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AG München, Endurteil v. 22.04.2024 – 213 C 24199/23
Titel:

Schadensersatzanspruch gegen Rechtsanwalt wegen fehlender Erfolgsaussicht einer außergerichtlichen Tätigkeit im sog. Diesel-Skandal

Normenketten:
BGB § 249, § 280, § 675
VVG § 86 Abs. 1
Leitsatz:
Jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Herausgabe der Pressemitteilung der Volkswagen AG vom 12.9.2018 konnte mit einem Erfolg eines außergerichtlichen Tätigwerdens gegen diese nicht mehr gerechnet werden. Wenn sich der Kfz-Hersteller öffentlich auf den Standpunkt stellt, dass es für die Klagen von Kunden wegen der Diesel-Thematik in Deutschland keine Rechtsgrundlage gebe, kann es keinen Sinn machen, ein allgemein gehaltenes Schreiben, in dem nicht einmal ein konkreter Betrag, sondern das Anerkenntnis einer Schadensersatzpflicht dem Grunde nach gefordert wird, zu versenden. Dass die Volkswagen AG ein solches Anerkenntnis auf jenes Schreiben hin abgeben würde, lag zu dem Zeitpunkt ersichtlich außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsschutzversicherung, Regress, Rechtsanwalt, außergerichtliche Tätigkeit, Abgasskandal
Fundstelle:
BeckRS 2024, 25561

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 916,04 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 15.02.2024 zu zahlen.
2. Der Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von ihrer Zahlungsverpflichtung gegenüber M. Rechtsanwälte, H.weg 101, 4... D., in Höhe von 180,88 € nebst Zinsen in Höhe von 5-Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 15.02.2024 für die außergerichtliche Tätigkeit freizustellen.
3. Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
4. Der Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
6. Der Streitwert wird auf 916,04 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Beklagte war als Rechtsanwalt beauftragt, mögliche Ansprüche des … im Rahmen des Diesel-Abgasskandals geltend zu machen. Die Klägerin ist dessen Rechtsschutzversicherin. Sie macht hier eine Schadensersatzforderung aus übergegangenem Recht geltend.
2
Im Jahr 2015 hatte der Versicherungsnehmer einen VW Golf Sportsvan 1.6 TDI mit einem Kilometerstand von 60.032 Kilometern erworben. Der Beklagte warb im Internet damit, diesbezüglich Schadensersatzansprüche gegen die Herstellerin, die V. AG, erfolgreich durchsetzen zu können, was den Versicherungsnehmer veranlasste, den Beklagten hiermit zu beauftragen; dieser ließ sich von der Klägerin am 28.01.2019 eine Deckungszusage für außergerichtliche Tätigkeit erteilen. Die Tätigkeit verlief erfolglos und endete mit der Kostentragungspflicht des Versicherungsnehmers. Die Klägerin stellte diesen durch Zahlung eines Betrages von 992,14 € frei (1,3-Geschäftsgebühr Nr. 2300 VV-RVG aus einem Gegenstandswert von 21.940,00 € i.H.v. 964,60 €, Auslagenpauschale Nr. 7002 VV-RVG i.H.v. 20,00 €, zuzüglich Umsatzsteuer, abzüglich 150,00 € Selbstbehalt).
3
Die Klägerin forderte den Beklagten zur Rückzahlung von 916,04 € auf. Der Beklagte leistete dem, auch nach Mahnung durch die Prozessbevollmächtigten, keine Folge.
4
Die Klägerin ist der Auffassung, dem Beklagten habe allenfalls eine Forderung in Höhe von 226,10 € für eine außergerichtliche Beratung zugestanden, gegenüber dem Selbstbehalt somit ein Betrag von € 76,10 €. Die restlichen 916,04 € seien zu Unrecht bezahlt worden. Die V. AG habe auf außergerichtliche Aufforderungsschreiben hin noch niemals eine Zahlung geleistet und immer ablehnend reagiert. Seit einer Pressemitteilung der V. AG vom 12.09.2018, in der sich V. auf den Standpunkt gestellt habe, dass es für kundenseitige Klagen im Zusammenhang mit der Diesel-Thematik keine Rechtsgrundlage gebe, sei es erkennbar nicht mehr erfolgversprechend gewesen, außergerichtliche Forderungsschreiben zu versenden. Der Beklagte habe den Versicherungsnehmer zu den fehlenden Erfolgsaussichten nicht beraten. Hätte er dies getan, hätte der Versicherungsnehmer ihn mit der außergerichtlichen Rechtsverfolgung nicht beauftragt. Ohnehin habe von vorneherein ein unbedingter Klageauftrag des Versicherungsnehmers vorgelegen, sodass eine Geschäftsgebühr für außergerichtliche Tätigkeit nicht habe entstehen können. Die Kosten der anwaltlichen Tätigkeit seien zudem weder erforderlich noch zweckdienlich gewesen. Dem Versicherungsnehmer sei ein Schaden in Höhe von mindestens 916,04 € entstanden; ein entsprechender Schadensersatzanspruch sei infolge Zahlung der Klägerin gem. § 86 Abs. 1 VVG auf diese übergegangen. Weiter schulde der Beklagte die Kosten der vorgerichtlichen Geltendmachung, wobei hier wegen der Schwierigkeit eine 2,0-Gebühr gerechtfertigt sei.
5
Die Klägerin beantragt:
1.
an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 916,04 € nebst Zinsen in Höhe von 5-Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
2.
die Klägerin von ihrer Zahlungsverpflichtung gegenüber M. Rechtsanwälte, H.weg 101, 4... D., in Höhe von 233,24 € nebst Zinsen in Höhe von 5-Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit für die außergerichtliche Tätigkeit freizustellen.
6
Der Beklagte beantragt:
Klageabweisung.
7
Ein unbedingter Klageauftrag habe nicht vorgelegen. Dies ergebe sich aus der Vollmacht und aus der Formulierung des vorgerichtlichen Schreibens. Die vorgerichtliche Rechtsverfolgung sei sehr wohl erfolgversprechend und zweckdienlich gewesen. Anderenfalls sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb die Klägerin die Deckungszusage hierfür erteilt habe. Die Rahmengebühr für die Nebenforderung sei überhöht.
8
Wegen des weiteren tatsächlichen Parteivorbringens wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
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Die zulässige Klage ist in der Hauptsache vollumfänglich und in der Nebenforderung überwiegend begründet.
10
1. Sofern die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren des Beklagten in Höhe von 984,60 € netto überhaupt angefallen sein sollten, führen sie zu einem entsprechenden Schadensersatzanspruch des Versicherungsnehmers, der gem. § 86 Abs. 1 VVG infolge Zahlung auf die Klägerin übergegangen ist.
11
a) Das Gericht erachtet die Auffassung der Klägerin, dass jedenfalls ab dem Zeitpunkt der Herausgabe der Pressemitteilung der V. AG vom 12.09.2018 mit einem Erfolg eines außergerichtlichen Tätigwerdens nicht mehr gerechnet werden konnte, als vertretbar und schließt sich dieser Auffassung – gerade auch im Hinblick auf den Inhalt des außergerichtlichen Schreibens – (Anlage K1). Wenn sich der Kfz-Hersteller öffentlich auf den Standpunkt stellt, dass es für die Klagen von Kunden wegen der Diesel-Thematik in Deutschland keine Rechtsgrundlage gebe, kann es keinen Sinn machen, ein allgemein gehaltenes Schreiben, in dem nicht einmal ein konkreter Betrag sondern das Anerkenntnis einer Schadensersatzpflicht dem Grunde nach gefordert wird, zu versenden. Dass die V. AG ein solches Anerkenntnis auf jenes Schreiben hin abgeben würde, lag zu dem Zeitpunkt ersichtlich außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit.
12
Die Ausführungen des Landgerichts München I vom 18.07.2023, Az. 4 O 8089/22, zur vorgerichtlichen Zahlungsbereitschaft der P. AG und der entsprechenden Erforderlichkeit und Zweckdienlichkeit außergerichtlicher Geltendmachung von Ansprüchen durch Rechtsanwälte, lassen sich hier ohne weiteres übertragen.
13
Das Gericht teilt die Vermutung, dass die Entscheidungen der Oberlandesgerichte, die in der Klageerwiderung zitiert sind, sich auf außergerichtliche Tätigkeit vor dem 12.09.2018 beziehen oder jedenfalls keine vertiefte Prüfung stattgefunden hat, wenngleich dies im einzelnen schwierig nachzuvollziehen ist, da die Entscheidungen nur teilweise veröffentlicht und der Klageerwiderung nicht beigefügt sind. Veröffentlicht ist beispielsweise das Urteil des OLG Hamm vom 20.03.2020 – 19 U 294/19. Dort wird zwar eine nicht näher spezifizierte „Presseberichterstattung“ erwähnt, jedoch die Presseerklärung der V. AG vom 12.09.2018 nicht konkret angesprochen, obwohl dies zu erwarten wäre, wenn sie schon vorgelegen hätte. Soweit der Beklagte selbst dann in seiner Klageerwiderung aus einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 16.09.2020, Az. I-18 U 312 U 312/19, zitiert, wird von einem Sachverhalt ausgegangen, bei dem „die Beklagte (…) auch nicht erkennbar zahlungsunwillig“ war, was letztlich nur den Rückschluss gestattet, dass der öffentlich mit der Presseerklärung vom 12.09.2018 eingenommene Standpunkt der V. AG noch nicht bekannt gewesen sein kann. Denn in Kenntnis dessen könnte schlicht nicht ernsthaft behauptet werden, dass „die Beklagte (…) auch nicht erkennbar zahlungsunwillig“ gewesen sei.
14
b) Auf den Vorwurf der unvollständigen oder falschen Beratung geht der Beklagte in seiner Klageerwiderung nicht weiter ein. Es gilt somit gem. § 138 Abs. 3 ZPO als unstreitig, dass die Frage der Erfolgsaussicht kein Gegenstand der Beratung war. Ebenso wenig wird bestritten, dass der Versicherungsnehmer den Auftrag bei zutreffender Beratung nicht erteilt hätte. Der Beklagte hätte den Versicherungsnehmer auf den eingenommenen Standpunkt der V. AG hinweisen und von der vorgerichtlichen Tätigkeit abraten müssen. Dass der Versicherungsnehmer von einer entsprechenden Auftragserteilung dann abgesehen hätte, ist auch vor dem Hintergrund wahrscheinlich, dass er eben auch darauf hingewiesen hätte werden müssen, eine trotz Aussichtslosigkeit gewünschte anwaltliche Tätigkeit ggfs. selbst finanzieren zu müssen, mangels „Erforderlichkeit“ i.S.d. § 125 VVG.
15
c) Den Beklagten trifft hier ein Verschulden zumindest in Form der einfachen Fahrlässigkeit. Der unter a) dargestellte Geschehensablauf deutet darauf hin, dass die infolge der nicht veranlassten vorgerichtlichen Tätigkeit entstandenen Gebühren für den Beklagten vorhersehbar und vermeidbar waren.
16
d) Da die anwaltlichen Gebühren in Höhe von 984,60 € netto unter Schadensersatzgesichtspunkten somit jedenfalls zurückzuzahlen wären, mag dahinstehen, ob die Gebühren überhaupt angefallen sind. Der Beklagte behauptet in seiner Klageerwiderung zwar, keinen unbedingten Klageauftrag gehabt zu haben, belegt dies aber nicht näher, insbesondere wird auch die als Beweis angegebene Vollmacht nicht vorgelegt, aus der sich nähere Einzelheiten möglicherweise (wenngleich nicht zwingend, siehe Replikschriftsatz vom 26.03.2024) ergeben könnten. Falls die Gebühren nicht angefallen sind, sind sie selbstverständlich ebenfalls zurückzuzahlen.
17
2. Die Nebenforderungen ergeben sich unter dem Gesichtspunkt des Schuldnerverzuges, §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 BGB. Für die vorgerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren kann eine Mittelgebühr von 1,5 gefordert werden. Dies erachtet das Gericht als unbedenklich, da es sich um eine Ermessensentscheidung des Rechtsanwalts handelt und die Kombination aus Versicherungsrecht, Rechtsanwaltshaftung und partiell auch noch Einzelaspekte des Diesel-Abgasskandals dies rechtfertigt. Wenn eine Mittelgebühr schlüssig vorgetragen und nicht substantiiert bestritten wird, ist ein Gutachten der Rechtsanwaltskammer zur Höhe der Rahmengebühr entbehrlich (BeckOK RVG, 63. Edition, Stand: 01.09.2021, § 14 RVG, Rn. 60). In dem Umfang einer Gebühr von 1,5 konnte die Nebenforderung somit zuerkannt werden. Hinsichtlich der weiter geforderten Gebühren (2,0) war die Klage hingegen abzuweisen, da das erforderliche Gutachten nach § 14 Abs. 3 RVG nicht beantragt wurde. Die 1,5-Gebühr nach Nr. 2300 VV-RVG nebst Auslagenpauschale und Umsatzsteuer entspricht einem Betrag vom 180,88 €.
II.
18
Hinsichtlich der Kosten beruht die Entscheidung auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.