Titel:
Klage eines türkischen Staatsangehörigen gegen Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1 § 55 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 4
EWG-Türkei Art. 6 Abs. 1, Art. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eigentums- und Vermögensdelikte, die zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen oder die gewerbsmäßig begangen werden oder bei denen sonstige erschwerende Umstände vorliegen, gefährden ein Grundinteresse der Gesellschaft schwer. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatleben wird in der Regel angenommen, wenn der Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm (und seinen Familienangehörigen) wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
4. Es gibt keine unions-, völker- oder verfassungsrechtlich zwingende Regel, nach der ein straffälliger Ausländer absolut davor geschützt werden muss, in seinem Herkunftsland für eine bereits in Deutschland abgeurteilte Straftat ein weiteres Mal verurteilt zu werden und diese Strafe auch verbüßen zu müssen. (Rn. 55) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der dauerhafte Verlust des Kontakts eines Vaters zu seinen minderjährigen Kindern stellt einen besonders schweren Eingriff dar, der im Rahmen der anzustellenden Interessenabwägung besonders schwer wiegt. (Rn. 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Abwägung, Dauerhafte Trennung vom Kind, bandenmäßiger Betrug, spezialpräventive Gründe, faktischer Inländer, Ausweisungsinteresse, Bleibeinteresse, Wiederholungsgefahr, ne bis in idem, ARB 1/80
Fundstelle:
BeckRS 2024, 25713
Tenor
I.Der Bescheid vom 10. Mai 2022 wird aufgehoben.
II.Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der am … … … in München geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
2
Er wuchs mit seinen Eltern und 5 Geschwistern auf. Die Geschwister leben bis auf eine Schwester in Deutschland. Die Eltern sind verstorben. Der Kläger besuchte zuletzt die Hauptschule, welche er 1991 nach der 8. Klasse mit einem Entlassungszeugnis verließ. Nach einem Berufsförderungsjahr und einem Berufsschuljahr begann der Kläger eine Lehre als …mechaniker, welche er abbrach. Die in der Folge begonnene Lehre als … und … brach er ebenfalls ab. Danach übte der Kläger verschiedene Tätigkeiten u.a. in einer Sicherheitsfirma, einer Detektei und einer Tankstelle aus. Im Jahr 2008 wurde der Kläger arbeitslos und versuchte sich selbstständig zu machen. Er beteiligte sich zunächst an einer …firma seiner Schwester. Im Jahr 2011 erwarb er einen Personenbeförderungsschein und war bis zu seiner Inhaftierung am 2. Dezember 2020 in … als Taxifahrer tätig.
3
Der Kläger heiratete im Jahr 2012 eine deutsche Staatsangehörige, mit der er zwei gemeinsame Kinder hat. Diese wurden am … … 2012 und … … 2015 geboren und besitzen jeweils die deutsche und türkische Staatsangehörigkeit. Mitte 2019 trennten sich der Kläger und seine Ehefrau vorübergehend, fanden in der Pandemie jedoch wieder zusammen.
4
Der Kläger ist seit dem 1. Januar 1991 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis.
5
Der Kläger ist im Bundesgebiet wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
6
1. Urteil des … … * vom 3. August 2018, rechtskräftig seit 11. September 2018, 2 Jahre Freiheitsstrafe zur Bewährung wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 2 tatmehrheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zur Amtsanmaßung, in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug.
7
Hintergrund war, dass sich zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt ein anderweitig Verfolgter mit weiteren unbekannten Tätern zusammenschloss, um organisiert und arbeitsteilig Straftaten durch die Masche „falscher Polizeibeamter“ zu begehen und sich hierdurch eine fortlaufende Einnahmequelle von einigem Umfang zu verschaffen. Hierbei wurde aus der Türkei heraus telefonischer Kontakt mit Senioren aufgenommen, wobei sich die Täter als Polizeibeamte ausgaben. Hierbei wurden die Opfer über vermeintliche Einbrüche in der Nähe der jeweiligen Wohnung informiert und mitgeteilt, dass die Wohnungen der Geschädigten ebenfalls gefährdet seien. Im Rahmen mehrerer Aufrufe wurden durch die geschaffenen Vertrauensverhältnisse sowie psychischen Druck die Geschädigten dazu gebracht, größere Summen Bargeld abzuheben und den vermeintlichen Polizeibeamten zur Sicherung zu übergeben. Am 24. Juli 2017 schlossen sich der Kläger und ein weiterer Mittäter der Gruppierung an. Dem Kläger kam dabei die Aufgabe zu, einen Mittäter zur Wohnanschrift der jeweils Geschädigten zu bringen, um die Abholung des Geldes zu ermöglichen und nach der Geldübergabe das erbeutete Bargeld in die Türkei zu überweisen. Innerhalb der Gruppierung nahm er die Aufgaben als Fahrer und Geldkurier wahr. Hierfür erhielt der Kläger einen Anteil des erbeuteten Geldes. Im Einzelnen wurde ein Geschädigter am … Juli 2017 in dieser Art und Weise getäuscht und übergab insgesamt 22.000 EUR. Der Kläger fuhr einen Mittäter zur Adresse des Geschädigten, wo dieser das Geld in Empfang nahm. Danach überwies der Kläger einen Teilbetrag an ein weiteres Mitglied der Gruppierung. Der Kläger erhielt hierfür eine Vergütung in Höhe von 1.800 EUR. Ferner wurde ein weiterer Geschädigter am *. August 2017 in entsprechender Art und Weise dazu gebracht, insgesamt 15.000 EUR zu übergeben. Dem Kläger kam wiederum die Aufgabe des Fahrers zu. Danach brachte der Kläger einen Teil des Bargelds per Flugzeug in die Türkei und übergab sie weiteren Mitgliedern der Gruppierung. Der Kläger erhielt hierfür eine Vergütung in Höhe von 2.500 EUR. Am … September 2017 wurde ein weiterer Geschädigter in der gleichen Art und Weise zur Übergabe von insgesamt 7.400 EUR gebracht. Hierbei kam dem Kläger die Aufgabe zu, einen Teil des erbeuteten Bargelds an ein Mitglied der Gruppe zu transferieren.
8
Im Rahmen der Strafzumessung wurde kein minder schwerer Fall angenommen. Ein solcher wurde auch nicht vor dem Hintergrund einer damals bestehenden Spielsucht angenommen. Zugunsten des Klägers wurde gewertet, dass der Kläger mit der Einziehung ihm gehörender Gegenstände einverstanden war, die Taten der Befriedigung seiner Spielsucht dienten und sich die eigene Tatbeteiligung in der Unterstützung beim Abholen des Geldes und der Weiterleitung der Tatbeute erschöpfte. Ferner wurde erheblich zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass sich der Kläger freiwillig und ohne Fahndungsdruck oder anwaltliche Beratung den Polizeibehörden stellte, mit diesen kooperierte und bereits in einem sehr frühen Verfahrensstadium vollumfänglich geständig war. Dieses sei von Schuldeinsicht und Reue geprägt gewesen. Ferner wurde gewertet, dass er in einem Fall durch einen Rücktritt vom Versuch, welcher durch die Staatsanwaltschaft nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt worden sei, die Schädigung eines weiteren Opfers verhinderte. Zudem wurde berücksichtigt, dass der Kläger Schadenswiedergutmachung in Höhe von 1.000 EUR geleistet hat. Es wurde jedoch ebenfalls berücksichtigt, dass bei dem deliktstypischen konspirativen Verhalten eine erhebliche kriminelle Energie aufgewendet wurde. Besonders ins Gewicht fiel zudem die tateinheitlich begangene Beihilfe zur Amtsanmaßung, wodurch das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Institution der Polizei nachhaltig beschädigt wurde. Ferner wurde berücksichtigt, dass die Opfer teilweise noch heute unter Angst leiden, nachts nach draußen zu gehen, bzw. sich aus Scham bislang niemandem anvertraut haben. Es wurde gesehen, dass auch generalpräventive Aspekte eine Verfolgung derartiger Taten, welche unter Ausnutzung des Vertrauens in die Staatsgewalt begangen werden, erfordern. Gewichtet wurde zudem, dass in erheblichem Umfang finanzieller Schaden eingetreten ist und dass mühsam Ersparte unwiederbringlich verloren ist. Die Freiheitsstrafe wurde in der Erwartung zur Bewährung ausgesetzt, dass die Verurteilung als Warnung genügt und er künftig nicht mehr straffällig wird. Der Kläger sei sozial integriert und während seines gesamten Berufslebens zumeist einer geregelten Arbeit nachgegangen. Er habe die Absicht geäußert, seine Glücksspielabhängigkeit zu bekämpfen. Er sei verheiratet und habe 2 Kinder. Aufgrund der Tatsache, dass sich der Kläger ohne Druck allein aufgrund seines schlechten Gewissens gestellt hat, und aufgrund des Eindrucks in der Hauptverhandlung sowie der Tatsache, dass der Kläger bislang nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, hatte die erkennende Kammer genug Anhaltspunkte, um von einer günstigen Sozialprognose auszugehen.
9
Aufgrund dieser Verurteilung wurde der Kläger mit Schreiben vom 13. November 2018 zu einer möglichen Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland angehört. Im Rahmen seiner Stellungnahme vom 19. November 2018 gab der Kläger an, dass er seit seiner Geburt in Deutschland lebe und seine ganze Familie hier sei. Zu seiner Verwandtschaft in der Türkei habe er nur selten Kontakt. Die Straftat sei auf seine Spielsucht zurückzuführen. Er habe sich durch seinen Neffen zu der Tat überreden lassen. Ihm sei zunächst nicht klar gewesen, worum es gehe. Als er dies erkannt habe, habe er sich selbst der Polizei gestellt. Es tue ihm sehr leid, was geschehen sei, und er wolle künftig straffrei leben. Mit Schreiben vom 12. Dezember 2018 teilte die Beklagte mit, dass von einer Ausweisung abgesehen werde, jedoch im Falle einer erneuten Straffälligkeit mit einer Ausweisung gerechnet werden müsse.
10
2. Urteil des Landgerichts … vom *. August 2021, rechtskräftig seit 13. Januar 2022, 5 Jahre und 6 Monate Freiheitsstrafe wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 2 Fällen.
11
Hintergrund war, dass der Kläger jedenfalls im September 2020 Mitglied einer Gruppierung um den anderweitig Verfolgten O. war, welche die Absicht hatte, wiederholt durch Anrufe vermeintlicher Polizeibeamter vorwiegend Senioren um hohe Geldsummen zu betrügen. Der Kläger war bereits im Jahr 2017 Mitglied einer Gruppierung um den anderweitig Verfolgten O., die sich zum gleichen Zweck zusammengeschlossen hatte. Der O. und unbekannte weitere Mittäter wählten von der Türkei aus vornehmlich Senioren in Deutschland aus und haben diese auf ihren Festnetztelefonen angerufen. Dabei wird auf dem angerufenen Telefon mit technischen Mitteln (sog. Spoofing) nicht die tatsächliche Rufnummer des Anrufers angezeigt, sondern eine von den Tätern frei wählbare Rufnummer. Auf diese Weise wird die wahre Identität des Anrufers verschleiert und es wird vorgetäuscht, der Anruf stamme aus einer vertrauenswürdigen Quelle bzw. von der Polizei. Die vermutlich aus einem Callcenter in der Türkei heraus agierenden Anrufer geben sich bei den Geschädigten als Polizeibeamte oder Staatsanwälte aus. Den Geschädigten wurde entweder vorgetäuscht, dass in ihrer Nachbarschaft eingebrochen worden sei und Hinweise bestünden, dass auch die jeweils Geschädigten unter den künftigen Einbruchsopfern seien, oder, dass Falschgeld im Umlauf sei und das Bargeld der Geschädigten daher überprüft werden müsse. Darüber hinaus wurde den Geschädigten oftmals auch vorgespiegelt, dass ein Mitarbeiter der Hausbank der Geschädigten mit den Tätern kooperieren würde bzw. das Geld der Geschädigten gegen Falschgeld austauschen würde. Um die vermeintlichen Täter überführen zu können, sollten die Geschädigten Geld an Abholer aushändigen bzw. das Geld für diese zur Abholung bereitlegen. Das erbeutete Geld wurde anschließend entweder an den O. oder andere Bandenmitglieder in der Türkei übermittelt. Der Kläger übernahm hierbei die Aufgabe des Transporteurs oder Beförderers des Geldes oder des Abholers. Auf diese Weise wurde eine Geschädigte am … September 2020 dazu gebracht, insgesamt 15.500 EUR den Tätern zu überlassen. Der Kläger wurde hierbei zur Entgegennahme und Beförderung des durch einen unbekannten Mittäter abgeholten Geldes eingesetzt. Am … September 2020 wurde eine anderweitig Geschädigte in der beschriebenen Art und Weise dazu gebracht, einen Briefumschlag mit insgesamt 66.000 EUR Bargeld vor ihrer Tür zu deponieren. Dieses wurde dort von dem Kläger abgeholt und nach München gebracht. In beiden Fällen erhielt der Kläger eine Belohnung im 4-stelligen Bereich. Der Kläger flog am … September 2020 in die Türkei, wo er die Tatbeute an den O. übergab.
12
Der Kläger hat sich zum Tatgeschehen nicht eingelassen. Er befand sich ab Oktober 2020 in einer finanziell prekären Lage, da er infolge der Corona-Pandemie mit seiner Tätigkeit als Taxifahrer nur noch Umsätze im Bereich zwischen 40 EUR und 150 EUR erzielen konnte. Im Rahmen der Strafzumessung wurde kein minder schwerer Fall angenommen. Die Strafkammer hat berücksichtigt, dass der Kläger mit einem Widerruf der zur Bewährung ausgesetzten Strafe aus einem früheren Verfahren zu rechnen hat. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass der Kläger bereits einschlägig vorbestraft war und die Taten unter einer laufenden einschlägigen Bewährung begangen hat. Ferner hat er das Vertrauen der Bevölkerung in die Strafverfolgungsbehörden ausgenutzt sowie einen hohen Schaden verursacht und bei einer Geschädigten psychische Folgen ausgelöst.
13
Wegen dieser Tat befand sich der Kläger ab dem 2. Dezember 2020 zunächst in Untersuchungshaft und ab dem 13. Januar 2022 in Strafhaft.
14
Mit Schreiben jeweils vom 7. März 2022 wurden der Kläger sowie seine Ehefrau zur möglichen Ausweisung angehört.
15
Hierzu nahm die Ehefrau des Klägers mit Schreiben vom 21. März 2022 Stellung. Sie sei seit dem … … 2013 (sic) mit dem Kläger verheiratet und halte an der Beziehung fest. Sie besuche ihn in der Haft, so oft es möglich sei, und es bestehe reger Briefkontakt zwischen dem Kläger und seinen Töchtern. Die Große schreibe Briefe und die Kleine male Bilder für ihn. Ferner bestehe Kontakt über Skype und sie wolle, sobald dies möglich sei, den Kläger mit den Kindern besuchen. Der Kläger habe das Sorgerecht für beide Kinder und sich auch vor der Inhaftierung an der Erziehung beteiligt, was derzeit nur eingeschränkt möglich sei. Sie selbst sowie die Kinder seien deutsche Staatsangehörige und hätten kein Interesse, im Ausland zu leben. Sie arbeite in einer Steuerkanzlei und die Kinder seien in der Schule. Die kleinere Tochter leide an einer Sprachentwicklungsverzögerung. Die Kinder seien der türkischen Sprache nicht mächtig. Sie befürchte, dass der Kläger im Falle einer Abschiebung wieder auf die schiefe Bahn gerate, da ihm in der Türkei der familiäre Rückhalt fehle.
16
In einem Führungsbericht vom 25. März 2022 teilte die Justizvollzugsanstalt … … … mit, dass der Kläger erst zum 24. Januar 2022 dorthin verlegt worden sei. Aufgrund der kurzen Verweildauer und pandemiebedingter Einschränkungen habe ihm bislang keine Arbeit zugewiesen werden können. Er trete ruhig und höflich auf und stelle keine besonderen Ansprüche. Das Verhalten sei sowohl aktuell als auch in der Voranstalt beanstandungsfrei. Nach seiner Entlassung wolle der Kläger wieder bei seiner Ehefrau leben. Eine Suchtproblematik habe nicht festgestellt werden können.
17
Mit Schreiben vom 2. Mai 2022 nahm der Bevollmächtigte des Klägers zur beabsichtigten Ausweisung Stellung. Hierbei teilte dieser mit, dass die Staatsanwaltschaft den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus der früheren Verurteilung beantragt habe. In der Türkei lebe eine Schwester des Klägers, zu welcher er aufgrund familiärer Probleme keinen Kontakt mehr habe. Der Kläger sei in Deutschland aufgewachsen und spreche perfekt Deutsch. Die türkische Sprache spreche er rudimentär. Der Kläger sei verheiratet und habe 2 Kinder. Zu diesen bestehe trotz der erneuten Straffälligkeit eine sehr enge Beziehung. Im Falle einer Haftentlassung wolle der Kläger zu seiner Familie zurückkehren. Es bestehe zudem ein guter familiärer Zusammenhalt mit den in Deutschland lebenden Geschwistern des Klägers. Die Straffälligkeit des Klägers hänge mit seiner Spielsucht zusammen. Diese sei bereits Gegenstand des ersten Strafverfahrens gewesen. Daher sei Teil der Bewährungsauflagen eine Therapie der Spielsucht gewesen, welche auch erfolgt sei. Der Kläger werde seine Zeit in der Justizvollzugsanstalt nutzen, um eine Berufsausbildung zu absolvieren. Derzeit sei noch unklar, in welche Richtung diese gehen solle. Nach seiner Haftentlassung wolle sich der Kläger um eine Anstellung in einem entsprechenden Beruf bemühen. Es bestehe eine intensive Verwurzelung und Bindung zu seiner Familie in Deutschland, insbesondere zur Ehefrau und den beiden Kindern, welche deutsche Staatsangehörige seien. Vor diesem Hintergrund überwiege das persönliche Interesse des Klägers insbesondere nach Art. 8 EMRK und Art. 6 GG das öffentliche Interesse an der Ausweisung. Der Kläger verfüge über keine tragfähige soziale Bindung in seinem Herkunftsland, in dem er auch nicht geboren worden sei. Auch vor diesem Hintergrund sei eine Abschiebung in die Türkei nicht verhältnismäßig.
18
Mit Bescheid vom 10. Mai 2022, zugestellt am 12. Mai 2022, wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen, welches unter der Bedingung der Straffreiheit auf 7 Jahre, andernfalls auf 9 Jahre ab der Ausreise befristet wurde (Ziffer 2). Es wurde die Abschiebung in die Türkei aus der Haft angekündigt. Für den Fall der Haftentlassung vor Durchführung der Abschiebung wurde der Kläger verpflichtet, das Bundesgebiet innerhalb von 4 Wochen nach Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen und andernfalls die Abschiebung zuvorderst in die Türkei angedroht (Ziffer 3). Vom Kläger gehe eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre und die Ausweisung unerlässlich mache. Es werde davon ausgegangen, dass der Kläger assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 sowie Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 sei. Die Annahme einer schwerwiegenden Gefahr durch das Verhalten des Klägers ergebe sich aus der Mitgliedschaft in einer Gruppierung, welche gezielt Betrugsstraftaten begehe, weswegen der Kläger auch zuletzt zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden sei. Der Kläger sei bereits zuvor einschlägig zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren auf Bewährung verurteilt worden. Die damals vom Strafgericht getroffene günstige Sozialprognose habe sich als Fehleinschätzung erwiesen. Der Kläger sei trotz einer zudem erfolgten ausländerrechtlichen Verwarnung erneut durch die Begehung gleichgearteter Betrugsdelikte mit den gleichen Mittätern straffällig geworden. Auch der drohende Bewährungswiderruf habe ihn nicht abhalten können. Nachdem keine Suchterkrankung vorliege, seien die Straftaten aus reiner Gewinnerzielungsabsicht begangen worden. Es bestünden Schulden in Höhe von 40.000 EUR, sodass die Begehung weiterer ähnlich gelagerter Straftaten nach Haftentlassung zu befürchten sei. Der Kläger sei offenbar Teil eines größeren international agierenden Netzwerks. Es sei trotz der erstmaligen Verbüßung einer Haftstrafe nicht von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr auszugehen, da er sich auch durch einen drohenden Bewährungswiderruf von der Begehung der letzten Straftat nicht habe abhalten lassen. Der Kläger erfülle durch die Verurteilung ein besonders schweres Ausweisungsinteresse. Ferner wiege das Bleibeinteresse des Klägers besonders schwer, da er eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mindestens 5 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zudem habe er bis zu seiner Inhaftierung das Personensorgerecht für seine minderjährigen deutschen Kinder ausgeübt. Aus spezialpräventiven Gesichtspunkten insbesondere zur Bekämpfung von Schwerkriminalität überwiege vorliegend das Ausweisungsinteresse. Der Kläger sei zwar im Bundesgebiet geboren worden, habe die Schule besucht und die meiste Zeit gearbeitet. Ferner sei er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und habe 2 deutsche Kinder. Zuletzt habe er getrennt von seiner Frau gelebt, plane nach der Haftentlassung jedoch zu seiner Familie zurückzukehren. Ihm werde der Status des faktischen Inländers zuerkannt. Dennoch sei ihm aufgrund der massiven Straffälligkeit eine zeitweise Ausreise zuzumuten. Zwar habe der Kläger angegeben, über keine Bindungen in der Türkei zu verfügen, jedoch habe er sämtliche Straftaten zusammen mit seinem Neffen O. begangen, welcher in der Türkei lebe, und er sei mindestens zweimal selbst in die Türkei geflogen, um das erbeutete Geld zu übergeben. Der Kläger sei ausweislich der strafrechtlichen Ermittlungen der türkischen Sprache mächtig, da er beispielsweise längere Telefonate auf Türkisch mit seiner Ehefrau geführt habe. Türkisch sei offensichtlich die Sprache, die er zu Hause mit seiner Ehefrau spreche. Es werde nicht verkannt, dass der Kläger seit über 40 Jahren in Deutschland lebe, sich integriert und eine Kernfamilie gegründet habe. Dennoch sei er innerhalb von 3 Jahren massiv straffällig geworden und zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Weder die Freiheitsstrafe, die im ersten Verfahren zur Bewährung ausgesetzt worden sei, noch die ausländerrechtliche Verwarnung hätten zu einer Verhaltensänderung geführt. Er habe lediglich 2 Jahre nach der Verurteilung exakt die gleichen Straftaten erneut begangen, wobei ihm aufgrund der Verwarnung bewusst gewesen sei, dass dies zu einer Beendigung seines Aufenthalts führen könne. Es sei ihm daher zuzumuten, zeitweise in der Türkei zu leben. Er könne seine dortigen Kontakte nutzen, um einen ersten Anlaufpunkt zu haben. Als ungelernte Arbeitskraft sei es in Deutschland wie in der Türkei gleich schwierig, Arbeit zu finden. Soweit er eine Berufsausbildung während der Haft abschließe, komme ihm dies auch in der Türkei zugute. Es werde nicht verkannt, dass die Ausweisung nach dem langen Aufenthalt in Deutschland eine Härte darstelle, welche jedoch nicht außer Verhältnis zum Zweck der Verhinderung weiterer Straftaten stehe. Auch Art. 6 GG mit Blick auf die deutsche Ehefrau und die deutschen Töchter führe zu keinem anderen Ergebnis. Es sei insoweit maßgeblich auf die Sicht der Kinder abzustellen. Der Kläger habe vor seiner Inhaftierung etwa eineinhalb Jahre getrennt von seiner Ehefrau gelebt, sich mit dieser aber wieder versöhnt. Es sei damit davon auszugehen, dass zwischen ihm und den Kindern eine Beistandsgemeinschaft bestanden habe und weiterhin ein gutes Verhältnis zu den Kindern bestehe. Für diese wäre es optimal, beide Elternteile als Ansprechpartner um sich zu haben. Dennoch sei der Kläger zweimal massiv straffällig geworden. Die letzte Tat habe er unter offener Bewährung begangen, obwohl ihm bewusst gewesen sei, welche Konsequenzen dies für ihn und seine Familie mit sich bringen könne. Er befinde sich bereits seit Dezember 2020 in Haft und könne sich seither nicht mehr an der Erziehung der Kinder beteiligen. Es sei zudem mit einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung aus der Verurteilung aus dem Jahr 2018 zu rechnen. Daher könne der Kläger über viele Jahre seinen Erziehungsbeitrag nur aus der Distanz leisten. Dies sei auch nach der Haftentlassung von der Türkei aus möglich. Dies sei dem Kläger und seinen Kindern aufgrund der massiven Delinquenz auch zuzumuten. Bis zur Haftentlassung, welche wohl frühestens im Mai 2026 zu erwarten sei, seien beide Töchter in einem Alter, in dem Besuche in der Türkei auch ohne Begleitung möglich seien. Dies stelle für die Kinder eine Härte dar, jedoch sei keine außergewöhnliche Härte erkennbar. Im Rahmen der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei dem langjährigen Aufenthalt und den familiären Bindungen durch eine Befristung auf 7 Jahre Rechnung getragen worden. Zur Abmilderung etwaiger Härten bestehe überdies die Möglichkeit, Betretenserlaubnisse zu beantragen. Das Ergebnis der Abwägung sei auch verhältnismäßig.
19
Hiergegen hat der Kläger am *. Juni 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
20
den Bescheid der Beklagten vom 10. Mai 2022 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verkürzen.
21
Zur Begründung trug der Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom *. September 2022 vor, dass die Voraussetzungen für eine Ausweisung nicht vorlägen. Es bestehe bereits keine Gefährdungslage, die Bleibeinteressen würden das Ausweisungsinteresse überwiegen und die Ausweisung sei insgesamt unverhältnismäßig. Eine erfolgte Straffälligkeit spreche nicht automatisch für eine Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei vom erstmaligen Strafvollzug nachhaltig beeindruckt. Das vollzugliche Verhalten des Klägers sei beanstandungsfrei. Der Kläger sei fest in seine Kernfamilie in Deutschland eingebunden. Die Ehefrau besuche den Kläger regelmäßig mit den beiden Kindern. Zudem gebe es Kontakt zu den Kindern im Rahmen einer Vater-Kind-Gruppe sowie von Telefonaten und Briefen. Aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage im Großraum München werde der Kläger unproblematisch eine Arbeitsstelle finden. Aus den Urteilsgründen ergebe sich, dass Motiv der Tat die finanzielle Situation seit Beginn der Corona-Pandemie gewesen sei, weshalb er als Taxifahrer erhebliche Umsatzeinbußen erlitten habe. Aktuell sei nicht mehr damit zu rechnen, dass die Corona-Situation die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Klägers beeinträchtige. Eine therapiebedürftige Suchtproblematik liege nicht vor. Die Beklagte habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger faktischer Inländer sei und in Deutschland eine Kernfamilie begründet habe. Diese bestehe weiterhin. Auch die Geschwister des Klägers lebten in Deutschland, während in der Türkei nur Kontakt zu den früheren Mittätern bestünde. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass eine Ausreise des Klägers die Resozialisierung erheblich erschweren würde, da die begangenen Betrugsdelikte maßgeblich aus der Türkei heraus geplant und durchgeführt worden seien. Infolge der Ausweisung gerate der Kläger gerade in das Umfeld, welches maßgeblich mit den begangenen Straftaten zusammenhänge. Zu berücksichtigen sei auch die wirtschaftlich schlechte Lage in der Türkei. Die Inflation habe dort zuletzt bei 170% gelegen. Auch dies führe zu einer erschwerten Resozialisierung und damit erhöhten Wiederholungsgefahr. Dies sei hinsichtlich der Integrationsfähigkeit des Klägers in der Türkei nur unzureichend berücksichtigt worden. Die Beklagte verweise lediglich auf die Kenntnisse der türkischen Sprache sowie die familiäre Bindung zu einem früheren Mittäter. Soweit davon ausgegangen werde, dass die Lebensverhältnisse in der Türkei nicht mehr wesentlich unterschiedlich von denen in Deutschland seien, sei dies unzutreffend. Die Beklagte habe im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen außer Acht gelassen, dass im Falle einer Abschiebung eine Doppelbestrafung drohe. Die entsprechenden Betrugsstraftaten würden inzwischen auch regelmäßig von den türkischen Strafverfolgungsbehörden verfolgt. Insoweit komme es zu Festnahmen und Anklagen in der Türkei. Es sei vorliegend damit zu rechnen, dass die türkischen Strafverfolgungsbehörden von der Straftat des Klägers bereits Kenntnis erlangt hätten, da ein reger Austausch zwischen Deutschland und der Türkei stattfinde. Die Beklagte wäre daher verpflichtet gewesen, aufzuklären, ob und mit welchen weiteren Strafen der Kläger in der Türkei zu rechnen habe und inwieweit eine Anrechnung der in Deutschland verbüßten Strafhaft erfolge. Eine weitere Freiheitsstrafe in der Türkei hätte zur Folge, dass der Kontakt zwischen dem Kläger seiner Frau und den Kindern zum Erliegen komme. Anders als in Deutschland seien aus Kostengründen keine regelmäßigen Haftbesuche möglich. Auch Anrufe seien nur begrenzt möglich, sodass ein Erziehungsbeitrag als Vater kaum leistbar wäre. Dies führe zu einer unzumutbaren weiteren Beeinträchtigung des Familienlebens und des Kindeswohls. Ferner wäre zu befürchten, dass die Freiheitsstrafe sogar länger ausfalle als die verfügte Einreisesperre. Auch dies führe zu einer Unzumutbarkeit der Ausweisung. Die Ausweisung sei insgesamt unverhältnismäßig. Zum einen sei die Beklagte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Ausweisung dem Zweck der Verhinderung weiterer Betäubungsmittelstraftaten diene. Solche habe der Kläger nie begangen, die Beklagte sei von einem falschen Sachverhalt ausgegangen. Selbst unter Zugrundelegung der Verhinderung weiterer Betrugsdelikte könne dieses Ziel nicht erreicht werden. Vielmehr bestehe im Falle einer Ausweisung eine weitaus größere Gefahr für die beeinträchtigten Rechtsgüter in Deutschland. Eine etwaige Wiederholungsgefahr sei in der Türkei ungleich höher als in Deutschland, da dort kein entsprechendes stabilisierendes familiäres Umfeld bestehe. Der Neffe des Klägers sei der frühere Mittäter und ein Hauptverdächtiger. Auch die wirtschaftliche Situation der Türkei wäre für den Kläger deutlich prekärer. Soweit es zu einer erneuten einschlägigen Straffälligkeit des Klägers in der Türkei komme, führe dies zu einer weiterhin erheblichen Gefährdung von Rechtsgütern in Deutschland, da die abgeurteilten Betrugsstraftaten im Wesentlichen aus der Türkei heraus beauftragt, koordiniert und durchgeführt worden seien. Auch die Tatbeute sei dorthin verbracht worden. Die Ausweisung sei damit nicht geeignet, weitere gleich gelagerte Straftaten in Deutschland zu verhindern. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sei rechtswidrig, da bereits nicht hervorgehe, von welcher maximalen Befristung die Beklagte ausgegangen sei und inwieweit diese durch die familiären Bindungen im Bundesgebiet reduziert worden sei. Nachdem die abschließende Befristungsentscheidung auf 7 bzw. 9 Jahre abstelle, sei davon auszugehen, dass die maximale Befristung von einer Dauer von 10 Jahren angelegt worden sei. Die Prognose einer weiteren Gefährlichkeit des Klägers über einen Zeitraum von 10 Jahren sei rechtswidrig. Dies gelte insbesondere auch unter der Berücksichtigung der Interessen der Kinder.
22
Die Beklagte hat am 20. Juni 2022 beantragt,
24
Ausweislich eines Führungsberichts vom 22. Dezember 2022 war der Kläger im Zeitraum vom 31. März 2022 bis 25. Juli 2022 in der Anstaltsküche tätig. Seither sei er für eine Tätigkeit in einem Malereibetrieb eingeteilt. Er wirke natürlich, ruhig, freundlich und höflich. Er sei arbeitswillig, gewissenhaft und zeige eine gute Arbeitsleistung. Das Verhalten im Strafvollzug sei in disziplinarischer Hinsicht bisher beanstandungsfrei. Er habe sich für eine Ausbildung als Zerspanungsmechniker beworben. Aufgrund der fehlenden Eignung hinsichtlich einer Verlegung in den offenen Vollzug sei die Umschulung derzeit jedoch nicht möglich. Der Kläger nehme seit dem 1. Juli 2022 an der hiesigen Vater-Kind-Gruppe teil. Er erhalte regelmäßig Besuch durch Familie und Freunde und führe monatliche Telefonate mit seiner Ehefrau. Hierzu wurden entsprechende Besuchslisten beigefügt. Der fachpsychologische Dienst habe die Notwendigkeit therapeutischer Behandlungsmaßnahmen nicht festgestellt. Im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens habe sich der Kläger bereit erklärt, den Geschädigten spätestens nach der Haftentlassung Schadenersatz in Höhe von 15.500 EUR zukommen zu lassen. Ausweislich einer beigefügten Haftzeitübersicht ist als Haftende – nach dem mittlerweile erfolgten Widerruf der Bewährungsentscheidung vom 3. August 2018 – der 29. Mai 2028 vorgesehen.
25
Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2023 nahm die Beklagte zur Begründung ihres Antrags auf Klageabweisung auf den streitgegenständlichen Bescheid Bezug. Zudem wurde hinsichtlich einer möglichen Doppelbestrafung in der Türkei auf eine Stellungnahme des Auswärtigen Amts vom 13. Dezember 2018 verwiesen. Danach falle die vom Kläger in Deutschland begangene Betrugsstraftat nicht unter die Straftaten, welche bei einer Rückkehr in die Türkei verfolgt werden könnten. Ferner würde jedenfalls eine in Deutschland verbüßte Haftstrafe angerechnet. Zudem liege der Strafrahmen bei Betrugsstraftaten in der Türkei bei maximal fünf Jahren und damit unterhalb der in Deutschland verhängten Freiheitsstrafe. Der Beklagten sei zudem kein einziger Fall der letzten 20 Jahre bekannt, in dem in die Türkei abgeschobene Personen dort aufgrund einer in Deutschland begangenen Straftat erneut strafrechtlich belangt worden seien. Insoweit gehe die Beklagte weiter davon aus, dass im Rahmen der anzustellenden Abwägung der Interessen das Interesse an der Ausreise des Klägers überwiege.
26
Mit Schriftsatz vom … Februar 2023 erwiderte der Bevollmächtigte des Klägers, dass die Auffassung der Beklagten, in der Türkei drohe keine weitere Bestrafung, nicht nachvollziehbar sei. Die Beklagte habe weder ein Sachverständigengutachten noch eine Stellungnahme des Bundesamts eingeholt, um den Sachverhalt hinsichtlich einer möglichen Doppelbestrafung weiter aufzuklären. Woher sie ihre Expertise zur Auslegung des türkischen Rechts nehme, werde ebenfalls nicht mitgeteilt. Die Beklagte gehe von einer unzutreffenden Auslegung des türkischen Strafrechts aus, was bereits dadurch deutlich werde, dass sie von einer maximalen Freiheitsstrafe von 5 Jahren ausgehe. Tatsächlich hätten türkische Gerichte erst kürzlich deutlich höhere Freiheitsstrafen im Rahmen von Verurteilungen unter Verwendung der Masche „falscher Polizist“ verhängt. Allein aufgrund der Tatsache, dass der Kläger in Deutschland mehr als 5 Jahre Freiheitsstrafe erhalten habe, sei zu befürchten, dass in der Türkei eine deutlich höhere Freiheitsstrafe zu erwarten sei, da türkische Strafgerichte deutlich härter verurteilen würden als deutsche Gerichte. In dem Strafverfahren des Klägers habe es bereits eine enge Zusammenarbeit zwischen der Kriminalpolizei München und der türkischen Polizei gegeben. Bislang seien einige Hintermänner der Straftaten nicht ermittelt worden. Auch hieraus ergebe sich ein Interesse der türkischen Behörden, die Mittäter zu ermitteln. Hierbei seien Ermittlungen und eine Anklage gegen den Kläger aus Sicht der türkischen Behörden sicher hilfreich. Der Kläger habe zudem die Tatbeute in die Türkei verbracht, sodass nach türkischem Recht weitere Straftatbestände in Betracht kommen könnten. Insgesamt habe der türkische Staat ein sehr hohes Interesse daran, den Kläger zu verurteilen. Soweit die Beklagte mitgeteilt habe, ihr sei kein Fall der Doppelbestrafung bekannt, habe dies keine Relevanz. In der Türkei sei bereits in der Vergangenheit die EMRK teilweise ausgesetzt worden. Es erscheine daher äußerst fragwürdig, ob die Türkei tatsächlich keine Doppelbestrafung vornehme. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung komme es entscheidend darauf an, ob dem Kläger eine Doppelbestrafung drohe und wenn ja, in welcher Höhe. Insbesondere sei auch das noch sehr junge Alter der Kinder zu berücksichtigen. Die unzureichende Sachverhaltsaufklärung wirke sich zudem auf die Befristungsentscheidung der Beklagten aus.
27
Auf Anforderung des Gerichts legte die Beklagte am 23. Februar 2023 die in Bezug genommene Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 13. Dezember 2018 vor.
28
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 29. März 2023 wurde zur Frage der Möglichkeit und des Umfangs einer weiteren Verurteilung des Klägers in der Türkei durch Einholung eines Rechtsgutachtens Beweis erhoben. Ausweislich des Gutachtens der Universität K* … vom 7. November 2023 habe sich der Kläger aufgrund der mit Strafurteil festgestellten Sachverhalte in der Türkei des Betrugs als Gewohnheitsverbrecher strafbar gemacht. Der Strafverfolgung stehe vorliegend der Grundsatz „ne bis in idem“ nicht entgegen. Eine Verjährung der Straftaten sei auch bei einer Entlassung und Überstellung in die Türkei nach dem 29. Mai 2028 nicht gegeben. Der mögliche maximale Strafrahmen liege im vorliegenden Fall bei einer Freiheitsstrafe zwischen 32 und 40 Jahren, wobei die in Deutschland verbüßte Haftstrafe abgezogen würde. Auf Grundlage qualitativer empirischer Befragungen sei abhängig vom Verfahrensstandort die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren im vorliegenden Fall realistisch. Die Anklagewahrscheinlichkeit bei Betrugsdelikten liege in der Türkei allgemein bei etwa 22%. Hinsichtlich der Verfolgungswahrscheinlichkeit sei aufgrund der vorliegend in Frage stehenden Deliktsbegehung eher davon auszugehen, dass gerade in solchen Sachverhaltslagen intensiv ermittelt werde, um die Bildung krimineller Vereinigungen zur gewerbsmäßigen Begehung schweren Bandenbetrugs zu unterbinden.
29
Mit Schriftsatz vom 15. Februar 2024 führte die Beklagte ergänzend aus, dass selbst im Falle einer erneuten Verurteilung vorliegend keine unzulässige unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung im Sinne des Art. 3 EMRK vorliege. Die Verurteilung würde eine gewisse Härte darstellen, sei angesichts des Gewichts der begangenen Straftat jedoch keine unangemessene Folge. Eine Anklagewahrscheinlichkeit liege bei lediglich 20%. Hinsichtlich einer realistischen Strafdauer von 20 Jahren sei zudem eine frühere Strafaussetzung zur Bewährung denkbar. Auch mit Blick auf die familiären Bindungen im Bundesgebiet liege gleichwohl keine unangemessene Härte vor. Nach derzeitigem Stand erscheine eine Abschiebung im Jahr 2027 realistisch. Zu diesem Zeitpunkt seien die Kinder 15 und 12 Jahre alt. Unter Berücksichtigung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, welches auf 5 Jahre festgesetzt werde, seien die Kinder bei dessen Ablauf 20 bzw. 17 Jahre alt. Soweit es zu einer erneuten Verurteilung in der Türkei komme, seien die Kinder volljährig bzw. fast volljährig und an ein Leben ohne den direkten und ständigen Beistand des Vaters gewöhnt. Die derzeitigen Besuche müssten durch moderne Kommunikationsmittel ersetzt werden. So könne der Kontakt zu der Familie weiterhin aufrechterhalten bleiben. Diese Folgen seien dem Kläger und der Familie zuzumuten, da durch die begangenen Straftaten das Vertrauen der Bevölkerung in die Institution der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden ausgenutzt und vulnerable Personen teilweise um ihr ganzes Erspartes gebracht worden seien. Nach der ersten Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe sei dem Kläger bewusst gewesen, welche Konsequenzen er zu erwarten habe. Weder dies noch die Familie hätten ihn zu einem straffreien Leben bewegt. Angesichts des fortwährenden Kontakts des Klägers zu seinen Töchtern und der Ehefrau werde die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter der Bedingung der nachgewiesenen Straffreiheit nunmehr auf 5 Jahre befristet. Beigefügt war eine Mitteilung der Justizvollzugsanstalt, wonach der Kläger die möglichen Besuchstermine mit Ehefrau und Kindern voll ausnutzt und auch die Möglichkeit von Telefonaten wahrnimmt.
30
Ausweislich eines Führungsberichts vom 22. April 2024 sei der Kläger weiterhin im Malerbetrieb der Anstalt beschäftigt. Er verhalte sich überwiegend freundlich, höflich und zurückhaltend. Am 4. Mai 2023 sei er mit einer einmonatigen Einkaufssperre zur Bewährung disziplinarisch geahndet worden, da er unerlaubt Lebensmittel eines Mitgefangenen an sich genommen habe. Eine durchgeführte Alkoholkontrolle sei ohne Ergebnis gewesen. Die Entlassungssituation des Klägers stelle sich unverändert dar. Der Kläger könne in den familiären Wohnraum zurückkehren. Er nutze das Besuchs- und Telefonkontingent für den Kontakt mit seiner Familie und nehme weiterhin an der Vater-Kind-Gruppe teil.
31
Mit Schriftsatz vom … Juni 2024 führte der Bevollmächtigte des Klägers weiter aus, dass vorliegend nicht lediglich von einer Anklagewahrscheinlichkeit von 20% ausgegangen werden könne. Diese allgemeine Aussage zur Wahrscheinlichkeit beziehe sich statistisch auf alle Betrugsstraftaten in der Türkei. Der türkische Staat verfolge jedoch, – auch in Kooperation mit den deutschen Strafverfolgungsbehörden – gerade Betrugsstraftaten in der vorliegenden Fallkonstellation streng. Hierzu wurde auf verschiedene Medienberichte verwiesen. Damit liege die Wahrscheinlichkeit einer Anklage im vorliegenden Fall deutlich über dem allgemeinen Durchschnitt. Dies gelte insbesondere, da sich türkische Strafverfolgungsbehörden weitere Erkenntnisse über etwaige Mittäter versprechen könnten. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 34 Jahren und 6 Monaten sei damit nicht ausgeschlossen. Selbst wenn lediglich von einer Verurteilung zu 20 Jahren ausgegangen werde, führe dies zu einer Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung. Die entsprechende Argumentation der Beklagten sei insoweit bereits widersprüchlich. Einerseits werde die Dauer des verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Bedingung der Straffreiheit aufgrund der engen familiären Beziehungen von 7 auf 5 Jahre verkürzt. Andererseits werde eine zwischen 4 und 7-mal länger anhaltende Trennung aufgrund einer weiteren Verurteilung in der Türkei als zumutbar angesehen. Die Folgen der Trennung seien nicht vergleichbar mit Fällen, in denen lediglich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot bestehe. Es sei nicht bekannt, ob und in welchem Umfang die minderjährigen Kinder den Kläger bei einer Inhaftierung der Türkei besuchen dürften. Die Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft in der Türkei wäre kaum noch möglich. Nach Ablauf der Einreisesperre sei infolge der Inhaftierung keine Herstellung der Lebensgemeinschaft in Deutschland möglich. Es sei davon auszugehen, dass die Regelungen der türkischen Strafverfolgung strenger seien als in Deutschland. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Beklagte davon ausgehe, der Kläger könne über moderne Telekommunikationsmittel den Kontakt zu seiner Familie aufrechterhalten. Auch sei unklar, inwieweit die Aufrechterhaltung körperlicher Nähe während der Inhaftierung in der Türkei möglich sei. Dies sei selbst in bayerischen Gefängnissen nicht ohne weiteres möglich. Angesichts des Alters des Klägers sei zudem zu befürchten, dass der Kläger eine Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht mehr erleben würde. Unter Berücksichtigung, dass der Kläger faktischer Inländer sei und die Beklagte davon ausgehe, dass nach Ablauf von 5 Jahren keine weitere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Deutschland mehr bestehe, sei eine weitergehende Trennung von der Familie für einen Zeitraum zwischen 20 und 34 Jahren unverhältnismäßig. Dies gelte auch mit Blick darauf, dass der Kläger zwar Vermögensdelikte, aber keine schweren Gewaltdelikte begangen habe.
32
Der Kläger erklärte in der mündlichen Verhandlung, er bedauere die Tatbegehung. Eine frühere Hafterfahrung hätte ihn von der zweiten Tatbegehung abgehalten. Er habe derzeit 140.000 EUR Schulden. Hintergrund der disziplinarischen Maßnahme sei gewesen, dass er von einem Mitgefangenen unerlaubt Essen angenommen habe. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten und des Ablaufs der Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
33
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
34
Die Klage ist zulässig und begründet.
35
Der streitgegenständliche Bescheid vom 10. Mai 2022 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36
1. Die in Ziff. 1 des angegriffenen Bescheids verfügte Ausweisung erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als rechtswidrig.
37
Nach der Grundsatznorm des § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Im vorliegenden Fall überwiegt das Ausweisungsinteresse nicht das Bleibeinteresse des Klägers.
38
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt bei einem gegen eine Ausweisungsverfügung gerichteten Rechtsbehelf ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. gerichtlichen Entscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 18). Es sind daher Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlass der Ausweisungsverfügung ergeben haben, zu berücksichtigen, und zwar unabhängig davon, ob diese zugunsten oder zulasten des Ausländers wirken.
39
1.1 Der in Deutschland geborene Kläger steht zunächst unter dem erhöhten Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3 AufenthG, da er infolge seiner langjährigen Berufstätigkeit im Bundegebiet jedenfalls die Rechtsstellung nach Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 (ARB 1/80) erlangt hat. Die Frage, ob er zudem aufgrund des Zusammenlebens mit seinen Eltern die Rechtsstellung nach Art. 7 (ARB 1/80) erlangt hat, kann daher offen bleiben.
40
1.2 Die Ausweisung ist unter Berücksichtigung des erhöhten Ausweisungsschutzes nach § 53 Abs. 3 AufenthG rechtswidrig. Zwar stellt das persönliche Verhalten des Klägers eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (1.2.1), allerdings überwiegt das Ausweisungsinteresse vorliegend nicht das Bleibeinteresse des Klägers (1.2.2).
41
1.2.1 Das persönliche Verhalten des Klägers stellt eine gegenwärtige schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar.
42
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der insoweit anzustellenden Gefahrenprognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Dabei gilt für die im Rahmen tatrichterlicher Prognose festzustellende Wiederholungsgefahr ein mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts (BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16 m.w.N.). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O. Rn. 18).
43
Verlangt die gesetzliche Grundlage der Ausweisung, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, so sind Anhaltspunkte dafür zu benennen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutende Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Die Feststellung entsprechender Anhaltspunkte durch die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte muss nachvollziehbar und darf nicht willkürlich sein (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 18). Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf der Haft. Ein allgemeines Erfahrungswissen darf nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19 m.w.N.). Erforderlich ist daher eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können – nicht nur unions-, sondern auch verfassungs- und konventionsrechtlich (vgl. BVerfG, B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24 m.w.N.). Bei der anzustellenden tatrichterlichen Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten wie derjenigen, die Anlass der Ausweisung war bzw. waren, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind daher alle Umstände des Einzelfalls gegeneinander abzuwägen, die geeignet sind, Auskunft über die gegenwärtig (noch) von dem Betroffenen ausgehende Gefährdung zu geben. Dazu zählen insbesondere das Verhalten im Strafvollzug und danach, die Schwere der verübten Straftaten und die Höhe der verhängten Strafen, die Umstände ihrer Begehung sowie die Persönlichkeit des Täters und seine im Inland bestehenden sozialen und familiären Bindungen und sonstige Integrationsfaktoren, die für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft sprechen. Es sind also nicht nur die in der Vergangenheit verübten Straftaten in den Blick zu nehmen (vgl. EuGH, U.v. 08.12.2011 – C-371/08 – juris Rn. 82 ff.; BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6/00, juris Rn. 14).
44
Nach diesen Maßstäben ergibt sich im vorliegenden Fall, dass beim Kläger weiterhin von einer relevanten Wiederholungsgefahr auszugehen ist. Er wurde zuletzt wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in zwei Fällen verurteilt. Dabei ging nach den strafrechtlichen Feststellungen die Tatbeteiligung des Klägers über eine nur untergeordnete Rolle hinaus. Als Abholer und Transporteur des Bargeldes leistete er einen wichtigen und verantwortungsvollen Tatbeitrag, der ganz erheblichen Einfluss auf die Erlangung und Sicherung der Beute und damit den erfolgreichen Abschluss der Taten hatte. Er hatte volle Kenntnis über Ablauf und Struktur der Tatbegehung und es bestand eine Vertrauensbasis zu seinem Neffen O. als Kopf bzw. Hintermann der Taten welche sich nicht allein durch eine verwandtschaftliche Beziehung erklären lässt. Die Taten sind dabei als besonders verwerflich anzusehen, da den Geschädigten unter Ausnutzung ihres Alters und ihres Vertrauens in die Polizei Angst gemacht wurde. Der Kläger war sich des hohen Alters der Opfer der Taten auch bewusst. Eigentums- und Vermögensdelikte, die zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen führen oder die gewerbsmäßig begangen werden oder bei denen sonstige erschwerende Umstände vorliegen, gefährden dabei ein Grundinteresse der Gesellschaft schwer (vgl. BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2/09 – juris Rn. 16; OVG Bremen, B.v. 29.10.2019 – 2 B 169/19 – juris; VGH BW, U.v. 4.11.2009 – 11 S 2472/08 – juris Rn. 37; OVG Saarl, B.v. 14.2.2018 – 2 A 819/17 – juris Rn. 10). Dies ist vorliegend der Fall. Die Taten führten zu beträchtlichen Schäden für eine Vielzahl von Personen, wurden gewerbsmäßig begangen und es liegen aufgrund der Verwerflichkeit der Vorgehensweise in Form der organisierten Kriminalität, welche sich gegen besonders schutzbedürftige Personen richtet, sonstige erschwerende Umstände vor. Dies kommt auch in der Höhe der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten zum Ausdruck. Hinzu kommt, dass es sich nicht um die erste schwerwiegende Straftat dieser Art handelt. Der Kläger ist vielmehr bereits am *. August 2018 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren, welche zur Bewährung ausgesetzt wurde, wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in 2 tatmehrheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Beihilfe zur Amtsanmaßung, in Tateinheit mit Beihilfe zum Betrug verurteilt worden. Hintergrund dieser Verurteilung war ebenfalls, dass der Kläger Teil einer Bande gewesen ist, welche ältere Menschen unter Anwendung der Masche „falscher Polizeibeamter“ erheblich an deren Vermögen geschädigt hat. Die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung erfolgte damals aufgrund des stabilen familiären Umfelds, des von Reue getragenen Geständnisses sowie der Tatsache, dass der Kläger sich aufgrund seines schlechten Gewissens freiwillig den Polizeibehörden gestellt hat. Die mit der Bewährungsentscheidung verbundene Erwartung künftiger Straffreiheit hat sich trotz dieser für den Kläger sprechenden Umstände jedoch nicht erfüllt. Vielmehr ist der Kläger 2 Jahre später erneut in der gleichen Art strafrechtlich massiv in Erscheinung getreten. Hierbei hat sich der Kläger nicht freiwillig gestellt und sich im Verfahren auch nicht zum Tatgeschehen eingelassen. Hintergrund beider Taten war jeweils eine angespannte wirtschaftliche Situation. In einer solchen schwierigen Situation befindet sich der Kläger auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, da er nach eigenen Angaben derzeit Schulden in Höhe von 140.000 EUR hat. Es ist zudem davon auszugehen, dass sich die Arbeitssuche angesichts der massiven Verurteilung künftig als schwierig erweisen wird.
45
Das Gericht wertet bei der Prognose hinsichtlich einer bestehenden Wiederholungsgefahr ausdrücklich zu Gunsten des Klägers, dass dieser nunmehr erstmalig eine Gefängnisstrafe verbüßt und auch nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung deutlich haftbeeindruckt ist. Zudem führt sich der Kläger seit seiner Inhaftierung nach den vorliegenden Führungsberichten weitgehend beanstandungsfrei. Er verhält sich gegenüber Bediensteten und Mitgefangenen höflich und freundlich. Zudem ist der Kläger arbeitswillig und zeigt gute Arbeitsleistungen. Derzeit ist er im Malereibetrieb der JVA eingesetzt. Ferner hat der Kläger Interesse an einer Umschulung/Ausbildung zum Verspanungmechaniker gezeigt und die hierzu notwendigen Aufnahmeprüfungen bestanden. Lediglich aufgrund der noch fehlenden Eignung zur Verlegung in den offenen Vollzug kam diese schließlich nicht zu Stande. Das Bemühen des Klägers darum, wirtschaftlich wieder Fuß zu fassen, stellt nach Ansicht des Gerichts einen wichtigen Baustein für eine erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft dar und spricht eindeutig für den Kläger. Positiv zu werten ist außerdem, dass der Kläger Kontakt zum fachpsychologischen Dienst aufgenommen hat, welcher keinen psychotherapeutischen Behandlungsbedarf gesehen hat. Eine früher bestehende und für die erste Tatbegehung zumindest mitursächliche Spielsucht hat der Kläger überwunden. Schließlich besteht zwischen dem Kläger und seiner Familie im Rahmen des Möglichen ein enger Kontakt. Die Besuchskontingente werden voll ausgeschöpft und es finden regelmäßige Telefonate statt. Auch nimmt der Kläger an einer Vater-Kind-Gruppe teil. Dem Kläger wäre nach der Entlassung aus der Haft auch die Rückkehr in sein familiäres Umfeld möglich. Die Ehefrau unterstützt den Kläger weiterhin und war auch bei der mündlichen Verhandlung persönlich anwesend. Die nunmehrige Hafterfahrung, in deren Folge erstmalig eine Trennung des Klägers mit nur eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten zu seiner Familie stattgefunden hat, sowie eine drohende weitere Verurteilung in der Türkei, welche die Gefahr einer dauerhaften Trennung von seiner Familie birgt, stellt eine große Motivation für den Kläger dar, künftig keine weiteren Straftaten zu begehen.
46
Diese positiven Faktoren bewirken zwar eine Reduzierung der Wiederholungsgefahr, führen jedoch entgegen der Auffassung des Bevollmächtigten nicht dazu, dass bereits von einem Wegfall dieser Gefahr ausgegangen werden kann. Dem steht insbesondere entgegen, dass der Kläger gerade nicht Ersttäter ist. Die familiäre Situation unterscheidet sich nicht von der Situation, in der der Kläger die Straftaten begangen hat. Der Kläger hat sich durch seine Familie und insbesondere die damals noch jüngeren Töchter nicht davon abhalten lassen, nach der ersten Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe noch während der laufenden Bewährungszeit erneut straffällig zu werden. Nach der ersten Verurteilung wurde der Kläger überdies zu einer möglichen Ausweisung angehört. Ihm war also bewusst, dass solche Straftaten zu einer Ausweisung und damit längerfristigen Trennung von seiner Familie führen können, ohne dass dies zu einer dauerhaften Straffreiheit geführt hat. Zwar berücksichtigt das Gericht, dass der Kläger erstmalig eine Haftstrafe verbüßt und dies einen tiefen Eindruck hinterlassen hat und er erstmalig mit der Trennung von seiner Familie als Konsequenz seiner Straffälligkeit konfrontiert ist. Gleichwohl kann zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht mit hinreichender Sicherheit davon ausgegangen werden, dass hierdurch tatsächlich ein nachhaltiger Einstellungswandel eingetreten ist. Der Kläger befindet sich weiterhin in einer sehr schwierigen finanziellen Situation, welche bereits in der Vergangenheit Auslöser der Straftaten war. Der Kläger ist überdies während der Strafhaft trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens mittlerweile diszipliniarisch in Erscheinung getreten, da er unerlaubt Lebensmittel eines Mitgefangenen an sich genommen hat. Es bleibt damit fraglich, ob es dem Kläger trotz der mittlerweile gezeigten positiven Entwicklung langfristig und gerade auch ohne den geregelten Tagesablauf und die besonderen Reglementierungen des Strafvollzugs gelingen wird, ein straffreies Leben zu führen. Auch das familiäre Umfeld durch seine Ehefrau und seine Kinder sind wie dargestellt kein Faktor, aus dem sich im vorliegenden Einzelfall die Prognose einer künftigen Straffreiheit mit hinreichender Sicherheit ableiten lässt. Schließlich ist die Kammer nach dem in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck nicht überzeugt, dass sich der Kläger nachhaltig mit den extrem negativen Folgen der von ihm begangenen Straftaten für die Opfer auseinandergesetzt hat. Im zweiten Strafverfahren hat sich der Kläger zur Tat nicht eingelassen. Die Stellungnahmen im behördlichen wie im gerichtlichen Verfahren und die geäußerte Reue beschränken sich auf die Darstellung der negativen Folgen der Ausweisung für den Kläger und seine Familie. Einsicht und Reue hinsichtlich der Opfer werden bis auf die Zusage der Zahlung eines Schadenersatzes hingegen nicht deutlich.
47
Angesichts des Werts der gefährdeten Rechtsgüter und der Verwerflichkeit der konkreten Tatbegehung sind im vorliegenden Fall an die Annahme einer relevanten Wiederholungsgefahr überdies keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Damit ist im Ergebnis mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Kläger auch in Zukunft weiterhin jedenfalls Vermögensstraftaten begehen wird, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
48
1.2.2 Die danach bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt jedoch vorliegend, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers nicht überwiegt.
49
a) Vorliegend besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da der Kläger wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden ist.
50
b) Demgegenüber bestehen besonders schwerwiegende Bleibeinteressen, da der Kläger im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist und sich seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Zudem hat er bis zur Inhaftierung die Personensorge für seine minderjährigen deutschen Kinder ausgeübt (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG).
51
c) Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet (vgl. § 53 Abs. 1 AufenthG) geht vorliegend zu Gunsten des Klägers aus.
52
In die erforderliche Abwägung sind sämtliche Umstände des Einzelfalles einzustellen, insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner, sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, wobei diese in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgezählten Umstände nicht abschließend zu verstehen sind. Auch die Gefahrenprognose ist im Rahmen der Gesamtabwägung unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung. Ferner sind stets die grund- und konventionsrechtliche Stellung des Ausländers und seiner Familie und die sich daraus ergebenden Gewichtungen in den Blick zu nehmen. Der mit einer Ausweisung verbundene Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- bzw. Privatlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK muss auch gemessen an den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellten Anforderungen gerechtfertigt sein (insbesondere EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 Üner – juris Rn. 57; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 Boultif – juris Rn. 40). Ein unverhältnismäßiger Eingriff in das von Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Privatleben wird in der Rechtsprechung in der Regel angenommen, wenn der Ausländer aufgrund seiner gesamten Entwicklung faktisch zu einem Inländer geworden ist und ihm (und seinen Familienangehörigen) wegen der Besonderheiten des Falls ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit, zu dem er keinen Bezug (mehr) hat, nicht zuzumuten ist (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; BayVGH, U.v. 21.11.2017 – 10 B 17.818 – juris Rn. 42). Dies betrifft insbesondere Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind („Verwurzelung“) und gleichzeitig den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“) und die daher faktisch zum Inländer geworden sind und die nur noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbindet (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32/22 – juris Rn. 16f; BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 19 ZB 21.2650 – juris Rn. 33; BayVGH, B.v. 29.3.2022 – 19 ZB 22.129 – juris Rn. 45). Die Ausweisung eines faktischen Inländers ist gleichwohl nicht von vornherein unzulässig. Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BayVGH B.v. 10.2.2022 – 19 ZB 21.2650 – juris Rn. 33; OVG Bremen, U.v. 15.12.2021 – 2 LC 269/21 – juris Rn. 60, 62). Selbst wenn ein Ausländer mangels Entwurzelung hinsichtlich des Landes seiner Staatsangehörigkeit nicht als sogenannter faktischer Inländer betrachtet wird, kann der Vollzug einer Ausweisung für eine im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Person einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen, was im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen angemessen und in einem auf die Erfassung seiner individuellen Lebensverhältnisse angelegten Prüfprogramm zu würdigen ist (vgl. BVerfG, B.v. 29.1.2020 – 2 BvR 690/19 – juris Rn. 20 m.w.N.). Hierbei sind auch Nachteile zu berücksichtigen, die den Ausländer im Herkunftsland erwarten. Dies gilt uneingeschränkt für solche Nachteile, die das Gewicht eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots nicht erreichen, aber gleichwohl so erheblich sind, dass sie sich auf die durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Belange des Ausländers auswirken können. Die Möglichkeit einer weiteren strafrechtlichen Verurteilung ist daher auch unterhalb der Schwelle eines zwingenden Abschiebungsverbots geeignet, sich auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Familien- und Privatleben des Klägers auszuwirken. Sie muss deshalb in die Abwägung mit einbezogen werden. Dies gilt nicht nur unter dem Gesichtspunkt, dass eine erneute Freiheitsstrafe dem Kläger die Aufrechterhaltung der Kontakte zu seiner Familie während der Dauer des verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots erschweren würde. Im Falle einer dem Kläger drohenden, das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot übersteigenden, Freiheitsstrafe ist zu bewerten, ob sich die Ausweisung auch unter Berücksichtigung der damit faktisch verlängerten Dauer der Familientrennung als verhältnismäßig erweist (BVerwG, U.v. 16.12.2021 – 1 C 60/20 – juris 58 m.w.N.). Gefahren, die so schwerwiegend sind, dass sie die Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots begründen, sind hingegen im Ausweisungsverfahren jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen, wenn für diese eine ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) besteht (BVerwG, U.v. 16.12.2021 – 1 C 60/20 – juris 50). Soweit durch eine Ausweisung Kinder betroffen sind, ist im Rahmen der Abwägung überdies der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG zu berücksichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG allerdings keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Jedoch verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 und 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.V. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – juris Rn.41; BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12; B.v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. − juris Rn. 103; B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 39). Hierbei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalls geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerfG, B.V. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – juris Rn.41; BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12). Dabei ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris 25).
53
Die Anwendung dieser Maßstäbe ergibt, dass das Ausweisungsinteresse im vorliegenden Einzelfall nicht das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
54
aa) Im Rahmen der anzustellen Abwägung ist nach Auffassung der Kammer zunächst mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass dem Kläger in der Türkei aufgrund der von ihm begangenen Straftaten eine weitere strafrechtliche Verurteilung droht. Als zu erwartendes Strafmaß ist hierbei von einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe von 20 Jahren auszugehen. Das Gericht schließt sich insoweit vollumfänglich dem Gutachten der Universität K* … vom 7. November 2023 an. Danach hat sich der Kläger durch seine auch in der Türkei erbrachten Tatbeiträge des Betrugs als Gewohnheitsverbrecher strafbar gemacht. Im Fall einer dortigen Verurteilung ist unter Anrechnung der bereits in Deutschland verbüßten Freiheitsstrafe eine weitere Freiheitsstrafe im Umfang von bis zu 34 Jahren und 6 Monaten möglich. Die Kammer geht indes in Übereinstimmung mit dem Gutachten von einem realistischen Strafrahmen von 20 Jahren aus. Zwar sieht auch das türkische Strafrecht die Möglichkeit von Straf(rest) aussetzungen zur Bewährung vor, die in der Praxis auch genutzt wird. Allerdings lässt sich im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht prognostizieren, ob, wann und in welchem Umfang im konkreten Fall des Klägers hiervon tatsächlich Gebrauch gemacht werden wird. Das Gericht geht weiter entgegen der Auffassung der Beklagten und in Übereinstimmung mit dem Bevollmächtigen des Klägers davon aus, dass mit einer hohen Wahrscheinlichkeit von einem weiteren Strafverfahren in der Türkei auszugehen ist, welche deutlich über der im Gutachten dargestellten allgemeinen statistischen Anklagewahrscheinlichkeit von Betrugsstraftaten in der Türkei von etwa 20% liegt. Aus den vorgelegten Zeitungsberichten sowie dem eingeholten Rechtsgutachten ergibt sich, dass in der Türkei – gerade auch in Zusammenarbeit mit deutschen Strafverfolgungsbehörden – insbesondere Betrugsmaschen wie im vorliegenden Fall zielgerichtet verfolgt werden. Es ist daher davon auszugehen, dass im Falle der Überstellung des Klägers in die Türkei und der damit einhergehenden vorherigen Information türkischer Behörden ein entsprechendes Strafverfahren eröffnet würde zumal Mittäter in der Türkei bislang nicht ermittelt werden konnten. Angesichts der bereits in Deutschland erfolgten Verurteilung und der hierbei ermittelten Beweise ist zur Überzeugung des Gerichts eine erneute Verurteilung des Klägers in der Türkei zwar nicht sicher, jedoch überwiegend wahrscheinlich.
55
bb) Soweit der Bevollmächtigte des Klägers in Zusammenhang mit der Gefahr einer drohenden Doppelbestrafung darauf hingewiesen hat, dass die Türkei bereits in der Vergangenheit die EMRK teilweise ausgesetzt habe, führt dies nicht dazu, dass vorliegend infolgedessen ein Abschiebungsverbot des Klägers besteht. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot ergibt sich zum einen nicht aus dem – hier bereits nicht anwendbaren – Grundsatz „ne bis in idem“. Denn es gibt keine unions-, völker- oder verfassungsrechtlich zwingende Regel, nach der ein straffälliger Ausländer absolut davor geschützt werden muss, in der Türkei für eine bereits in Deutschland abgeurteilte Straftat ein weiteres Mal verurteilt zu werden und diese Strafe auch verbüßen zu müssen (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2021 – 1 C 60/20 – juris Rn. 57). Zudem dürfte im vorliegenden Fall der zu erwartende Strafrahmen nicht zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen (vgl. BVerwG, U.v. 16.12.2021 – 1 C 60/20 – juris Rn. 57), wobei es sich hierbei im Kern um ein asylrechtlich relevantes zielstaatsbezogenes Vorbringen handelt, dessen Prüfung allein in der Zuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) liegt (BVerwG, U.v. – 16.2.2022 – 1 C 6/21 – juris Rn. 34). Vorliegend ist im Rahmen der Abwägung daher davon auszugehen, dass mangels einer entsprechenden Feststellung des Bundesamts einer tatsächlichen Abschiebung des Klägers in die Türkei trotz der zu erwartenden weiteren Verurteilung kein Abschiebungsverbot entgegensteht.
56
cc) Die unter Berücksichtigung all dieser Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen insbesondere unter Beachtung der oben dargestellt sog. Boutlif/Üner Kriterien (vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 Üner – juris Rn. 57; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 Boultif – juris Rn. 40) ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers vorliegend nicht überwiegt. Der Kläger wurde in Deutschland geboren und ist mit seiner Familie hier aufgewachsen. Er hält sich mithin seit über 40 Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf und verfügt über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Er hat hier die Schule besucht, auch wenn es ihm nicht gelungen ist, einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung zu erreichen. Der Kläger war gleichwohl überwiegend berufstätig, teils angestellt, teils selbständig. Er hat seine gesamte Sozialisation in der Bundesrepublik erfahren, vor über 10 Jahren eine deutsche Staatsangehörige geheiratet und eine eigene Kernfamilie gegründet. Der Kläger hat 42 Jahre hier gelebt, ohne straffällig zu werden. Eine Ausweisung aus der Bundesrepublik stellt sich damit für den Kläger als besondere Härte dar zumal er in der Türkei eine 20jährige Haftstrafe zu gewärtigen hat. Dies allein führt nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht dazu, dass das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse im vorliegenden Fall überwiegt. Denn der Kläger ist als Kind türkischer Eltern aufgewachsen und beherrscht die türkische Sprache. Er kennt die Türkei aus Urlaubsaufenthalten und war auch bei der Begehung der zuletzt verurteilten Straftat persönlich in der Türkei. Angehörige des Klägers leben überdies in der Türkei und zumindest zu einigen hatte der Kläger bis zu seiner Inhaftierung Kontakt. Dem Kläger sind damit die Kultur und Gewohnheiten des Landes seiner Staatsangehörigkeit vertraut, so dass eine Entwurzelung nicht festzustellen ist. Ferner ist im Rahmen der Abwägung zu beachten, dass das Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt. Die begangene Straftat richtet sich gegen das hochrangige Rechtsgut des Vermögens und ist überdies geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden nachhaltig zu erschüttern. Der Kläger war Mitglied einer international agierenden Bande und damit Teil der organisierten Kriminalität. Die Tatbegehung war durch einen hohen Grad an Professionalität geprägt, was zu einer hohen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Bundesgebiet führt und staatliche Schutzpflichten auslöst. Die Taten waren überdies besonders verwerflich, da sie sich gegen besonders schutzbedürftige Teile der Gesellschaft gerichtet haben und geeignet waren, den wirtschaftlichen Ruin der Betroffenen herbeizuführen. Besonders schwer wiegt überdies, dass der Kläger nicht einmalig in dieser Form strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Soweit die erste Straftat wohl durch eine mittlerweile überwundene Spielsucht ausgelöst wurde und der Kläger eine zweite Chance in Form einer Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe erhalten hat, ist er nach nur zwei Jahren erneut durch eine gleichgelagerte Straftat in Erscheinung getreten. Der Unrechtsgehalt der Tat kommt auch in der Verurteilung zu einer hohen Freiheitstrafe im Umfang von 5 Jahren und 6 Monaten zum Ausdruck. Der Kläger hat sich dabei weder durch die offene Bewährung noch durch die ausländerrechtliche Verwarnung und eine mögliche Trennung von seiner Familie von der Tatbegehung abhalten lassen. Dies dokumentiert die Bereitschaft des Klägers Straftaten gegen hochrangige Rechtsgüter zu begehen. Die vom Kläger ausgehende – wenn auch geminderte – Wiederholungsgefahr ist geeignet, die mit der Aufenthaltsbeendigung einhergehende besondere Härte für den Kläger – inkl. der Gefahr einer weiteren Verurteilung in der Türkei – zu überwiegen. Im Rahmen einer umfassenden Abwägungsentscheidung ist jedoch auch maßgeblich die familiäre Situation des Klägers zu berücksichtigen. Zur Überzeugung des Gerichts besteht eine enge Bindung zwischen dem Kläger und seiner Kernfamilie. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass auch während der Haft des Klägers der Kontakt aufrechterhalten wurde und die eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten voll ausgeschöpft werden. Der Kläger hat insbesondere eine enge Bindung zu seinen Töchtern, welche 12 und 9 Jahre alt sind, und hält den persönlichen Kontakt durch Teilnahme an einer Vater-Kind-Gruppe auch aus dem Gefängnis heraus aufrecht. Die Töchter des Klägers sind hierbei in einem Alter, in dem sie alt genug sind, um zu verstehen, dass derzeit eine vorübergehende Trennung besteht bzw. ein persönlicher Kontakt zum Vater nur eingeschränkt möglich ist. Aufgrund der mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolgenden Verurteilung des Klägers in der Türkei ist vorliegend jedoch davon auszugehen, dass infolge der Abschiebung keine nur vorübergehende, sondern vielmehr eine endgültige Trennung der Töchter von ihrem Vater stattfinden wird. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass auch in der Türkei – nach den vorliegenden Erkenntnismitteln in eingeschränktem Maß – Besuche und Telefonate möglich sind. Die Situation ist nicht vergleichbar mit einer einfachen Abschiebung ins Heimatland. Es ist angesichts des Alters der Töchter nicht möglich, dass diese beispielsweise in den Ferien alleine in die Türkei reisen, um den Vater zu besuchen. Selbst im Falle eines Türkeiaufenthalts bestünde eine nur sehr eingeschränkte Kontaktmöglichkeit. Ferner stellt vorliegend die Erteilung von Betretenserlaubnissen keine Möglichkeit zur Entschärfung etwaiger Härten dar. Soweit der Kläger diese Folgen durch seine Straffälligkeit selbst zu verantworten hat, ist im Rahmen der Abwägung gleichwohl insbesondere auf die Sicht seiner Kinder abzustellen. Danach stellt sich die Situation zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Gerichts so dar, dass von einer nicht nur vorübergehenden Trennung der Töchter und des Klägers auszugehen ist. Der dauerhafte Verlust des Vaters stellt für die 9 und 12 Jahre alten Töchter einen besonders schweren Eingriff dar, der im Rahmen der anzustellenden Interessenabwägung besonders schwer wiegt. Soweit die Beklagte darauf abstellt, dass ohne eine weitere Verurteilung des Klägers in der Türkei nach Ablauf des Einreise- und Aufenthaltsverbots eine Tochter bereits volljährig und die andere Tochter 17 und damit beinahe volljährig wäre und damit beide an ein Leben ohne Beistand des Vaters gewöhnt wären, weshalb auch eine noch längerdauernde Trennung zumutbar sei, führt dies nicht zu einer anderen Gewichtung im Rahmen der Abwägung. Vielmehr kommt es für diese entscheidend darauf an, ob sich für die Töchter heute die Trennung von ihrem Vater als lediglich vorübergehend oder endgültig darstellt. Unter Beachtung all dieser Umstände, insbesondere des jungen Alters der Kinder, deren familiäre Bindung zum Kläger sowie der wahrscheinlichen dauerhaften Trennung von ihrem Vater einerseits und den Umständen, welche derzeit die Prognose einer geminderten Wiederholungsgefahr zulassen (vgl. Ziff. 1.2.1), andererseits ergibt sich in der Gesamtbetrachtung, dass zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt trotz der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr für hochrangige Rechtsgüter die Ausweisungsinteressen die Bleibeinteressen des Klägers nicht überwiegen.
57
2. Nachdem sich die Ausweisung in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheids als rechtswidrig erweist, liegen auch die Voraussetzung für den Erlass der hierauf gestützten Abschiebungsandrohung sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht vor. Diese sind insoweit rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
58
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
59
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).