Titel:
Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung nach Italien (Dublin-III)
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Art. 13 Abs. 1 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Leitsätze:
1. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung setzt voraus, dass diese tatsächlich durchgeführt werden kann, was von der Aufnahmebereitschaft des jeweiligen Rückführungsstaates abhängt, die abschließend positiv feststehen muss. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Teilt Italien unmissverständlich mit, dass mangels Unterbringungsmöglichkeiten die Rückübernahme von Asylbewerbern in sog. Dublin-Verfahren bis auf Fälle der Familienzusammenführung für Minderjährige aussetzt wird, bestehen erhebliche Zweifel an einer tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit nach Italien bzw. an einer Wiederaufnahmebereitschaft. (Rn. 17 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
erhebliche Zweifel an der Rechtsmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung aufgrund der seit über eineinhalb Jahren fehlenden Wiederaufnahmebereitschaft Italiens, Eilverfahren, Asylrecht, Dublin III-Verfahren, Abschiebungsanordnung, Italien, Rückübernahme, Aussetzung der Übernahme, Überstellungsmöglichkeit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 26208
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der im Verfahren W 4 K 24.50371 erhobenen Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2024 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger. Er reiste am 19. April 2024 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte hier am 22. April 2024 ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung vom selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 2. Mai 2024 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag.
2
Für das Bundesamt lagen aufgrund einer entsprechenden Eurodac-Abfrage vom 22. April 2024 Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Das am 18. Juni 2024 daraufhin an die italienischen Behörden gerichtete Aufnahmeersuchen blieb in der Folge allerdings unbeantwortet.
3
Am 11. September 2024 fand die Anhörung des Antragstellers zur Zulässigkeit des Asylantrags beim Bundesamt statt. Auf die dabei gemachten Angaben des Antragstellers wird Bezug genommen.
4
Mit Bescheid vom 16. September 2024 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Ziffer 3), und das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4). Wegen der Begründung wird auf den vorgenannten Bescheid Bezug genommen.
5
2. Am 24. September 2024 erhob der Antragsteller zur Niederschrift des Urkundsbeamten Klage (W 4 K 24.50371) gegen den vorgenannten Bescheid des Bundesamts, über die noch nicht entschieden ist, und beantragt im vorliegenden Verfahren sinngemäß,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts vom 16. September 2024 anzuordnen.
6
Zur Begründung verwies der Antragsteller auf sein Vorbringen beim Bundesamt.
7
3. Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz des Bundesamtes vom 30. September 2024, den Antrag abzulehnen.
8
Hinsichtlich der Begründung bezog sich das Bundesamt auf die angefochtene Entscheidung.
9
4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren W 4 K 24.50371 sowie auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
10
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides ist zum hier maßgeblichen Zeitpunkt zulässig und begründet.
11
Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. September 2024 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) aller Voraussicht nach rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO analog), denn es steht aufgrund der fehlenden Übernahmebereitschaft Italiens nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung innerhalb der Überstellungsfrist des Art. 29 Dublin III-VO durchgeführt werden kann.
12
1. Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (sog. Dublin III-VO) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
13
Vorliegend wäre Italien gem. Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig.
14
2. Der Erlass einer Abschiebungsanordnung setzt nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aber auch voraus, dass diese tatsächlich durchgeführt werden kann, was von der Aufnahmebereitschaft des jeweiligen Rückführungsstaates (hier: Italien) abhängt, welche abschließend positiv feststehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24/15 – juris Rn. 20; BayVGH, U.v. 7.4.2016 – 20 B 14.30214 – juris Rn. 17; siehe auch: Pietzsch in BeckOK, Ausländerrecht, Stand: 1.4.2024, § 34a AsylG Rn. 12).
15
Dies ist grundsätzlich immer dann anzunehmen, wenn der Zielstaat auf Grundlage entsprechender bilateraler oder unionsrechtlicher Regelungen – hier der Dublin III-VO – zur Übernahme verpflichtet ist. Einer ausdrücklichen Erklärung der Übernahmebereitschaft im jeweiligen Einzelfall bedarf es nicht. Voraussetzung für das Tatbestandsmerkmal des Feststehens ist, dass eine Überstellung in den jeweiligen Zielstaat sowohl rechtlich zulässig als auch zeitnah – mit großer Wahrscheinlichkeit – tatsächlich möglich ist.
16
Der Erlass einer Abschiebungsanordnung ist jedoch dann nicht zulässig, wenn zu diesem Zeitpunkt Erkenntnisse vorliegen, die konkrete Zweifel an der Möglichkeit einer Überstellung begründen. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift und in systematischer Hinsicht auch daraus, dass der Gesetzgeber das Bundesamt in § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG für den Fall, dass die Möglichkeit der Überstellung im maßgeblichen Zeitpunkt nicht feststehen sollte, zum Erlass einer Abschiebungsandrohung verpflichtet hat (vgl. VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – VG 9 K 61/23 – juris Rn. 18; siehe auch: BT-Drs. 18/8615, S. 52 sowie BT-Drs. 18/8829, S. 25, wo davon ausgegangen wird, dass vom Erlass einer Abschiebungsanordnung bereits „bei Unklarheiten bezüglich der Vollstreckbarkeit“ abzusehen sei).
17
Gemessen hieran bestehen erhebliche Zweifel an einer tatsächlichen Überstellungsmöglichkeit des Antragstellers nach Italien bzw. an einer Wiederaufnahmebereitschaft im obigen Sinne (so auch: VG Würzburg, B.v. 5.6.2024 - W 6 S 24.50178 – BeckRS 2024, 13523; VG Berlin, U.v. 23.4.2024 – VG 9 K 61/23 A – juris Rn. 19 ff; VG Magdeburg, U.v. 9.4.2024 – 7 A 26/24 – juris Rn. 26 ff.; VG Düsseldorf, B.v. 20.3.2024 – 22 L 497/24.A – juris Rn. 120 ff.; VG Hamburg, U.v. 19.2.2024 – 9 A 4685/22 – juris; VG Stuttgart, U.v. 16.10.2023 – A 4 K 429/23 – juris Rn. 21 ff.; sowie schon: NdsOVG, B.v. 26.4.2023 – 10 LA 48/23 – juris Rn. 21; OVG NW, B.v. 16.3.2023 – 11 A 252/23.A -juris; a.A. zuletzt etwa: VG Gießen, B.v. 29.4.2024 – 8 L 1291/24.GI.A; VG München, B.v. 24.4.2024 – M 3 S 24.50439; VG Chemnitz, B.v. 16.4.2024 – 6 L 151/24.A; OVG SH, U.v. 25.1.2024 – 4 LB 3/23 – alle juris m.w.N.).
18
Denn bereits mit Schreiben vom 5. bzw. 7. Dezember 2022 hat das Innenministerium Italiens unmissverständlich mitgeteilt, dass es mangels Unterbringungsmöglichkeiten die Rückübernahme von Asylbewerbern in sog. Dublin-Verfahren bis auf Fälle der Familienzusammenführung für Minderjährige aussetzt (die beiden Schreiben sind abrufbar z.B. bei Asylfact). Dass dies seitens Italien auch tatsächlich so gehandhabt wird, wird anhand einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU vom 27. März 2023 (BT-Drs. 20/10869) deutlich. Danach wurden im gesamten Jahr 2023 15.497 Übernahmeersuchen an Italien gerichtet und in lediglich elf Fällen, also in 0,07% der Fälle, hat eine Überstellung tatsächlich stattgefunden. Im ersten Quartal des Jahres 2024 haben bundesweit zwei Überstellungen nach Italien im Rahmen des „Dublin-Verfahrens“ stattgefunden (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Bü., Domscheit-Berg, Go. und weiterer Abgeordneter und der Gruppe Die Linke, BT-Drs. 20/1147 vom 17.5.2024, S. 14).
19
Berücksichtigt man zudem den Umstand, dass die Aussetzung der Dublin-Transfers („suspension of transfers“) nach Italien nunmehr über eineinhalb Jahre andauert und dass diese Vorgehensweise seitens Italiens zuletzt im April 2024 verlängert wurde (vgl. BFA, LIS Italien, Version 6, 27.9.24, S. 4), so ist derzeit nicht erkennbar, dass Italien eine Rückübernahme in beachtlichem Umfang alsbald wiederaufnehmen wird.
20
Die bislang stets geäußerte Annahme des Bundesamts, binnen sechs Monaten könnten Abschiebungen wieder durchgeführt werden, entbehrt daher zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einer belastbaren Grundlage, und es gibt keinen Anlass, von einer hinreichenden Überstellungswahrscheinlichkeit auszugehen, zumal auch die Antragsgegnerin weder im streitgegenständlichen Bescheid noch in ihrer Antragserwiderung Umstände vorgetragen hat, die auf Gegenteiliges schließen ließen. Vielmehr wurde auf diese Problematik seitens des Bundesamt erst gar nicht eingegangen.
21
Nach alledem kann zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG) nicht davon ausgegangen werden, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Italien mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der Überstellungsfrist des Art. 29 Dublin III-VO tatsächlich durchgeführt werden kann, weshalb sich die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung bei summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtswidrig erweist und die aufschiebende Wirkung der Klage somit anzuordnen war.
22
Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass es dem Bundesamt unbenommen bleibt, einen Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen, sollte Italien wider Erwarten Transfers im Rahmen von Dublin-Verfahren in nennenswertem Umfang wieder durchführen.
23
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.