Titel:
Notwendige Feststellungen zum Sinngehalt einer Aussage bei Beurteilung der Strafbarkeit nach § 185 StGB
Normenketten:
StGB § 185
GG Art. 5 Abs. 1
Leitsatz:
Da der Schutzumfang des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG von der näheren Qualifizierung des Sinngehalts einer Aussage abhängt, müssen sich für das Revisionsgericht aus den Feststellungen des Tatrichters auch die konkreten Umstände und die Situation (Anlass und Vorgeschichte), in der die Äußerung erfolgte, ergeben. Denn ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG liegt bei mehrdeutigen Äußerungen bereits dann vor, wenn die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. (Rn. 8 – 10) (red. LS Alexander Kalomiris)
Schlagworte:
Beleidigung, Sinngehalt einer Aussage, konkrete Umstände einer Äußerung, mehrdeutige Äußerung, Meinungsfreiheit, notwendige Feststellungen
Vorinstanz:
AG Fürstenfeldbruck, Urteil vom 02.07.2024 – 2 Cs 12 Js 7559/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 25529
Tenor
I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck vom 2. Juli 2024 samt den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck zurückverwiesen.
Gründe
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1. Mit Urteil vom 2. Juli 2024 sprach das Amtsgericht Fürstenfeldbruck den Angeklagten der Beleidigung schuldig und verhängte gegen ihn eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 40 €.
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Dem Schuldspruch lagen folgende Feststellungen zugrunde:
„Am 29.12.2023 gegen 13.35 Uhr auf Höhe der A.-straße 18 A bei der BC in D. kam es zu einer Streitigkeit zwischen dem Angeklagten und Frau E. F. Im Rahmen dieser Streitigkeit erklärte der Angeklagte gegenüber der Zeugin F. (die ein Kopftuch trug), sie solle „in das Land, aus dem sie komme, abhauen“, sowie, sie „solle erstmal Deutsch lernen“ und „sich einen Deutschkurs kaufen“. Er tat dies, um Frau E. F., die einwandfrei deutsch spricht, seine Missachtung auszudrücken. Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.“
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Das Urteil enthält keinerlei rechtliche Würdigung.
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2. Hiergegen wendet sich die Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung des § 241 StPO und die Beweiswürdigung des Amtsgerichts rügt. Zudem beanstandet sie die rechtsfehlerhafte Bewertung der Äußerungen des Angeklagten.
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Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt die Verwerfung der Revision als offensichtlich unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
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Die Revision erzielt mit der erhobenen Sachrüge einen mindestens vorläufigen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO). Sie rügt im Ergebnis zu Recht, dass das Amtsgericht die Bestimmung des Schutzbereiches des Art. 5 Abs. 1 GG rechtsfehlerhaft vorgenommen hat.
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1. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Grundrechtlich geschützt sind damit insbesondere Werturteile, also Äußerungen, die durch ein Element der Stellungnahme gekennzeichnet sind. Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallenden und als Werturteil zu qualifizierende Äußerungen an und greift damit in die Meinungsfreiheit des Äußernden ein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19, NJW 2020, 2622ff., Rdn. 12 m. w. N.). Im Normalfall erfordert das Grundrecht der Meinungsfreiheit als Voraussetzung für eine strafrechtliche Sanktionierung einer Aussage nach der Ermittlung des Sinns dieser Aussage eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, welche der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (BVerfG aaO Rdn. 15 m. w. N.). Es bedarf einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte (BVerfG, Beschluss vom 19.05. 2020, 1 BvR 2459/19, NJW 2020, 2629ff. Rdn. 18). Eine Abwägung ist nur in den Fällen der Schmähkritik, der Formalbeleidigung und dann entbehrlich, wenn sich die Äußerung als Angriff auf die Menschenwürde darstellt (BVerfG aaO Rdn. 17 m. w. N.). Von einem die Abwägung entbehrlich machenden Ausnahmetatbestand (Schmähkritik, Formalbeleidigung, Angriff auf die Menschenwürde) kann nur ausgegangen werden, wenn eine in den Urteilsgründen darzulegende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles ergibt, dass ein mit der inkriminierten Äußerung verfolgtes sachliches Anliegen entweder nicht existiert oder so vollständig in den Hintergrund tritt, dass sich die Äußerung in einer persönlichen Kränkung erschöpft, bzw. die verwendete Beschimpfung das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts verlässt und unabhängig von den Umständen grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit legitimierbar ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020, 1 BvR 2397/19 aaO Rdn. 23). Auch insoweit gilt daher, dass sich die Strafbarkeit einer Äußerung nicht allein aus deren Wortlaut erschließt, sondern die Feststellung deren Anlasses und der näheren Umstände erfordert.
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2. Da der Schutzumfang des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG von der näheren Qualifizierung des Sinngehalts einer Aussage (s. bereits oben) abhängt, muss sich für das Revisionsgericht aus den Feststellungen des Tatrichters auch dieser ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG Vorgaben abgeleitet, die schon im erforderlichen Ermittlungsvorgang gelten und damit rechtliche Maßstäbe für die tatrichterliche Sachverhaltsfeststellung enthalten. Ihre Einhaltung zu überprüfen ist Teil der revisionsgerichtlichen Kontrolle. So verstößt eine strafgerichtliche Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr entnommen und der Verurteilung zugrunde gelegt hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind (vgl. bereits BVerfG, Beschluss vom 26.06.1990, 1 BvR 1165/89, zitiert nach juris). Dabei haben die Gerichte insbesondere ausgehend vom Wortlaut auch den Kontext und die sonstigen Begleitumstände der Äußerung zu beachten (siehe z.B. BVerfG, NJW-RR 2017, 1001, Rdn. 17). Maßstab der Sinnermittlung ist der Horizont eines verständigen Dritten (vgl. z. B. BayObLG, NJW 2005, 1291, Rdn. 21, m. w. N. zur Rechtsprechung des BVerfG; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 185 StGB Rdn. 8 m. w. N.).
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3. Den Urteilsgründen lässt sich schon der Anlass für die tatgegenständlichen Äußerungen nicht entnehmen. Da Feststellungen hierzu nicht getroffen wurden, ist eine wie auch immer geartete Ermittlung des Sinngehaltes und auch eine Abwägung nicht möglich. Folgerichtig fehlen auch eine rechtliche Würdigung und die Subsumtion unter den Straftatbestand des § 185 StGB völlig.
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Dem Senat ist es verwehrt, sich aus den Akten die notwendigen Überzeugungen zu verschaffen; Gegenstand seiner Überprüfung ist nur das Urteil. Es kann daher keinen Bestand haben.
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Gemäß § 353 Abs. 1 und 2 StPO ist daher das Urteil insgesamt mit den diesem zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben. Gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO ist das Verfahren an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Fürstenfeldbruck zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu befinden haben wird.
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Das nunmehr mit der Sache befasste Gericht wird Gelegenheit haben, genauere Feststellungen zu Anlass und Vorgeschichte der fraglichen Äußerungen zu treffen und von diesen ausgehend deren genauen Sinngehalt festzulegen. Bei der Prüfung wird es zu beachten haben, dass es bereits ausreichend ist, wenn eine der möglichen Deutungen keinen strafbaren Inhalt hat oder vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt ist. Ferner setzt eine Strafbarkeit nach § 185 StGB die Kundgabe einer Missachtung oder Nichtachtung voraus, was in der Regel eine abwertende Konnotation erfordert (vgl. Fischer aaO § 185 Rdn. 8c). Schließlich wird angesichts der Tatsache, dass der Angeklagte nur geringfügig und nicht einschlägig vorbestraft ist, ggf. eine anderweitige Verfahrenserledigung (§§ 153 Abs. 2, 153a Abs. 2 StPO) in Betracht zu ziehen sein.