Staatsanwaltschaft entgegen § 449 StPO den Beschwerdeführer bereits zum Strafantritt geladen hatte und ein Teil einer Freiheitsstrafe vollstreckt wurde.
25
Dabei ist es ohne Bedeutung, dass der Beschwerdeführer sich (wohl irrtümlich, weil die Ladung mit Schreiben vom 25.09.2024 widerrufen worden war) freiwillig zum Haftantritt gestellt hatte, denn er hätte bereits die Ladung nicht erhalten dürfen, und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass ihn der Widerruf nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte.
26
Aufgrund des nunmehr frischen Hafteindrucks des Beschwerdeführers besteht nach Überzeugung der Kammer die begründete Erwartung, dass sich der Beschwerdeführer in Kenntnis der ihm im Falle eines Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung drohenden Konsequenz der Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe nunmehr mit erhöhtem Eifer an die Einhaltung der ihm erteilten Weisungen und insbesondere die Umsetzung der Arbeitsauflage machen, diese zeitnah nach seiner Haftentlassung beginnen und auch abschließen wird. Die Kammer hat weiterhin das durch das Schreiben der Staatsanwaltschaft R. vom 25.09.2024 begründete Vertrauen des Beschwerdeführers auf die Nichtgefahr einer Inhaftierung berücksichtigt. Die Kammer sieht daher in Gesamtabwägung die Schwere der Gröblichkeit und Beharrlichkeit des bisherigen Verstoßes (§ 56f Abs. 1 Nr. 3 StGB) als nunmehr gemindert an.
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II.3. Soweit dem Beschwerdeführer auch Verstöße gegen die ihm erteilte Weisung und ein beharrliches Entziehen gegen die Aufsicht und Leitung der Bewährungshelferin zur Last lagen, fanden die vorgenannten Gründe im Rahmen der Beurteilung der Sozialprognose bei Prüfung eines Verstoßes gegen Weisungen gem. § 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB besondere Berücksichtigung, weshalb zurzeit keine ausreichende Besorgnis zur Begehung weiterer Straftaten mehr besteht.
28
Vollstreckt die Staatsanwaltschaft entgegen § 449 StPO einen Teil einer Freiheitsstrafe, obwohl der Verurteilte gegen den Widerruf der Strafaussetzung sofortige Beschwerde erhoben hatte, so ist die Warnwirkung dieses Vollzugs geeignet, bei der Beurteilung der Sozialprognose durch das Beschwerdegericht besondere Berücksichtigung zu finden. Denn ein zwischenzeitlicher Hafteindruck kann geeignet sein (vgl. BayObLG, Beschluss vom 23.02.2024, Az. 206 StRR 55/24) den Verurteilten zur Beachtung der Weisungen anzuhalten und somit die Sozialprognose verbessern. So lag es hier.
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II.4. Insgesamt scheint der Widerruf auch bei Gesamtbetrachtung des Verfahrensverlaufes derzeit nicht (mehr) verhältnismäßig.
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II.5. Der Beschwerdeführer wird nunmehr aber nach Kräften den Weisungen und Auflagen nachzukommen haben, denn weitere schuldhafte Verstöße werden einen (erneuten) Widerruf der gewährten Strafaussetzung möglicherweise begründen können!
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 465 StPO analog.