Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 06.08.2024 – 206 StRR 262/24
Titel:

Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch und notwendige Feststellungen beim Diebstahl 

Normenketten:
StPO § 318
StGB § 242 Abs. 1
Leitsatz:
Eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unwirksam, wenn die dem nicht angefochtenen Schuldspruch zugrundeliegenden Feststellungen tatsächlicher und rechtlicher Art so mangelhaft, insbesondere unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sie Art und Umfang der Schuld nicht hinreichend erkennen lassen und keine taugliche Grundlage für die Bestimmung der Rechtsfolge bieten oder wenn unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat. Dies ist etwa beim Diebstahl der Fall, wenn mangels Beschreibung der „entwendeten“ Gegenstände nicht beurteilt werden kann, ob allein deren Ergreifen einen vollendeten Gewahrsamswechsel beinhaltete und somit für eine Wegnahme ausreichend war. (Rn. 14 – 18) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Berufungsbeschränkung, Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch, unwirksame Berufungsbeschränkung, Diebstahl, Wegnahme, Gewahrsamswechsel
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 22.04.2024 – 22 NBs 252 Js 158884/22
Fundstelle:
BeckRS 2024, 25532

Tenor

I. Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 22. April 2024, soweit die Angeklagte wegen Diebstahls verurteilt worden ist, sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe, jeweils mit den zugrunde liegenden Feststellungen, aufgehoben.
II. Die weitergehende Revision der Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts München I zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 3. April 2023 ist die Angeklagte wegen Diebstahls und tätlichen Angriffs in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in fünf tateinheitlichen Fällen, mit vorsätzlicher Körperverletzung und Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen, schuldig gesprochen und deswegen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden.
2
Hinsichtlich des Diebstahls lauten die Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils zum Diebstahl wie folgt:
„Am 03.02.2022 gegen 12:30 Uhr entwendete die Angeklagte in den Geschäftsräumen der Firma (…) Waren im Gesamtwert von 201,98 EUR, um die Waren ohne zu bezahlen für sich zu behalten“.
3
Gegen das Urteil hat die Angeklagte form- und fristgerecht Berufung eingelegt. In der Berufungshauptverhandlung hat die Pflichtverteidigerin „im Namen“ der Angeklagten erklärt, dass die eingelegte Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt werde.
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Das Landgericht München I hat mit Berufungsurteil vom 22. April 2024 eine Entscheidung nur noch über den Rechtsfolgenausspruch getroffen und die Berufung der Angeklagten als unbegründet verworfen.
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Hiergegen wendet sich die Angeklagte mit der am 24. April 2024 eingegangenen und gleichzeitig mit der nicht ausgeführten Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründeten Revision.
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Die Generalstaatsanwaltschaft München beantragt in ihrer Stellungnahme vom 10. Juli 2024, die Revision als unbegründet zu verwerfen.
II.
7
Die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revision hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben, soweit das Landgericht wegen des Tatkomplexes des tätlichen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte u.a. auf eine Einzelfreiheitsstrafe von fünf Monaten erkannt hat, § 349 Abs. 2 StPO.
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Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die zutreffende Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft München in ihrer Antragsschrift vom 10. Juli 2024 Bezug genommen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
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1. Die Erklärung der Berufungsbeschränkung auf die Rechtsfolge kann nach den Gesamtumständen als formell wirksam angesehen werden.
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Die Wirksamkeit der Rechtsmittelbeschränkung ist vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 352 Rn. 4 m.w.N.). In der Erklärung liegt eine Teilrücknahme der zunächst unbeschränkt eingelegten Berufung gemäß § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO (vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 302 Rn. 1, 2). Sie bedarf daher, wenn sie vom Verteidiger für den Angeklagten abgegeben wird, einer besonderen Ermächtigung gemäß § 302 Abs. 2 StPO. Eine solche lässt sich den Akten und dem Hauptverhandlungsprotokoll nicht entnehmen; die Bestellung als Pflichtverteidigerin gemäß § 141 StPO begründet eine solche Befugnis nicht. Die Teilrücknahme ist jedoch in Anwesenheit der Angeklagten in deren Namen erklärt sowie vorgelesen „und genehmigt“ worden (Bl. 139 d.A.). Damit ist hinreichend dokumentiert, dass die Angeklagte selbst mit der Beschränkung einverstanden war (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 24. Juli 2018, 1 OWi 6 SsBs 67/18, juris Rn. 13; BayObLG, Beschluss v. 30. Oktober 1984, RReg. 2 St 244/84, NJW 1985, 754, 755).
11
2. Die Urteilsgründe zur Bemessung der Einzelstrafe begegnen zwar insoweit Bedenken, als das Landgericht die „Vielzahl der Vorstrafen“ der Angeklagten, darunter acht Fälle „einschlägig“ zu deren Lasten gewürdigt hat (UA S. 9); diese erweisen sich jedoch im Ergebnis nicht als durchgreifend. Soweit Vorstrafen für die Strafzumessung von Bedeutung sind, ist regelmäßig wenigstens der Urteilstenor zu bezeichnen sowie eine kurze, präzise Zusammenfassung der zugrundeliegenden Taten in das Urteil aufzunehmen (BGH, Beschluss vom 18. April 1996, 1 StR 134/96, NStZ-RR 1996, 266). Vorliegend sind die jeweiligen Schuldsprüche aus der angeführten Liste der Vorstrafen zu erkennen (UA S. 3 bis 5); es fehlt zwar durchgängig an der Mitteilung der jeweiligen Tatzeit sowie der Rechtskraft der Entscheidung; bezüglich der Vorstrafen bis einschließlich Nr. 11 (Urteil des Amtsgerichts München vom 6. November 2018) hat der Senat jedoch keine Zweifel daran, dass die jeweilige Strafe vor Begehung der neuen Taten rechtskräftig war.
12
Hinsichtlich der unmittelbar einschlägigen Eintragung Nr. 12 (Urteil des Amtsgerichts München vom 15. Dezember 2021) lässt sich hingegen mangels Mitteilung des Rechtskraftzeitpunktes nicht ersehen, ob es sich um eine „Vorstrafe“ handelte. Einen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten kann der Senat jedoch insoweit ausschließen. Das Landgericht hat diese Strafe (gegebenenfalls zwar fehlerhaft, aber nicht zu Lasten des Angeklagten) ersichtlich nicht als „Vorstrafe“ gewürdigt, sondern sie, da sie in das Urteil des Amtsgerichts München vom 28. Juni 2022 einbezogen war, als Verurteilung „nach den gegenständlichen Taten“ angesehen (UA S. 10 f.). Diese Formulierung lässt erkennen, dass das Berufungsgericht die beiden genannten Erkenntnisse nicht als Vorstrafen strafschärfend gewürdigt hat.
III.
13
Das Rechtsmittel erzielt jedoch im Hinblick auf die Verurteilung wegen Diebstahls einen Teilerfolg, der sowohl den Wegfall der deswegen verhängten Einzelstrafe als auch der Gesamtstrafe nach sich zieht. Das Landgericht ist insoweit, was der Senat auf die Sachrüge hin von Amts wegen zu berücksichtigen hatte, zu Unrecht von einer wirksamen Berufungsbeschränkung ausgegangen. Da es auch versäumt hat, eigene ergänzende Feststellungen zum Tatsachverhalt zu treffen, die ihrerseits den Schuldspruch rechtfertigen könnten, fehlt es an einer wirksamen Entscheidung über den Tatvorwurf. Diese wird vom neuen Tatgericht nachzuholen sein.
14
1. Gemäß § 318 Satz 1 StPO kann die Berufung auf bestimmte Beschwerdepunkte beschränkt werden. Dies ist zulässig im Hinblick auf solche Punkte, die losgelöst von dem nicht angegriffenen Teil der Entscheidung nach dem inneren Zusammenhang rechtlich und tatsächlich selbständig beurteilt werden können, ohne eine Prüfung des übrigen Urteilsinhalts notwendig zu machen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. April 2018, 1 StR 136/18, juris Rn. 3). Eine Beschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch ist grundsätzlich vom Schuldspruch trennbar und damit wirksam (BGH a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 318 Rn. 16 m.w.N.). Der Rechtsfolgenausspruch ist vom Schuldspruch aber nur dann trennbar, wenn die zum Schuldspruch getroffenen Feststellungen eine tragfähige Grundlage für die vom Berufungsgericht eigenständig festzusetzenden Rechtsfolgen darstellen (BGH, Beschluss vom 27. April 2017, NJW 2017, 2482, 2483 Rn. 19 m.w.N.; BayObLG, B. v. 3. Juli 2023, 206 StRR 159/23, BeckRS 2023, 16536 Rn. 12). Daran fehlt es, wenn die dem nicht angefochtenen Schuldspruch zugrundeliegenden Feststellungen tatsächlicher und rechtlicher Art so mangelhaft, insbesondere unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sie Art und Umfang der Schuld nicht hinreichend erkennen lassen und keine taugliche Grundlage für die Bestimmung der Rechtsfolge bieten oder wenn unklar bleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (BGH a.a.O. Rn 20; BayObLG aaO. Rn. 12, 19; Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 318 Rn. 16; st. Rspr.).
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2. Nach diesen Maßstäben war die Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolge bezüglich der Verurteilung wegen Diebstahls nicht wirksam. Die Feststellungen des Amtsgerichts zum Tatsachverhalt verfehlen die aufgezeigten Anforderungen.
16
a) Wie auch die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem Vorlageschreiben zutreffend ausführt (S. 2), genügt die vom Amtsgericht zur Beschreibung der Tat getroffene Formulierung, die Angeklagte habe „Waren entwendet“, ohne dass dieser Vorgang genauer beschrieben würde, nicht, um darin die objektiven Tatbestandsmerkmale des § 242 Abs. 1 StGB zu erkennen.
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Das gesetzliche Merkmal der Wegnahme setzt den Bruch fremden und die Begründung neuen – hier tätereigenen – Gewahrsams voraus. Das Landgericht hat zwar im Rahmen der Strafbemessung ergänzend ausgeführt, die Waren seien zurückgegeben worden (UA S. 9). Daraus mag geschlossen werden, dass die Angeklagte diese wenigstens ergriffen hatte. Mangels Beschreibung der „entwendeten“ Gegenstände kann der Senat indes nicht beurteilen, ob dieses Ergreifen einen vollendeten Gewahrsamswechsel beinhaltete. Bei unauffälligen, leicht beweglichen Sachen, wie etwa bei Geldscheinen oder Schmuckstücken, lässt die Verkehrsauffassung für die vollendete Wegnahme schon ein Ergreifen und Festhalten der Sache genügen (BGH, Beschluss vom 18. September 2019, 2 StR 187/19, BeckRS 2019, 37843 Rn. 7); auch dann, wenn eine Sache in der Kleidung oder einem mitgebrachten leicht zu transportierenden Behältnis verborgen wird, kann bereits eine Wegnahme verwirklicht sein (vgl. Fischer, StGB, 71. Aufl. 2024, § 242 Rn. 20 m.w.N.). Ob diese Voraussetzungen vorlagen, kann auf der Grundlage der dürftigen Feststellungen nicht beurteilt werden (vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 24. November 2023, 204 StRR 492/23, n.v.).
18
b) Die Generalstaatsanwaltschaft weist zu Recht darauf hin, dass ein bloßer Subsumtionsfehler die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung nicht hindern würde und vertritt die Auffassung, dass durch die gegenständlichen Feststellungen jedenfalls der (fehlgeschlagene) Versuch eines Diebstahls gemäß §§ 242, 22 StGB belegt sei (Vorlageschreiben S. 2). Der Senat vermag indessen mangels Erkennbarkeit der Beschaffenheit der Sachen, der Art und Weise ihres Transports und mangels jeglicher Ausführungen dazu, wo die Angeklagte ergriffen wurde (noch innerhalb der Geschäftsräume?) nicht zu beurteilen, ob sich die Tat bereits im versuchsbegründenden Stadium des unmittelbaren Ansetzens zum Diebstahl, § 22 StGB, oder noch in einem straflosen Vorbereitungsstadium befunden hatte.
19
3. Da aus den aufgezeigten Gründen die Berufungsbeschränkung nicht wirksam war und das Landgericht keine eigenen ergänzenden Feststellungen zum Tathergang getroffen, sondern sich an die vermeintliche Rechtskraft des Schuldspruchs wegen Diebstahls gebunden gefühlt hat, hat es rechtsfehlerhaft davon abgesehen, eine Entscheidung über einen von der Berufung erfassten, seiner Kognitionspflicht unterliegenden Bestandteil des Ersturteils zu treffen.
20
Das Urteil muss insoweit, auch im Ausspruch über die für den Diebstahl verhängten Einzelstrafe sowie im Ausspruch über die Gesamtstrafe mit den jeweiligen Feststellungen aufgehoben werden, § 353 Abs. 1, Abs. 2 StPO, und in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurückverwiesen werden, § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO.
21
4. Für das weitere Verfahren weist der Senat bezüglich der zu treffenden Rechtsfolgenentscheidung auf Folgendes hin:
22
Das Landgericht hat es versäumt, im Hinblick auf die unter Nr. 12 und Nr. 13 angeführten Strafurteile die Voraussetzungen der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe nach § 55 StGB zu prüfen und eine solche gegebenenfalls auszusprechen. Zu den hierfür erforderlichen Voraussetzungen (Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung, Eintritt der Rechtskraft, Vollstreckungsstand) hat es keine Feststellungen getroffen.
23
Die Anwendung des § 55 StGB ist bei Vorliegen seiner Voraussetzungen für den Tatrichter zwingend. Er darf die Entscheidung über die nachträglich zu bildende Gesamtstrafe grundsätzlich nicht dem Beschlussverfahren nach § 460 StPO überlassen (BGH, Beschluss vom 17. September 2013, 1 StR 370/13, BeckRS 2013, 19759). Davon darf ausnahmsweise nur dann abgesehen werden, wenn er aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse keine sichere Entscheidung fällen kann, etwa weil, ohne dass dies auf unzureichender Terminsvorbereitung beruht, die erforderlichen Unterlagen nicht vollständig vorliegen und die Hauptverhandlung allein deshalb mit weiterem erheblichen Zeitaufwand belastet werden würde (BGH, Urteil vom 17. Februar 2004, 1 StR 369/03, NStZ 2005, 32).