Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 02.01.2024 – AN 10 S 23.31732
Titel:

zur Frage des maßgeblichen Zeitpunkts bei der Anwendung des Minderjährigenschutzes

Normenketten:
AsylG § 30 Abs. 1, Abs. 2
Asylverfahrens-RL Art. 2 lit. l, Art. 25 Abs. 6, Art. 31 Abs. 8
Qualifikations-RL Art. 2 lit. l
Leitsatz:
War der Asylantragsteller zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Bundesgebiet unstreitig minderjährig, spricht vieles dafür, dass es für die Frage der Anwendbarkeit des Minderjährigenschutzes weder auf den Zeitpunkt des Erlasses oder der Zustellung des ablehnenden Bescheids noch auf den der Anhörung durch das Bundesamt oder die Asylantragstellung durch den Minderjährigen selbst oder dessen Vormund, sondern auf den Zeitpunkt der Einreise ins Bundesgebiet ankommt. (Rn. 18 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, maßgeblicher Zeitpunkt zur Feststellung der Minderjährigkeit, RL 2013/32/EU, Minderjährigenschutz, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2024, 256

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 1. Dezember 2023 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller, ein irakischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit wurde am 30. November 2021 in Br. durch die Bundespolizei aufgegriffen. Er gab dabei an, über Polen zu Fuß ins Bundesgebiet gelangt zu sein. Er habe einen Cousin in Österreich. Obwohl er acht Jahre zur Schule gegangen sei, könne er nicht lesen und schreiben.
2
Am 16. Juni 2022 stellte der Antragsteller beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), vertreten durch einen Vormund, den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Im Rahmen der Anhörung beim Bundesamt gab der Antragsteller am 27. Juli 2022 im Wesentlichen an, er sei am … aus- und am … ins Bundesgebiet eingereist. Er habe noch Verwandte im Irak und sei ausgereist, weil das Leben dort nicht gut gewesen sei. Er selbst habe bereits als Kind arbeiten müssen, weil sein Vater Invalide sei. Es gebe keine Unterstützung, die Verwandtschaft sei selbst arm. Im Übrigen sei die Lage in Kurdistan sehr instabil.
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Mit Bescheid vom 1. Dezember 2023 wurde der Asylantrag des Antragstellers als offensichtlich unbegründet abgelehnt, der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ebenso als offensichtlich unbegründet abgelehnt und der Antrag auf subsidiären Schutz auch als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monat ab dem Tag einer Abschiebung befristet. Des Weiteren wurde dem Antragsteller unter Fristsetzung einer Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung die Abschiebung in den Irak angedroht.
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Der Bescheid wurde dem Antragsteller mittels Postzustellungsurkunde am 18. Dezember 2023 zugestellt.
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Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 20. Dezember 2023 erhob der Antragsteller Klage. Zur Begründung ließ er im Wesentlichen ausführen, dass die Ablehnung des Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet nicht den europäischen Vorgaben entspreche, insbesondere nicht Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie. Der Antragsteller verwies auf einschlägige erstinstanzliche Rechtsprechung.
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Der Antragsteller ließ des Weiteren beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 1. Dezember 2023 wird angeordnet.
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Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides bereits volljährig gewesen sei, so dass lediglich die Prüfmaßstäbe für Volljährige zu berücksichtigen gewesen seien. Die Einschränkungen des Art. 25 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie fänden daher keine Anwendung.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen auf die elektronische Behördenakte sowie auf die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
10
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet. Es liegen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes, insbesondere an der Ablehnung des Asylbegehrens des Antragstellers als offensichtlich unbegründet sowie an der demzufolge gesetzten Ausreiseverpflichtung und -frist vor.
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Gemäß Art. 16a GG, § 34 Abs. 4 AsylG kann das Verwaltungsgericht auf Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Im Rahmen dieser Entscheidung ist im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG auch zu überprüfen, ob das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und ob diese Ablehnung weiterhin Bestand haben kann.
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Unter Beachtung dieser Maßgaben hat der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO Erfolg.
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Zwar ist unter Berücksichtigung des Sachvortrags des Antragstellers tatsächlich offensichtlich, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 – und nach summarischer Überprüfung der Rechtslage – auch die des § 30 Abs. 2 AsylG vorliegend gegeben sind. Der Antragsteller hat lediglich ausgeführt, dass die (finanzielle) Situation im Irak nicht gut gewesen sei, dass er bereits von Kindesalter an habe arbeiten müssen, weil es keine Unterstützung durch die Verwandtschaft gegeben habe und sein Vater als Kriegsverletzter nicht habe arbeiten können. Darüber hinaus hat der Antragsteller nur sehr allgemein auf die instabile Lage im Nordirak verwiesen. Dieser Sachvortrag zeigt auf, dass eine asylrelevante Verfolgung staatlicherseits aber auch durch nichtstaatliche Akteure offensichtlich nicht gegeben ist. Hinsichtlich der Voraussetzungen eines subsidiären Schutzstatus ist – jedenfalls konkret – ebenfalls nichts vorgetragen. Das Gericht verweist insoweit deshalb auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und sieht gemäß § 77 Abs. 3 AsylG von einer weiteren Begründung ab.
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Allerdings sind die hier einschlägigen Vorschriften des § 30 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG teleologisch dahingehend zu reduzieren, dass der unionsrechtlich normierte Minderjährigenschutz des Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU v. 26.6.2013) zu beachten ist. Eine Berücksichtigung dieser Vorschrift lässt sich dem streitgegenständlichen Bescheid vom 1. Dezember 2023 allerdings nicht entnehmen.
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Nach Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie ist vorrangig das Kindeswohl zu berücksichtigen, so dass die Mitgliedsstaaten, die feststellen, dass der Betroffene ein unbegleiteter Minderjähriger ist, die Regelungen des Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie nur dann angewendet oder weiter anwenden dürfen, wenn die dort genannten Voraussetzungen, die vorliegend nicht gegeben sind, vorliegen. Da es sich beim Irak allerdings nicht um einen sicheren Herkunftsstaat handelt, es vorliegend nicht um einen Folgeantrag geht und trotz der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Antragsteller derzeit nicht erkennbar ist, dass dieser eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, dürfte die Antragsgegnerin Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie nicht anwenden. Dies hat zur Folge, dass die nationale Regelung des § 30 AsylG dahin gehend europarechtskonform auszulegen ist, als dass sie auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine Anwendung finden kann.
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Der Antragsteller ist Minderjähriger im Sinne des Art. 2l der Asylverfahrensrichtlinie sowie unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2l der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU v. 13.12.2011). Danach handelt es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen, wenn dieser ohne Begleitung eines verantwortlichen Erwachsenen ins Bundesgebiet einreist. Dies scheint zwischen den Beteiligten auch unstrittig zu sein, weil dem Antragsteller im Laufe seines Verfahrens sowohl die bundesgesetzlichen als auch die unionsrechtlichen Privilegien für Minderjährige zugute gekommen waren. So wurde ihm ein gesetzlicher Vormund zur Seite gestellt, es erfolgte eine Anhörung unter Heranziehung speziell ausgebildeter Anhörer bzw. Entscheider für die Belange Minderjähriger und der Vormund war während der gesamten Anhörung anwesend und wurde ebenfalls gehört.
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Der Antragsteller war daher während wesentlicher Teile des Verfahrens, also zum Zeitpunkt seiner Einreise, zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung wie auch zum Zeitpunkt der Anhörung beim Bundesamt ein unbegleiteter Minderjähriger in oben genanntem Sinne. Volljährig wurde der Antragsteller erst im Laufe des Verfahrens, d.h. nach seiner Einreise, nach Stellung des Asylantrages durch seinen Vormund und nach Anhörung beim Bundesamt, aber vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids.
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Auf welchen Zeitpunkt es im Hinblick darauf ankommt, ob Art. 25 Abs. 6 der Verfahrensrichtlinie anzuwenden ist oder nicht, regelt ersichtlich weder nationales Recht noch Unionsrecht konkret. Er ist daher nach dem Sinn und Zweck der dem Minderjährigenschutz dienenden Vorschriften zu ermitteln. Nicht zweckdienlich ist dabei die Vorschrift des § 77 Abs. 1 AsylG, wonach das Gericht in Verfahren nach dem Asylgesetz auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen hat. Ein Abstellen auf den Entscheidungszeitpunkt würde allerdings den Minderjährigenschutz entscheidend aushebeln, da zum Zeitpunkt der Entscheidung der Gerichte viele als unbegleitete minderjährige eingereiste Jugendliche bereits volljährig geworden sein dürften. Eine solche Rechtsauslegung wäre daher – nahezu bereits offensichtlich – nicht mit den Richtlinien in Einklang zu bringen.
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Ebenfalls nicht abzustellen ist auf den Zeitpunkt des Bescheidserlasses durch das Bundesamt. Dies lässt sich allerdings nicht aus der vom Antragsteller geäußerten Begründung ableiten, dass es insbesondere deshalb nicht auf den Zeitpunkt der Zustellung des ablehnenden Bescheids ankommen kann, weil die Behörden ansonsten die Möglichkeit hätten, solange abzuwarten, bis der Betroffene die Volljährigkeit erreicht. Dieses von tiefem Misstrauen in staatliches Handeln geprägte Argument kann seitens des Gerichts weder in seiner Allgemeinheit nachvollzogen werden, noch ist es vorliegend gegeben. Das Geburtsdatum des Antragstellers ist nach den von ihm selbst vorgelegten Unterlagen der … 2004. Er ist eigenen Angaben zufolge am … ins Bundesgebiet eingereist, hat durch seinen Vormund am 16. Juni 2022 Asylantrag gestellt und ist am 27. Juli 2022 formell beim Bundesamt zu seinen Fluchtgründen angehört worden. Kurz darauf, d.h. am … 2022 hat der Antragsteller das Datum seiner Volljährigkeit erreicht. Dass der streitgegenständliche Bescheid erst am 1. Dezember 2023 ergangen und am 18. Dezember 2023 zugestellt wurde, hat also ganz offensichtlich nichts damit zu tun, dass das Bundesamt so lange abgewartet hat, dass es eine Offensichtlichkeitsentscheidung hat treffen können, weil der Antragsteller mittlerweile volljährig geworden ist. Hierzu hätte das Verfahren nicht bis Dezember 2023 anzudauern brauchen, da eine entsprechende Entscheidung bereits im August 2022 hätte ergehen können. Dies wäre – nach der Anhörung im Juli 2022 – auch keinesfalls willkürlich gewesen. Vielmehr ist aus der zeitlichen Abfolge des Verfahrens des Antragstellers eindeutig zu entnehmen, dass auch vorliegend ein geordnetes und nicht ansatzweise willkürliches Verfahren durchgeführt wurde.
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Des Weiteren kann auch der vom Verwaltungsgericht Berlin in seiner Entscheidung vom 6. Mai 2019 (VG 31 L 208.19A) geäußerten Rechtsauffassung nicht gefolgt werden, dass auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen sei, weil ein Minderjähriger auf Grund seiner geistigen und sozialen Entwicklung und seiner fehlenden Reife möglicherweise nicht fähig sein mag, die Fluchtgründe geordnet und frei von Widersprüchen darzulegen. Zwar klingt diesbezüglich der allgemeine Minderjährigenschutz an, doch ist auch zu berücksichtigen, dass – zumindest im vorliegenden Fall – dem Antragsteller ein entsprechender Vormund zur Seite gestellt wurde, der den Antragsteller während seines gesamten Asylverfahrens bis zu seiner Volljährigkeit unterstützt hatte und auch während der Anhörung des Antragstellers anwesend war und entsprechend befragt wurde. Damit wurde den unionsrechtlichen Verfahrensgarantien für minderjährige Asylbewerber hinreichend Genüge getan. Einen Grund, deswegen den maßgeblichen Zeitpunkt des Minderjährigenschutzes auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung vorzuverlegen, ist insoweit also nicht ersichtlich.
21
Vielmehr ergibt sich der maßgebliche Zeitpunkt allein aus den unionsrechtlichen Vorschriften. So geht Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie – zumindest in seiner deutschen Fassung – davon aus, dass Art. 31 Abs. 8 Verfahrensrichtlinie nur unter den genannten, hier aber nicht einschlägigen Voraussetzungen anzuwenden oder weiter anzuwenden ist. Daraus entnimmt das Gericht den Willen des Richtliniengebers, dass bei Fällen, in denen festgestellt wurde, dass es sich um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, zum einen die Vorschriften des Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie auch dann nicht anzuwenden sind, wenn das Verfahren bei Feststellung der Minderjährigkeit bereits begonnen worden war. Eine Begrenzung des Verbots der Anwendung von Art. 31 Abs. 8 der Verfahrensrichtlinie im Hinblick auf eine eintretende Volljährigkeit des Betroffenen ist der Richtlinie dann allerdings nicht mehr zu entnehmen. Hinzu kommt, dass die Qualifikationsrichtlinie in Art. 2l unbegleitete Minderjährige danach definiert, dass es sich um Minderjährige (also um unter 18-jährige) handelt, die ohne eine verantwortliche Begleitung ins Bundesgebiet einreisen. Es spricht also in Auslegung dieser Vorschrift viel dafür, dass es bei der Frage der Anwendbarkeit des Minderjährigenschutzes nicht auf den Zeitpunkt des Erlasses oder den Zeitpunkt der Zustellung des ablehnenden Bescheids ankommt, aber auch nicht auf den Zeitpunkt der Anhörung durch das Bundesamt oder die Asylantragstellung durch den Minderjährigen selbst oder dessen Vormund, sondern auf den Zeitpunkt der Einreise ins Bundesgebiet oder möglicherweise auch ins Unionsgebiet.
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Da der Antragsteller zu diesem Zeitpunkt unstrittigerweise minderjährig gewesen war, ist er unter Anwendung oben genannter Vorschriften bis zum Abschluss des Verfahrens als unbegleiteter Minderjähriger zu behandeln, also auch zum Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids.
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Der Minderjährigenschutz endet auch nicht dadurch, dass für den Antragsteller bereits im Januar 2022 ein gesetzlicher Vormund bestellt worden war, weil die Regelung des Art. 2l der Qualifikationsrichtlinie auch insoweit auf die Einreise ins Bundes- bzw. Unionsgebiet abstellt.
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Dies hat zur Folge, dass viel dafür spricht, dass die Antragsgegnerin die Vorschriften des Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie bzw. die Vorschriften des § 30 Abs. 1 und 2 AsylG nicht hätte anwenden dürfen. Insofern bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung.
25
Dem Antrag ist daher stattzugeben.
26
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
27
Diese Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.