Titel:
Asylrecht, Türkei, Einstweiliger Rechtsschutz, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Stattgabe, Mutwillige Vernichtung eines Identitäts- oder eines Reisedokuments, das die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte (verneint), Kein anderer Katalogtatbestand des § 30 Abs. 1 AsylG erfüllt
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 4
AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1
Schlagworte:
Asylrecht, Türkei, Einstweiliger Rechtsschutz, Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet, Stattgabe, Mutwillige Vernichtung eines Identitäts- oder eines Reisedokuments, das die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte (verneint), Kein anderer Katalogtatbestand des § 30 Abs. 1 AsylG erfüllt
Fundstelle:
BeckRS 2024, 25718
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller vom 20. August 2024 (M 25 K 24.32687) gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 5 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 5. August 2024 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
1
Die Antragsteller, türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit, begehren vorläufigen Rechtsschutz gegen die angedrohte Abschiebung in die Türkei.
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Die Antragstellerin zu 1 ist die Mutter des am ... September 2009 geborenen Antragstellers zu 2.
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Wegen des Sachverhalts wird zunächst auf die Feststellungen des angefochtenen Bescheids der Antragsgegnerin vom 5. August 2024 Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG). Im Rahmen der Anhörung bei der Antragsgegnerin am 14. März 2024 gab die Antragstellerin zu 1 im Wesentlichen an, die Türkei zum einen wegen ihres älteren, im Jahr 2001 geborenen Sohnes verlassen zu haben. Er habe seinen Wehrdienst leisten sollen. Da er aber krank sei, habe sie nicht gewollt, dass er Wehrdienst leisten müsse. Daher sei sie zusammen mit ihm und ihrem jüngeren Sohn ausgereist. Zum anderen habe die Polizei ihre Familie unter Druck gesetzt. Hintergrund sei gewesen, dass ihr Bruder sich, als er 13 Jahre alt gewesen sei, der PKK angeschlossen und in den Irak gegangen sei. Sie sei zuletzt im Jahr 2013 in den Irak gereist, um ihren Bruder zu sehen und ihn zurückzuholen. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei habe die Zivilpolizei begonnen, zu ihr nach Hause zu kommen. Die Polizisten hätten sie bedroht und beleidigt. Ihr sei immer wieder vorgehalten worden, dass sie wegen der PKK in den Irak gegangen sei, so dass man sie wegen Beihilfe der PKK ins Gefängnis bringen könne. Auch nachdem ihr Bruder im Jahr 2014 gestorben sei, sei die Polizei weiterhin zu ihr gekommen. Ihr Leben sei sehr eingeschränkt gewesen. Sie sei beleidigt und beschimpft worden. Das letzte Mal, als die Polizisten ca. einen Monat vor ihrer Ausreise zu ihr gekommen seien, hätten sie ihr gesagt, dass der ältere Sohn bald Wehrdienst leisten müsse und dass sie nun diesen Sohn geben müsse, da sie ihren Bruder nicht zur Polizei gebracht habe.
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Mit Bescheid vom 5. August 2024 wurden die Anträge der Antragsteller auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, ihre Asylanträge sowie ihre Anträge auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Ferner wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen sowie die Abschiebung in die Türkei angedroht. Die Ablehnung der Anträge als offensichtlich unbegründet wurde auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gestützt. Denn die Antragstellerin zu 1 habe auf Hinweis des Schleppers ihre Personalpapiere vernichtet, da man sonst mit dem Personalausweis zurück in die Türkei geschickt werden könne. Auf die übrigen Gründe des Bescheids wird Bezug genommen. Der Bescheid wurde ausweislich der Postzustellungsurkunde am 16. August 2024 zugestellt.
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Die Antragsteller haben mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 20. August 2024, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage gegen diesen Bescheid erhoben, über die noch nicht entschieden ist (M 25 K 24.32687). Sie beantragen gleichzeitig:
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Hinsichtlich der Abschiebungsandrohung wird die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, die Entscheidung der Antragsgegnerin, die Asylanträge gemäß § 30 Abs. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, sei rechtswidrig. Die Begründung genüge nicht den Anforderungen der Rechtsprechung. Es sei eine zweigliedrige Begründung geschuldet, die hier aber fehle. Eine eingehende Begründung wäre aber notwendig gewesen. Nach dem Putschversuch im Jahr 2016 sei gegen die HDP ein Verbotsverfahren eingeleitet worden; es werde auch über Razzien und Festnahmen bei Parteifunktionären berichtet.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 23. August 2024,
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den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abzulehnen.
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Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten, auch im Verfahren M 25 K 24.32687, sowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG ist zulässig und begründet.
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Entfaltet ein Rechtsbehelf – wie hier (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG) – von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO anordnen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung, bei der es abzuwägen hat zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheids und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Interessenabwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Eilverfahren gebotene summarische Prüfung, dass die Klage voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Sofern die Klage dagegen bei summarischer Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein wird, tritt das Interesse an der sofortigen Vollziehung zurück.
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Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Fall der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Anknüpfungspunkt zur Frage der Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs durch das Gericht muss daher die Prüfung sein, ob das Bundesamt den Antrag zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Ablehnung auch weiterhin Bestand haben kann.
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Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Gunsten der Antragsteller aus. Nach summarischer Prüfung bestehen ernsthafte Bedenken gegen die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. August 2024. Die auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gestützte Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet dürfte sich als rechtswidrig erweisen. Sie kann nach kursorischer Prüfung auch nicht auf einen anderen Katalogtatbestand des § 30 Abs. 1 AsylG gestützt werden.
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Gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen.
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Zwar gab die Antragstellerin zu 1 in ihrer Anhörung an, ihren Reisepass und ihren Personalausweis auf dem Weg von der Türkei nach Deutschland zerstört zu haben. Die Schleuser hätten sie hierum gebeten. Sie hätten gesagt, dass die Antragsteller, falls sie erwischt würden, mit ihrem Personalausweis zurück in die Türkei geschickt würden.
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Die Zerstörung dieser Personaldokumente erfüllt aber voraussichtlich nicht die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
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Im Hinblick auf den minderjährigen Antragsteller zu 2 ist dies bereits deswegen nicht der Fall, da nach Aktenlage nicht erkennbar ist, dass seine Personaldokumente vernichtet worden sind. Nach den Angaben der Antragstellerin zu 1 in der Anhörung vom 14. März 2024 war nur die Antragstellerin im Besitz eines Reisepasses und eines Personalausweises, die sie auf Anweisung der Schleuser vernichtet hat. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der minderjährige Antragsteller zu 2 im Besitz von Personaldokumenten gewesen ist, die vernichtet worden wären. Jedenfalls wäre es dem Antragsteller zu 2 nicht zurechenbar, wenn die Antragstellerin zu 1 seine etwaig vorhandenen Personaldokumente vernichtet hätte. Denn das mit dem sofortigen Verlust des (vorläufigen) Bleiberechts verbundene Offensichtlichkeitsverdikt nach § 30 Abs. 1 AsylG kommt nur bei einer groben persönlichen Pflichtwidrigkeit des Schutzsuchenden in Betracht. Die sonst im Verfahrensrecht vorgesehene Zurechnung von Vertreterverschulden scheidet daher hierbei aus (vgl. VG Berlin, B.v. 26.7.2024 – 4 L 326/24 A – juris Rn. 10 m.w.N.).
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Im Übrigen sind im Hinblick auf beide Antragsteller die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht gegeben, da die Antragstellerin zu 1 nicht ein Identitäts- oder Reisedokument vernichtet hat, das die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit „ermöglicht hätte“. Die Formulierung „ermöglicht hätte“ impliziert, dass nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu einer Qualifizierung der Ablehnung eines unbegründeten Asylantrags als offensichtlich unbegründet führen soll, sondern allein eine solche, die im Ergebnis die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden ver- oder jedenfalls behindert hat. Denn nur dann ist die Annahme gerechtfertigt, dass gerade das vernichtete oder beseitigte Personaldokument die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit „ermöglicht hätte“. Bestehen aber aus anderen Gründen keine Zweifel an Identität und Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden, hat sich die Vernichtung oder Beseitigung des Personaldokuments nicht auf die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit ausgewirkt (vgl. VG Aachen, B.v. 26.4.2024 – 10 L 265/24.A – juris Rn. 12 ff.; VG München, B.v. 3.7.2024 – M 25 S 24.31967 n.v.; vgl. auch: VG Köln, B.v. 19.4.2024 – 23 L 511/24.A – juris Rn. 10). Für dieses Verständnis der Norm spricht auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die aufgrund des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 26.2.2024, BGBl. 2024 I Nr. 54) neu gefasst worden ist (vgl. Bundestagsdrucksache 20/9463 vom 24.11.2023, S. 56). Die Kombination dieser Formulierung mit dem Wort „mutwillig“ legt zudem nahe, dass von § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG tatbestandlich die Absicht vorausgesetzt wird, durch die entsprechende Handlung die Feststellung der Identität oder Staatsangehörigkeit zu verhindern oder jedenfalls zu erschweren. Der Offensichtlichkeitsausspruch gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG dürfte daher nur dann gerechtfertigt sein, wenn der Schutzsuchende durch die Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments über seine Identität oder Staatsangehörigkeit täuschen will (vgl. hierzu: VG Berlin, a.a.O., Rn. 8; VG Köln, a.a.O., Rn. 7 ff.).
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Im konkreten Fall hat die Antragstellerin zu 1 nicht ein Identitäts- oder Reisedokument vernichtet, das die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit „ermöglicht hätte“. Denn die Vernichtung ihres Reisepasses und ihres Personalausweises hat die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit nach Aktenlage in keiner Weise behindert. Diese Feststellung war auf andere Weise problemlos möglich, da die Antragstellerin zu 1 eine Kopie ihres Personalausweises vorlegen konnte. Zudem hatte sie Kopien ihrer Heiratsurkunde sowie Kopien der Geburtsurkunden ihrer Kinder. Sie machte auch bei ihrer Erstregistrierung am 22. November 2022 keine falschen Angaben zu ihrer Person. Nach Aktenlage hatte die Antragsgegnerin keine Zweifel an der Identität oder Staatsangehörigkeit der Antragsteller, welche durch deren Personaldokumente hätten im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG beseitigt werden können (vgl. hierzu den Aktenvermerk des Sachbearbeiters der Antragsgegnerin vom 5.8.2024, nach dem keine begründeten Zweifel an der angegebenen Herkunft der Antragsteller vorlägen). Überdies ist aus dem Vortrag der Antragstellerin zu 1 oder aus den Akten nicht erkennbar, dass die Antragstellerin zu 1 mit der Vernichtung beabsichtigt hat, die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit zu verhindern. Es ging ihr vielmehr auf Anraten der Schleuser darum, eine etwaige Rückführung in die Türkei unmöglich zu machen.
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Die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet kann nach kursorischer Prüfung auch nicht auf einen anderen Katalogtatbestand des § 30 Abs. 1 AsylG gestützt werden. Wenn auch das Gericht im gerichtlichen Verfahren zum Austausch der Rechtsgrundlage für die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet berechtigt ist (vgl. nur: VG Köln, B.v. 19.4.2024 – 23 L 511/24.A – juris Rn. 12 f.), ist vorliegend kein anderer Fall der abschließend enumerierten Tatbestände des § 30 Abs. 1 AsylG einschlägig. Insbesondere liegen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht vor. Die Antragstellerin zu 1 hat im Asylverfahren nicht nur Umstände im Sinn von § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorgebracht, die für die Prüfung der Asylanträge nicht von Belang sind. Denn sie hat angegeben, dass sie jahrelang von der türkischen Polizei bedroht und belästigt worden sei. Es habe angefangen, als sich ihr Bruder der PKK angeschlossen und in den Irak gegangen sei. Man habe ihr vorgeworfen, dass sie Beihilfe für die PKK leiste. Auch nach dem Tod ihres Bruders im Jahr 2014 bis zu ihrer Ausreise sei sie von der Polizei – auch noch im Zusammenhang mit ihrem Bruder – beschimpft und belästigt worden. Jedenfalls insoweit hat die Antragstellerin zu 1 Umstände vorgebracht, die für die Prüfung ihrer Asylanträge relevant sein können. Insoweit drängt sich die Ablehnung der Asylanträge nicht geradezu auf, so dass § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht greift. Auch die Antragsgegnerin selbst hat dies wohl so gesehen, da sie die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet nicht (hilfsweise oder zusätzlich) auf § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gestützt hat.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).