Titel:
Erfolgloser Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Verfahren auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis
Normenketten:
AufenthG § 60a Abs. 2, § 104c
VwGO § 166 Abs. 1
ZPO § 114
Leitsatz:
Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen ist gegeben, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand durchgesetzt werden kann. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vollziehbar ausreisepflichtiger sierra-leonischer Staatsangehöriger, fünfjähriger ununterbrochener Aufenthalt als Voraussetzung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancenaufenthaltsrecht, Unterbrechung des gestatteten Aufenthalts zwischen der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung auf Grund einer Rücküberstellungsentscheidung im Dublin-Verfahren nach Italien und der Aufhebung des Bescheids nach Scheitern der Rücküberstellung auf Grund körperlichen Widerstands des Klägers bei der Abschiebung und danach eingetretenem Ablauf der Rücküberstellungsfrist, Prozesskostenhilfe, Ausländerrecht, Sierra-Leone, Unterbrechung des gestatteten Aufenthalts auf Grund einer Rücküberstellungsentscheidung im Dublin-Verfahren nach Italien, Aufhebung des Dublin-Bescheids nach Scheitern der Rücküberstellung auf Grund körperlichen Widerstands des Klägers bei der Abschiebung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 2519
Tenor
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der Klägerbevollmächtigten wird abgelehnt.
Gründe
1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Chancen-Aufenthaltserlaubnis und hierfür die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Bevollmächtigten.
2
Der Kläger ist sierra-leonischer Staatsangehöriger vom Volk der Edo und katholischen Glaubens. Nach Aktenlage reiste er wohl am 10. Juni 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte am 19. Juni 2017 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt). Mit Bescheid vom 30. August 2017, der Aufnahmeeinrichtung zur Übergabe am 4. September 2017 übergeben und schließlich dem Kläger am 5. September 2017 ausgehändigt, lehnte das Bundesamt seinen Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote vorlagen und ordnete die Abschiebung nach Italien an. Der Kläger erhob gegen den Bescheid zwar Klage, stellte jedoch keinen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, so dass die Abschiebungsanordnung laut Mitteilung des Bundesamts ab dem 13. September 2017 vollziehbar wurde.
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Eine Abschiebung scheiterte am 15. Dezember 2017 an der körperlichen Widerstandsleistung des Klägers. Am 1. Januar 2018 lief die Rücküberstellungsfrist ab.
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Die gegen den Bescheid gerichtete Klage erklärten die Beteiligten übereinstimmend für erledigt; das Bundesamt teilte dazu den o.g. Fristablauf mit, der Bescheid vom 30. August 2017 werde insgesamt aufgehoben und es ergehe kein gesonderter Bescheid (Behördenakte Teil 2 Bl. 139). Das Verwaltungsgericht stellte das Klageverfahren ein und legte dem Kläger die Kosten des Verfahrens auf, da der Bescheid rechtmäßig gewesen und erst mit Ablauf der Überstellungsfrist und Übergang der Zuständigkeit von Italien auf Deutschland rechtswidrig geworden sei. Das Bundesamt habe hierauf unverzüglich reagiert und den Bescheid mit Datum vom 16. Januar 2018 aufgehoben (VG, B.v. 19.2.2018 – * – Behördenakte Teil 2 Bl. 142).
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Das Bundesamt lehnte den Asylantrag des Klägers mit Bescheid vom 1. Juni 2018 umfassend ab; eine hiergegen erhobene Klage blieb erfolglos (VG, B.v. 16.10.2019 – * – Behördenakte Teil 3 Bl. 229 ff.) und das Urteil wurde am 25. November 2019 rechtskräftig (ebenda Bl. 247).
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Der Kläger erhielt vom Beklagten jedenfalls ab dem 15. Juni 2020 Duldungen ausgestellt, ab dem 11. März 2021 wegen unterlassener Vorsprache zur Passbeschaffung als Duldung für Personen mit ungeklärter Identität (ebenda Bl. 249, 334).
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Am 9. Januar 2023 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG; nochmals bestätigt durch Schreiben der Klägerbevollmächtigten vom 28. Februar 2023 (Behördenakte Teil 4 Bl. 377, 384). Der Beklagte hörte sie mit Schreiben vom 17. März 2023 zur beabsichtigten Ablehnung des Antrags an.
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Mit Bescheid vom 25. Mai 2023, der Klägerbevollmächtigten zugestellt am 26. Mai 2023, lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG ab. Es liege eine wesentliche Unterbrechung der notwendigen ununterbrochenen Voraufenthaltsdauer vor, da sich der Kläger während des Dublin-Verfahrens vom 13. September 2017 bis zum 16. Januar 2018 weder erlaubt, noch gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufgehalten habe.
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Hiergegen ließ der Kläger am 23. Juni 2023 Klage erheben und neben der Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragen,
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1. Der Bescheid des Landratsamts * vom 25. Mai 2023 wird aufgehoben.
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2. Das Landratsamt * wird verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Dass der Kläger mehr als sechs Monate nur über eine erloschene Aufenthaltsgestattung verfügt habe, sei rechtswidrig. Er sei zu dulden gewesen.
13
Der Beklagte beantragt,
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Der Kläger sei vollziehbar ausreisepflichtig und mit seinem Passersatzpapier auch nach Italien abzuschieben gewesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren wird abgelehnt, weil der Klage im maßgeblichen Zeitpunkt die hinreichenden Erfolgsaussichten fehlen.
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Gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist etwa dann gegeben, wenn schwierige Rechtsfragen zu entscheiden sind, die im Hauptsacheverfahren geklärt werden müssen. Auch wenn eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass diese mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Mittellosen ausgehen wird, ist vorab Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. BVerfG, B.v. 14.4.2003 – 1 BvR 1998/02 – NJW 2003, 2976). Insgesamt dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussichten eines gerichtlichen Verfahrens nicht überspannt werden, eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Erfolges genügt (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26). Die Beiordnung eines Rechtsanwalts ist im Verfahren ohne Vertretungszwang immer geboten, wenn es in einem Rechtsstreit um nicht einfach zu überschauende Tat- und Rechtsfragen geht (Happ a.a.O., Rn. 38).
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Die Klage ist voraussichtlich unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG oder auf erneute Entscheidung hierüber hat, d.h. sich die Ablehnung seines Antrags aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweist und ihn nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Es liegen bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht vor, weil sich der Kläger zum 31. Oktober 2022 nicht seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat.
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Nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie § 5 Abs. 2 AufenthG – sowie vorbehaltlich weiterer Tatbestandsvoraussetzungen – eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat.
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Entscheidend für die zu berücksichtigenden Zeiten des Voraufenthalts ist insofern der Zeitraum der letzten fünf Jahre vor dem Stichtag. Ein abgeschlossener Zeitraum davor genügt bereits aufgrund des Wortlauts der Regelung in § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG („seit“) nicht (vgl. VG Gelsenkirchen, B.v. 27.3.2023 – 8 L 405/23 – juris Rn. 17 m.w.N.).
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a) Der Kläger befand sich ausweislich der Behördenakten in der Zeit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach Italien – laut Mitteilung des Bundesamts ab dem 13. September 2017 – bis zum Ablauf der Überstellungsfrist am 1. Januar 2018 aber nicht mehr im Besitz einer Aufenthaltsgestattung, da diese nach § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG mit der Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG erloschen war und ihm erst wieder ab der Übernahme seines Asylantrags ins nationale Verfahren durch Erklärung des Bundesamts mit Datum vom 16. Januar 2018 eine neue Aufenthaltsgestattung nach § 13 i.V.m. § 55 AsylG zustand.
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b) Der Kläger befand sich ausweislich der Behördenakten in dem soeben genannten Zeitraum aber auch weder formell im Besitz einer Duldungsbescheinigung, noch hatte er – jedenfalls bis zum Ablauf der Überstellungsfrist am 1. Januar 2018 – einen Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG.
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Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange seine Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Ferner kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern (§ 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG).
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aa) Tatsächliche Hindernisse standen seiner Abschiebung nicht entgegen, insbesondere verfügt der Beklagte nach eigenen Angaben im Zeitpunkt der Abschiebung mit einem Passersatzpapier über die für eine Überstellung erforderlichen Identitätspapiere und – wie die nur an seinem körperlichen Widerstand gescheiterte Abschiebung zeigt – auch über eine Abschiebungsmöglichkeit. Dass der Kläger nicht schon früher ab dem 13. September 2018 oder später nach dem gescheiterten Überstellungsversuch bis zum 31. Dezember 2018 nicht abgeschoben wurde, führt nicht zur Unmöglichkeit der Abschiebung im tatsächlichen Sinn.
27
Eine Unmöglichkeit der Abschiebung aus tatsächlichen Gründen ist gegeben, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, nicht bzw. nur mit unverhältnismäßigem Aufwand durchgesetzt werden kann. Eine Unmöglichkeit der Abschiebung ist nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen, sondern nur bei dem zeitweiligen Ausschluss der Abschiebung aufgrund rechtlicher Verbote oder Hindernisse oder aufgrund tatsächlicher Umstände außerhalb der administrativen Organisation der Abschiebung. Das Rechtsinstitut der Duldung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers auf nicht absehbare Zeit gar nicht oder nicht ohne erhebliche Verzögerung durchgesetzt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 9.3.2023 – 19 CE 23.183 – juris Rn. 14).
28
Ein solches Hindernis hat der Kläger weder glaubhaft gemacht, noch ist es sonst ersichtlich. Vielmehr ist er damals zur Abschiebung eingeplant und nur deshalb nicht abgeschoben worden, weil er Widerstand geleistet hat. Der Grund für die gescheiterte Abschiebung lag also in der Sphäre des Klägers, nicht des Beklagten, der alles Erforderliche für seine Rückführung vorbereitet hatte.
29
bb) Rechtliche Abschiebungshindernisse waren ebenfalls nicht ersichtlich.
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Der Kläger hatte insbesondere keinen Anspruch auf Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK wegen eines schützenswerten Privatlebens, da er sich im Bundesgebiet seit seiner Einreise im Jahr 2017 jedenfalls ab dem 13. September 2017 nicht einmal mehr gestattet aufgehalten hat und die Sanktion einer unerlaubten Einreise als Schranke der öffentlichen Ordnung der Zuwanderungssteuerung dient und eine legitime Schranke des Privatlebens darstellt (vgl. EGMR, U.v. 9.7.2021 – 6697/18 – NVwZ-RR 2022, 877 ff. Rn. 132). Diese Beschränkung zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele – hier der Verhinderung der weiteren Verfestigung des Aufenthalts ausreisepflichtiger Drittstaatsangehöriger – ist vorrangig in der Gesamtabwägung angesichts des – nur durch vorwerfbar unterlassene Ausreise von ihm erzwungenen – geduldeten Aufenthalts des Klägers oder geduldet, aber nicht erlaubt. Seine geringen wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet aus Hilfstätigkeiten haben keinen Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung.
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Erst nach Ablauf der Überstellungsfrist am 1. Januar 2018 trat ein rechtliches Abschiebungshindernis ein, da ihn der Beklagte nicht mehr abschieben durfte. Erst dann entstand ein Duldungs- bzw. – nach Aufhebung des Bescheids vom 30. August 2017 mit Wirkung ab dem 16. Januar 2018 – ein Aufenthaltsgestattungsanspruch. Die Unterbrechung des Voraufenthalts von dreieinhalb Monaten war auch erheblich.
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2. Ob der Widerstand des Klägers gegen seine Rückführung oder seine hartnäckige Verweigerung einer gebotenen Mitwirkung an der Identitätsklärung, insbesondere die unterlassene Vorsprache bei den Behörden seines Herkunftsstaats, zusätzlich noch einen Ausnahmefall gegenüber dem Regel-Erteilungsanspruch darstellt, braucht nicht mehr bewertet zu werden. Schon wegen der fehlenden tatbestandlichen Voraussetzungen des § 104c AufenthG hat der Kläger keinen Anspruch auf Verpflichtung des Beklagten zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG oder auf erneute Entscheidung hierüber.
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3. Auf die Bedürftigkeit des Klägers kommt es daher nicht mehr an.