Titel:
Erfolgreicher vorläufiger Rechtsschutzantrag eines türkischen Staatsangehörigen gegen sofort vollziehbare Ausweisungsverfügung
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1
GG Art. 6
EMRK Art. 8
Leitsätze:
1. Da eine Ausweisung eine schwerwiegende und mit schwer zu behebenden Folgen für den Ausländer verbundene Maßnahme darstellt, deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung noch erheblich verschärft wird, setzt das Interesse an der sofortigen Vollziehung die aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu treffende Feststellung voraus, dass der Sofortvollzug schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich ist (VGH München BeckRS 2019, 7796). (Rn. 31) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (EuGH BeckRS 2011, 81925 - Ziebell) handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen eigenständig zu treffen haben (BVerwG BeckRS 2013, 47815).Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insb. die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. (Rn. 34) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten. Es ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (VGH München BeckRS 2019, 3421). (Rn. 35) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insb. indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (VGH München BeckRS 2024, 6200). (Rn. 37) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Bei der Ausweisung im Inland geborener bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ("faktische Inländer") ist der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Gleichwohl besteht auch für "faktische Inländer" kein generelles Ausweisungsverbot (BVerfG BeckRS 2020, 21094). (Rn. 44) (red. LS Clemens Kurzidem)
6. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Es ist dementsprechend zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen ein e endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (BVerfG BeckRS 2021, 41010). (Rn. 47) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Ausweisung, Betäubungsmitteldelikte, Assoziationsberechtigter, faktischer Inländer, familiäre Gemeinschaft mit deutscher Ehefrau und deutschem Kind, türkischer Staatsangehöriger, Ausweisungsverfügung, Sofortvollzugsanordnung, Betäubungsmittelkriminalität, Maßregelvollzug, Führungsaufsicht, Rückfall, Grundinteresse der Gesellschaft, deutsche Ehefrau, deutsches Kind, Eltern-Kind-Beziehung, Verhältnismäßigkeitsprüfung, vorläufiger Rechtsschutz, Drogentherapie, Wiederholungsgefahr, Suchtmittelabhängigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 24659
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 08.04.2024 wird hinsichtlich der unter Ziffer 1 des Bescheides des Antragsgegners vom 08.03.2024 verfügten Ausweisung wiederhergestellt sowie hinsichtlich des unter Ziffern 3 und 5 des vorgenannten Bescheides erlassenen Einreise- und Aufenthaltsverbots und der Abschiebungsandrohung angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung.
2
Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger, wurde am … in … geboren, hielt sich seitdem im Bundesgebiet auf und verfügt über eine Niederlassungserlaubnis (§ 9 AufenthG). Er hat die Schule nach der 8. Klasse im Jahr 2003 verlassen und dann zunächst verschiedene Praktika beim Bfz absolviert. In der Folge arbeitete er über verschiedene Zeitarbeitsfirmen, u.a. bei der Firma … für fünf bis sechs Monate. Während einer erlittenen Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt … holte der Antragsteller den Hauptschulabschluss nach. Im Rahmen der 30-monatigen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (ab Juli 2016) hat der Antragsteller eineinhalb Jahre in … als Kommissionierer gearbeitet. Nachdem diese Maßregel am 18.03.2019 beendet war, zog der Antragsteller zurück nach … Er war zunächst drei Monate arbeitslos und hat sodann sieben Monate als Holzmaschinenbediener gearbeitet. Bis Anfang Februar 2024 war er als Verkäufer im familieneigenen Imbiss in … tätig. Derzeit befindet sich der Antragsteller in der Restschuldbefreiungsphase eines Privatinsolvenzverfahrens. Seit dem Jahr 2014 lebt er mit der deutschen Staatsangehörigen J.S. in einer Beziehung, mit der er einen am … geborenen Sohn (mit deutscher Staatsangehörigkeit) hat. Am … heirateten der Antragsteller und seine deutsche Lebensgefährtin.
3
Laut Bundeszentralregisterauskunft vom 13.02.2024 (Bl. 63 der Ausländerakte) ist der Antragsteller bisher strafrechtlich wie folgt in Erscheinung getreten.
Rechtskräftig seit 30.06.2004
Tatbezeichnung: Gefährliche Körperverletzung Datum der (letzten) Tat: 27.01.2004
Angewandte Vorschriften: StGB § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, JGG § 1, § 3, § 15 Abs. 1 Nr. 3 Erbringung von Arbeitsleistungen
Tatbezeichnung: Vorsätzliches unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 3 Fällen Datum der (letzten) Tat: 22.09.2009
Angewandte Vorschriften: StGB § 53, BtMG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 12, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, JGG § 1, § 105 Abs. 1 Nr. 1, § 15 Abs. 1 Nr. 3
Verfahren eingestellt nach § 47 JGG
Erbringung von Arbeitsleistungen
3. 29.09.2010 AG … – … – Rechtskräftig seit 20.10.2010
Tatbezeichnung: Vorsätzlicher unerlaubter Besitz in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer verbotenen Waffe Datum der (letzten) Tat: 29.07.2010
Angewandte Vorschriften: StGB § 52, WaffG § 52 Abs. 3 Nr. 1
30 Tagessätze zu je 10,00 EUR Geldstrafe
4. 01.03.2011 AG … – … – Rechtskräftig seit 01.03.2011 Tatbezeichnung: Vorsätzliche unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln Datum der (letzten) Tat: 18.08.2010
Angewandte Vorschriften: StGB § 25, § 56, BtMG § 29 Abs. 1 Nr. 1
3 Monat(e) Freiheitsstrafe Bewährungszeit 3 Jahr(e)
Bewährungshelfer bestellt Strafaussetzung widerrufen Bewährungshelfer bestellt bis: 01.02.2014 Strafrest zur Bewährung ausgesetzt bis 01.02.2015
Ausgesetzt durch: 31.01.2012, …, AG …
Bewährungszeit verlängert bis 01.02.2016
Bewährungszeit verlängert bis 01.02.2017
Strafrest erlassen mit Wirkung vom 27.02.2017
5. 30.12.2014 AG … – … – Rechtskräftig seit 13.02.2015
Tatbezeichnung: Vorsätzliches unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln Datum der (letzten) Tat: 30.06.2014
Angewandte Vorschriften: BtMG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
60 Tagessätze zu je 30,00 EUR Geldstrafe
6. 06.06.2016 LG … – … – Rechtskräftig seit 06.06.2016
Tatbezeichnung: Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 4 Fällen jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, hiervon in einem Fall zusätzlich in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 4 Fällen jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln sowie vorsätzlicher unerlaubter Erwerb von Betäubungsmitteln
Datum der (letzten) Tat: 15.07.2015
Angewandte Vorschriften: StGB § 52, § 53, § 64, BtMG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 29a Abs. 1 Nr. 2
4 Jahr(e) 3 Monat(e) Freiheitsstrafe
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
Beginn Freiheitsentzug (Unterbringung § 64): 18.07.2016
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt
Ausgesetzt durch: 25.02.2019, …, LG … Führungsaufsicht nach Aussetzung oder Erledigung einer Unterbringung bis 17.03.2024 Strafrest zur Bewährung ausgesetzt bis 17.03.2024
Bewährungshelfer bestellt Strafaussetzung widerrufen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erledigt am 16.03.2021 Strafrest zur Bewährung ausgesetzt bis 13.09.2028
Ausgesetzt durch: 17.10.2023, …, LG …
Bewährungshelfer bestellt
7. 14.10.2020 AG … – … – Rechtskräftig seit 14.10.2020
Tatbezeichnung: Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge Datum der (letzten) Tat: 06.04.2020
Angewandte Vorschriften: StGB § 52, § 64, BtMG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 52, § 64, § 29a Abs. 1 Nr. 3
2 Jahr(e) 9 Monat(e) Freiheitsstrafe
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt Ende Freiheitsentzug (Unterbringung § 64): 13.09.2023 Strafrest zur Bewährung ausgesetzt bis 13.09.2028
Ausgesetzt durch: 31.08.2023, …, LG …
Bewährungshelfer bestellt Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung ausgesetzt Führungsaufsicht nach Aussetzung oder Erledigung einer Unterbringung bis 13.09.2028
4
Der Antragsteller leidet unter einer manifesten und langjährigen Betäubungsmittelabhängigkeit. Er hat bereits zwei Langzeitentwöhnungsbehandlungen im Rahmen von Unterbringungen in einer Entziehungsanstalt, zuletzt bis zum 13.09.2023, absolviert.
5
Das Bezirksklinikum …, wo sich der Antragsteller vom 18.07.2016 bis 17.03.2019 im Maßregelvollzug befand, führt im Rahmen einer Stellungnahme vom 26.04.2019 aus, dass der Antragsteller während der stationären Behandlung offen, ernsthaft und veränderungsbereit imponiert und Krankheitseinsicht sowie Therapiemotivation bewiesen habe. Der ambulante Behandlungsverlauf nach Entlassung habe sich durchweg positiv gestaltet. Insgesamt wurde von einer günstigen Prognose in Bezug auf eine zukünftige Abstinenz ausgegangen.
6
Nach den Ausführungen des aufgrund eines Beschlusses des Landgerichts … – Strafvollstreckungskammer vom 04.11.2022 (Az. …*) erstatteten wissenschaftlich begründeten kriminalprognostischen Sachverständigengutachtens vom 27.01.2023 (Bl. 132 des Vollstreckungsheftes, Band I) könne der Antragsteller anhand empirischer Daten einer Gruppe von Straftätern zugeordnet werden, bei denen ein mittelmäßiges bis hohes allgemeines Rückfallrisiko von ca. 60% innerhalb von fünf bis sechs Jahren bestehe. Die Bewertung des individuellen Risikoprofils zeige unter Berücksichtigung der Anlasstat, des Vorlebens, der postdeliktischen Entwicklung im Maßregelvollzug im Bezirkskrankenhaus … und des geplanten sozialen Empfangsraumes in … insgesamt eine Besserung des Risikoprofils bei gleichzeitiger unzureichender Erprobung des sozialen Entlassraumes und des Fortbestehens von kriminogenen Risikofaktoren an. Risikoerhöhende Faktoren würden sich im Falle des Antragstellers durch eine unzureichende Erprobung des Arbeitsverhältnisses, die eingeschränkte Abstinenzfähigkeit und eine Schmerzsymptomatik im Schulter- und Nackenbereich ergeben. Angesichts dessen und zuletzt positiver Substanzkontrollen bestehe die in den Taten zutage getretene Gefährlichkeit des Antragstellers zum aktuellen Zeitpunkt außerhalb des Maßregelvollzugs mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch fort. Bei einer Rückfälligkeit des Antragstellers müssten vorrangig einschlägige Betäubungsmitteldelikte erwartet werden.
7
Ausweislich einer Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses … vom 29.02.2023, wo sich der Antragsteller vom 23.08.2021 bis 13.09.2023 im stationären Maßregelvollzug befand und seit seiner Entlassung ambulant nachbetreut wird, sei es im stationären Behandlungsverlauf zu mehreren Suchtmittelrückfällen gekommen. Als Grund habe der Antragsteller körperliche Schmerzen benannt. Besonders stabilisierend hätten sich Heimfahrten zu seiner Familie gezeigt; er habe viel Zeit mit seinem Sohn und seiner Freundin verbracht. Der Antragsteller scheine in der Vaterrolle einen Sinn gefunden zu haben, der ihm in der Vergangenheit immer wieder zu fehlen schien. Auch im Rahmen der ambulanten Behandlung sei es zu mehreren Suchtmittelrückfällen mit THC gekommen. Als Rückfallursache habe der Antragsteller die andauernde Schmerzproblematik in seiner Schulter (auch nach stattgefundener Operation) angeführt. Überdies sei es anlässlich einer familiären Belastungssituation zu einem Rückfall mit Methamphetamin gekommen, den der Antragsteller jedoch sofort offen angesprochen habe; auch habe er sich insoweit gut auf eine therapeutische Bearbeitung einlassen können.
8
Im Rahmen einer Gutachterlichen Stellungnahme gemäß § 67e StGB an die Staatsanwaltschaft … vom 12.04.2023 (Bl. 177f. des Vollstreckungsheftes, Band I) führte das Bezirkskrankenhaus … aus, dass sich zuletzt eine positive Entwicklung des Antragstellers gezeigt habe. Er stehe in gutem Kontakt zum Behandlungsteam der suchtforensischen Station … und habe eine Krisenintervention nach erneuter Rückfälligkeit gewinnbringend für sich nutzen können. Ferner gelinge es ihm, das eigene Verhalten und die Defizite in einen biografischen Kontext einzubetten. Aus forensisch-psychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht sei der Sinn und Zweck der Maßregel zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vollständig erfüllt. Beim Antragsteller gelte es noch ein tragfähiges Entlasssetting zu stabilisieren und ihn weiter zu erproben, erst dann könne eine positive Legal- und Spezialprognose gestellt werden.
9
In einer Stellungnahme vom 22.06.2023 (Bl. 186ff. des Vollstreckungsheftes, Band II) empfahl das Bezirkskrankenhaus … die bedingte Entlassung des Antragstellers unter den Weisungen Suchmittelabstinenz mit Überprüfungen, Bewährungshilfe, Nachbetreuung durch die forensische Ambulanz sowie Ausübung einer Beschäftigung. Der Antragsteller habe den stationären Teil der Maßregelvollzugsbehandlung abgeschlossen und halte sich momentan weiterhin in der Erprobungsphase außerhalb der Klinik im Entlasssetting in der gemeinsamen Wohnung mit seiner Partnerin sowie zur beruflichen Erprobung im Zuhause seiner Mutter auf. Eine relevante Senkung seines Risikos mit Suchtmitteln und Delinquenz lasse sich durch weitere therapeutische Interventionen in der Entziehungsanstalt nicht erreichen. Die zu erwartenden Straftaten ließen sich am ehesten im Bereich von Betäubungsmitteln verorten. Die zukünftige Begleitung sollte deshalb weiterhin relativ nah am Patienten erfolgen. Bedingung sei zudem der Erhalt und Ausbau der Tagesstruktur. Der Antragsteller halte über den langwierigen Behandlungsverlauf trotz Rückschlägen an seiner Therapiemotivation fest und lasse sich auf eine Weiterbegleitung nach seiner Entlassung ein. Unter Einbindung in dieses kontrollierende Nachsorgekonzept bestehe die begründete Aussicht, dass der Antragsteller abstinent leben könne und es zu keinen weiteren Straftaten kommen werde.
10
Mit Schreiben der Ausländerbehörde des Landratsamtes … vom 01.08.2023 (Bl. 76 der Ausländerakte) wurde der Antragsteller zur beabsichtigten Ausweisung angehört. Seine Bevollmächtigte äußerte sich mit Schriftsatz vom 31.01.2024 (Bl. 35f. der Ausländerakte) und verwies auf den ernsthaften Willen des Antragstellers gegen seine Betäubungsmittelabhängigkeit zu kämpfen sowie darauf, dass der Antragsteller mit seinem Sohn und dessen Mutter zusammenlebe, wobei der Antragsteller die Elternverantwortung gleichberechtigt neben seiner Partnerin ausübe. Mit undatiertem Schreiben, welches am 23.02.2024 beim Antragsgegner einging (Bl. 42 der Ausländerakte), äußerte sich die jetzige Ehefrau des Antragstellers sowie Mutter des gemeinsamen Sohnes. Demnach passe der Antragsteller auf den gemeinsamen Sohn auf, wenn die Ehefrau arbeite. Auch in der Therapiezeit habe der Antragsteller eine sehr gute Bindung zu seinem Sohn aufgebaut. Nach der Entlassung und dem Beginn der Tätigkeit im Imbiss seiner Mutter habe der Antragsteller jede freie Minute genutzt, um im Rahmen von Videotelefonaten mit der Ehefrau den Sohn zu sehen. Jeden Samstag sei der Antragsteller mit dem Zug zu seiner Ehefrau gefahren, um dort das verlängerte Wochenende gemeinsam mit seinem Sohn zu verbringen. Der Sohn habe sich jede Woche auf seinen Vater gefreut. Derzeit bestehe eine sehr gute und starke Vater-Sohn-Bindung. Der Sohn brauche seinen Vater. Er würde es nicht verstehen können, wenn ihm sein Vater für unbestimmte Zeit genommen würde. Der Antragsteller sei ein guter Mensch; dies könne die Lebensgefährtin nach all den Jahren mit gutem Gewissen sagen. Er sei gutherzig, ein wundervoller Mann und ein großartiger Vater für das Kind.
11
Unter dem 28.12.2023 (Bl. 244 des Vollstreckungsheftes, Band II) führte der Bewährungshelfer aus, dass zum Antragsteller regelmäßig Kontakt bestehe und dieser sich kooperativ zeige. Einen erlittenen Rückfall habe der Antragsteller aufgemacht und thematisiert. Die Konsequenzen dieses Rückfalls (Strafantrag) seien ihm bewusst. Eine angemessene Geldstrafe im niedrigen Bereich oder eine Verwarnung erschienen dem Bewährungshelfer als Warnschuss ausreichend. Zuletzt wurde der Antragsteller mit Urteil des Amtsgerichts … vom 20.02.2024 (Az. …*) wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 60,00 EUR verurteilt. In den Urteilsgründen wird ausgeführt:
„Nachdem der unter einer langjährigen und schwerwiegenden Betäubungsmittelabhängigkeit leidende Angeklagte aufgrund von Entzugserscheinungen nach dem eigenmächtigen Absetzen des ihm nach einer Schulteroperation verschriebenen Schmerzmittels Tilidin einen Rückfall hinsichtlich des Konsums von Methamphetamin erlitten hatte, führte der Angeklagte am 25.10.2023 gegen 10.30 Uhr bei einer polizeilichen Kontrolle in der Spielothek … in der … in … 0,85 Gramm Methamphetamin für seinen Eigenkonsum willentlich mit sich.“
12
Weiter wird ausgeführt, dass die Bewährungs- und Führungsaufsicht des Antragstellers mit Ausnahme des vorgenannten Sachverhalts bisher ohne Beanstandungen verlaufe und er seinen Rückfall gegenüber seiner Bezugstherapeutin offengelegt habe. Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht zu Gunsten des Antragstellers, dass er ein glaubhaft von Schuldeinsicht und Reue getragenes Geständnis abgelegt und es sich nur um eine geringe Menge gehandelt habe, die für den Eigenkonsum des unter einer Betäubungsmittelabhängigkeit leidenden Antragstellers bestimmt gewesen sei. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass er bereits vielfach und erheblich einschlägig vorbestraft sei und die Tat in gleich doppelt offener und einschlägiger Reststrafenbewährung mit hoher Rückfallgeschwindigkeit nach der Absolvierung seiner letzten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt begangen habe. Gleichwohl erachtete das Gericht die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe auch in Anbetracht des Eindrucks vom Antragsteller in der Hauptverhandlung gerade noch nicht unerlässlich im Sinne von § 47 Abs. 1 StGB. Das Urteil des Amtsgerichts … vom 20.02.2024 (Az. …*) ist noch nicht rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft hat Berufung eingelegt. Ein Termin wurde seitens des Landgerichts … noch nicht bestimmt.
13
Ausweislich des Berichts der Bewährungshilfe vom 31.01.2024 wurde der Antragsteller unter dem 15.01.2024 positiv auf Amphetamine und Derivate getestet (Bl. 246f. des Vollstreckungsheftes, Band II). Daraufhin wurde der Antragsteller seitens der Führungsaufsichtsstelle des Landgerichts … mit Schreiben vom 07.02.2024 ermahnt (Bl. 249 des Vollstreckungsheftes, Band II). Unter dem 27.02.2024 berichtete der Bewährungshelfer des Antragstellers erneut von einem positiven Untersuchungsergebnis im Hinblick auf Amphetamine und Derivate (Bl. 250f. des Vollstreckungsheftes, Band II).
14
Mit Bescheid vom 08.03.2024 wies das Landratsamt … den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und ordnete den Sofortvollzug der Ausweisung an (Ziffer 2). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf die Dauer von acht Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise aus dem Bundesgebiet befristet (Ziffer 3). Der Antragsteller wurde aufgefordert, das Bundesgebiet unverzüglich, spätestens bis zum Ablauf von 30 Tagen nach Zustellung des Bescheids zu verlassen (Ziffer 4), widrigenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 5). Zur Begründung wird ausgeführt, dass der Antragsteller infolge der Verurteilung des Landgerichts … vom 06.06.2016 zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nrn. 1 und 1b Var. 2 AufenthG erfülle. Zudem sei der Antragsteller mit Urteil des Amtsgerichts … vom 14.10.2020 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Überdies sei der Tatbestand des § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG erfüllt. Andererseits lägen im Fall des Antragstellers besonders schwerwiegende Bleibeinteressen vor. So halte er sich bereits seit seiner Geburt im Bundesgebiet auf und besitze eine Niederlassungserlaubnis, § 55 Abs. 1 Nr. 1, § 9 AufenthG. Zudem habe der Antragsteller geltend gemacht, gleichberechtigt neben seiner Lebensgefährtin für die Erziehung und Sorge seines fünfjährigen Sohnes zuständig zu sein und mit diesen in häuslicher Gemeinschaft zu leben, § 55 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 Nr. 5 AufenthG. Auch seien an die Ausweisung des Antragstellers gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG strenge Anforderungen zu stellen, da er als Kind eines türkischen Staatsangehörigen im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei, weshalb zu seinen Gunsten unterstellt werde, dass ihm ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 zustehe. Aus dem bisherigen strafrechtlichen und sozialen Werdegang des Antragstellers ergebe sich, dass seine Sozialisation hier gescheitert sei. Der Antragsteller sei bereits seit frühester Jugend regelmäßig durch die Begehung unterschiedlichster Straftaten, den Handel und Konsum harter Drogen, mehrfach negativ in Erscheinung getreten und habe sich auch von empfindlichen strafrechtlichen Sanktionen, einschließlich wieder erlebten Freiheitsentzuges, sowie durch die väterliche Verantwortung für den eigenen Sohn, nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Zwar rekurriere der Antragsteller wiederholt auf sein Suchtproblem und benenne dieses als Erklärung für sein Verhalten. Den strafrechtlichen Verurteilungen sei jedoch eine deutliche Gewinnerzielungsabsicht hinsichtlich der gehandelten Rauschgifte zu entnehmen. Die Ausländerbehörde gehe aufgrund der Gesamtpersönlichkeit des Antragstellers, der unzweifelhaft vorliegenden erheblichen Bereitschaft, harte Drogen zu konsumieren und gewinnbringend zu verkaufen, sowie seiner mehrfach unter Beweis gestellten Ablehnung gegenüber der hier geltenden Rechtsordnung davon aus, dass von ihm ungeachtet des erneuten Strafvollzugs auch künftig weitere Straftaten zu erwarten seien, die Grundinteressen der Gesellschaft berührten. Seiner Lebensgefährtin, seinem Sohn sowie dem Antragsteller selbst sei es im Hinblick auf die Schwere der von ihm begangenen Straftaten und der von ihm ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr zuzumuten, entweder eine räumliche Trennung – die aufgrund der mehrjährigen Inhaftierungen ohnehin schon bestanden habe – in Kauf zu nehmen oder die Bindung zueinander in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche im Heimatland, aufrechtzuerhalten. Zwar sei der Antragsteller im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen. Gleichwohl dürfte ihm die türkische Sprache weiterhin geläufig sein. Es sei davon auszugehen, dass ihm eine Integration in die türkischen Lebensverhältnisse – auch aufgrund seines Aufwachsens in einer türkischen Familie – in zumutbarer Art und Weise möglich sein bzw. ihm nicht schwerer fallen werde als seine Integrationsbemühungen in die hiesigen Lebensverhältnisse. Die spezialpräventive Zielsetzung der Ausweisung rechtfertige und erfordere die ausnahmsweise Anordnung des Sofortvollzugs, da ansonsten in Kauf genommen werden müsse, dass sich die Wiederholungsgefahr ggf. im Rahmen eines evtl. längerdauernden Hauptsacheverfahrens realisiere. Ein Eintreten der Wiederholungsgefahr sei angesichts des bisherigen Werdegangs des Antragstellers bereits kurzfristig zu befürchten, da der Antragsteller zu erkennen gegeben habe, dass er regelmäßig nur eine Ausnahme- bzw. Krisen- oder Überforderungsreaktion davon entfernt sei, in bisherige Verhaltensmuster zurückzufallen.
15
Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 08.04.2024, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag eingegangen, hat der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Landratsamtes … vom 08.03.2024 erhoben, die diesseits unter dem Az. B 6 K 24.266 anhängig ist. Darüber hinaus beantragte die Bevollmächtigte des Antragstellers,
die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen, insofern der Sofortvollzug in Ziffer 2 angeordnet wurde sowie die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung (Ziffer 4) und die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) anzuordnen.
16
Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom 16.04.2024 ausgeführt, dass der Antragsteller in Deutschland mit seinen Geschwistern und Eltern aufgewachsen sei und nach der Trennung der Eltern vornehmlich durch die Mutter erzogen worden sei. Er sei nicht mit der türkischen Sprache aufgewachsen und dieser auch nicht mächtig. Es wird eine Stellungnahme der Mutter des Antragstellers vorgelegt. Zudem würden keine engen Familienmitglieder in der Türkei leben, zu denen der Antragsteller im Kontakt stehe. Überdies sei die Herkunftsregion der Familie bei dem Erbeben im Jahr 2023 zerstört worden. Darüber hinaus sei es möglich und wahrscheinlich, dass der Antragsteller in der Türkei zum Wehrdienst herangezogen werden würde, was angesichts seiner gesundheitlichen Verfassung problematisch sei. Eine Befreiung durch Zahlung sei dem Antragsteller nicht zugänglich. Der Antragsteller lebe seit elf Jahren mit seiner deutschen Verlobten in einer Beziehung, die ihn im Rahmen seiner Genesung sehr unterstütze. Eine Stellungnahme der Verlobten wird vorgelegt. Der Antragsteller und seine Verlobte hätten einen gemeinsamen Sohn, der 4,5 Jahre alt, in Deutschland geboren und deutscher Staatsangehöriger sei. Die Sorge für den Sohn hätten beide Elternteile gemeinsam übernommen. Zudem führten sie den gesamten Alltag zusammen. Der Antragsteller sei immer in die Erziehung und das Leben seines Sohnes involviert gewesen; auch während der Zeiten des Vollzugs. Der Sohn pflege eine enge Bindung zu seinem Vater. Auch in Kindergarten-Aktivitäten bringe sich der Antragsteller ein. Eine Stellungnahme des Kindergartens wird übermittelt. Direkt vor seiner Neuanstellung sei der Antragsteller einige Wochen zu Hause gewesen, weshalb er noch mehr Zeit mit seinem Sohn habe verbringen können. Es sei davon auszugehen, dass der Sohn unter psychischen Problemen und Verlustängsten leiden würde, wenn er keinen Kontakt zu seinem Vater pflegen könne. Seit Zugang des streitgegenständlichen Bescheides habe der Sohn die Anspannung von Vater und Mutter bemerkt. Infolgedessen sei es bereits zu sog. Bettnässen gekommen. Das Kind sei alt genug, um die Sorgen der Eltern, Großeltern sowie der weiteren Familie mitzubekommen. Um das Wohlergehen des Kindes so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, seien bereits Termine mit dem Jugendamt wahrgenommen worden. Auch habe man Beratungsangebote von Kinder- und Jugendpsychologen eingeholt. Das Jugendamt gehe davon aus, dass in der Familie keine Probleme bestünden. Ein Schreiben des Jugendamtes wird vorgelegt. Der Antragsteller verfüge über ein großes familiäres und freundschaftliches Umfeld. Es sei ihm unmöglich, ein Leben bzw. sein Familien- und Erwerbsleben in der Türkei zu leben.
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Überdies leide der Antragsteller an diversen psychischen und physischen Erkrankungen. Zum einen liege eine Suchtkrankheit aus früherem Drogenabusus vor. Der Antragsteller befinde sich diesbezüglich in ärztlicher Behandlung. Ärztliche Stellungnahmen werden vorgelegt. Zudem bestünden orthopädische bzw. neurologische Beschwerden. Zum aktuellen Zeitpunkt würden der Antragsteller sowie seine Verlobte auch unter einer enormen psychischen Belastung leiden.
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Der Antragsteller befinde sich seit Mitte März in einer neuen Festanstellung als Fußbodentechniker. Eine Arbeitsbestätigung wird vorgelegt. Der Vertrag sei vorerst auf ein Jahr befristet, laute auf 40 Wochenstunden und einen Stundenlohn von 13,00 Euro. Ein etwaiger Verlust des Antragstellers würde zu einem wirtschaftlichen Nachteil des Betriebes führen. Eine Stellungnahme des Arbeitgebers wird vorgelegt.
19
Hinsichtlich des Antragstellers ergebe sich aufgrund der vorgetragenen Details zu seinem familiären und beruflichen Leben in Deutschland sowie angesichts der nicht vorhandenen Bindungen in der Türkei und der dort unter Umständen trotz gesundheitlicher Beschwerden drohenden Heranziehung zum Wehrdienst sowie den massiven Problemen im Zusammenhang mit der Suchterkrankung, die einer dauerhaften Behandlung und Anbindung an Unterstützungsoptionen bedürften, dass das Aussetzungsinteresse das behördliche Interesse am Sofortvollzug deutlich überwiege. Vom Antragsteller gehe keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit mehr aus. Es sei nicht zu erwarten, dass der Antragsteller künftig Straftaten zu Lasten anderer Personen oder des Staates begehen werde. Allenfalls bestehe ein geringes Risiko für Suchtrückfälle. Im Rahmen der Abwägung sei zu berücksichtigen, dass dem Kind, der Verlobten sowie dem Antragsteller selbst im Falle einer Abschiebung massive psychische und alltägliche Einbußen drohten. Aufgrund des Alters des Kindes würde dieses im Falle einer Trennung Schaden an seiner Entwicklung nehmen und im Alltag Nachteile erleiden, die unweigerlich entstünden, wenn nur ein berufstätiger Elternteil zur Verfügung stehe. Auch jetzt zeigten sich aufgrund der drohenden Trennung bereits große Schwierigkeiten, die sich im Falle einer dauerhaften Trennung intensivieren würden. Aufgrund seines Alters sei der Sohn nicht fähig, eine Beziehung lediglich durch elektronische Kommunikation aufrechtzuerhalten. Auch sei aus dem Ausland heraus eine Unterstützung der Mutter bei der Erziehung, Pflege und im Alltag nicht möglich. Auch eine finanzielle Unterstützung durch Unterhalt sei nicht zu erwarten, da nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Antragsteller in der Türkei eine Arbeit finde.
20
Laut Bewährungshilfebericht vom 09.04.2024 wurde der Antragsteller am 06.03.2024 wiederum positiv auf Methamphetamin getestet (Bl. 258f. des Vollstreckungsheftes, Band II). Unter dem 12.04.2024 stellte die Führungsaufsichtsstelle des Landgerichts … angesichts der am 07.02.2024 und 06.03.2024 durchgeführten und positiv auf Cannabis verlaufenden Speichel-Kontrollen des Antragstellers Strafantrag (Bl. 262f. des Vollstreckungsheftes, Band II).
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Mit Schriftsatz vom 18.04.2024 beantragt das Landratsamt … für den Antragsgegner, den Antrag abzulehnen.
22
Zur Begründung wird ausgeführt, dass es einem jungen, gesunden Erwachsenen zumutbar sei, sich trotz möglicherweise bestehender sprachlicher Schwierigkeiten in seinem Heimatland zurechtzufinden. Der Umstand, dass der Antragsteller im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei, eröffne für sich gesehen nicht den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz faktischer Inländer. Vielmehr müsse der Antragsteller im Bundesgebiet ein Leben führen, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt sei und er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert sei, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden könne. Eine derartige Integration habe im Fall des Antragstellers nicht stattgefunden. Er habe keinen Schulabschluss erreicht und keine Berufsausbildung abgeschlossen. Überdies sei er lediglich hilfsweise in einem Imbiss beschäftigt worden. Eine wirtschaftliche Integration habe somit nicht stattgefunden. Auch eine besondere gesellschaftliche Integration sei während seines gesamten Aufenthalts nicht erfolgt. Vielmehr sei der Antragsteller seit seiner Schulzeit kontinuierlich strafrechtlich in Erscheinung getreten und habe damit seine Missachtung gegenüber der deutschen Gesellschafts- und Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht. Der Umstand, dass die Lebensgefährtin und der gemeinsame Sohn in Deutschland lebten und der Antragsteller zu diesen eine Beziehung pflege, sei als besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse im Rahmen der Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen berücksichtigt worden. Der Sohn des Antragstellers sei knapp fünf Jahre alt und damit alt genug, um zu verstehen, dass die Trennung von seinem Vater nur vorübergehend sein werde. Obwohl der Antragsteller kurz nach der Entlassung von der bisher längsten Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten bereits Vater gewesen sei, habe ihn dieser Umstand nicht von der Begehung einer weiteren schweren Straftat, die zu einer weiteren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten geführt habe, abgeschreckt. Überdies sei in Rechnung zu stellen, dass eine Beeinträchtigung des Kindeswohls bestehe, wenn ein Kontakt des Kindes mit mitgeführten bzw. gelagerten Betäubungsmitteln riskiert werde. Insoweit werde auf das Urteil des Amtsgerichts … vom 14.10.2020 (Az. …*) verwiesen, wonach der Antragsteller 30 Gramm Methamphetamin zum späteren Weiterverkauf sowie eine Feinwaage in seiner Wohnung aufbewahrt habe. Diese Wohnung habe er bereits zum damaligen Zeitpunkt mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn bewohnt. Bei lebensnaher Betrachtung erscheine es im Falle einer Wiederholung derartiger Verstöße nicht unmöglich, dass ein fast fünfjähriges Kind in der Wohnung verwahrte Betäubungsmittel auffinde und diese versehentlich verschlucke. Die Argumentation, dass das private Aussetzungsinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse angesichts der zu befürchtenden Kindeswohlgefährdung überwiege, erscheine daher nicht durchgreifend. Vielmehr wäre es dem Antragsteller zumutbar gewesen, sein Verhalten gerade aufgrund der Liebe und Fürsorge zu seinem Sohn positiv zu ändern. Es erscheine unglaubwürdig, gerade jetzt positive Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen anzuführen, wenn ausländerrechtliche Konsequenzen drohten. Der Ansicht des Bewährungshelfers des Antragstellers werde nicht gefolgt. Es bestehe auch derzeit noch die konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller. Der Antragsteller sei bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dabei habe er sich weder durch sein zunehmendes Alter noch durch die ihm gebotene strafrechtliche Bewährungsmöglichkeit von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen.
23
Mit Schriftsatz vom 02.05.2024 übermittelte die Antragstellerbevollmächtigte ein fachärztliches Attest vom 18.04.2024, wonach der Antragsteller unter einer Leistenhernie beidseitig leide. Zudem wird die Eheurkunde vom … in Kopie sowie eine Stellungnahme des Bewährungshelfers des Antragstellers vom 02.05.2024 übermittelt. Ausweislich der Stellungnahme arbeite der Bewährungshelfer seit Oktober 2023 mit dem Antragsteller im Rahmen der Führungsaufsicht/Bewährungshilfe zusammen. Seiner Auffassung nach sei der Antragsteller gewillt, trotz seiner Suchterkrankung ein straffreies Leben ohne Drogen zu führen und sich in Deutschland zu integrieren.
24
Mit Bericht vom 27.05.2024 (Bl. 266 des Vollstreckungsheftes, Band II) teilte der Bewährungshelfer des Antragstellers der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … mit, dass sich die bisherige Zusammenarbeit mit dem Antragsteller, trotz der positiven Drogenscreenings, sehr positiv gestalte. Der Antragsteller lebe gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Kind in … Er gehe nun einer Arbeit nach und plane im September eine erneute Ausbildung zu beginnen. Der Umstand, dass dem Antragsteller ein Ausweisungsbescheid bekanntgegeben worden sei, belaste die junge Familie massiv. Seinen Cannabiskonsum begründe er mit gesundheitlichen Einschränkungen (Schmerzen), da er auf starke Schmerztabletten (Tilidin) verzichten wolle; dies könne er auch durch ärztliche Atteste belegen. Er habe ein Rezept für Cannabis. Auch aufgrund der Gesetzesänderung scheine eine weitere Verfolgung insoweit nicht verhältnismäßig. Es seien keinerlei Hinweise für ein unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln bekannt. Für den Antragsteller seien die drohende Abschiebung und auch das gegenständliche Verfahren Abschreckung genug und er zeige einen starken Willen, sein Leben legal zu bestreiten. Besonders hart sei es für den Antragsteller, dass er im Falle einer Abschiebung keinerlei soziale Kontakte in der Türkei habe und er nicht einmal der Sprache mächtig sei. Zudem zerreiße es seine Familie und die Auswirkungen auf sein Kind, zu dem er eine gute Beziehung pflege, könnten nicht abgeschätzt werden.
25
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die seitens des Gerichts angeforderten Straf- und Strafvollstreckungsakten Bezug genommen.
26
Das Begehren des anwaltlich vertretenen Antragstellers im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ist dahin zu verstehen, dass über die ausdrückliche Antragstellung hinaus auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG kraft Gesetzes sofort vollziehbare Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG (vgl. Ziffer 3 des Bescheides vom 08.03.2024) begehrt wird. Das Gericht hat das Begehren des Antragstellers – das wirkliche Rechtsschutzziel – entsprechend § 88 VwGO von Amts wegen zu ermitteln. An die Fassung der gestellten Anträge ist es nicht gebunden; sie können das Begehren eines Antragstellers nicht nur schief, sondern insbesondere auch unvollständig erfassen. Daher sind die Anträge gemäß §§ 133, 157 BGB auszulegen, ggf. unter Rückgriff auf die Interessenlage (vgl. Wöckel in: Eyermann, VwGO, 16. Auflage 2022, § 88, Rn. 8f.). Vorliegend lässt sich der Antragsbegründung, dem beigefügten Bescheid und der in der Hauptsache im Hauptantrag beantragten vollumfänglichen Bescheidsaufhebung entnehmen, dass der Antragsteller insbesondere aufgrund der umfassend dargelegten familiären Belange eine weitreichende Aussetzung des Sofortvollzugs begehrt, zumal die geltend gemachten familiären Bindungen insbesondere auch das auf acht Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot betreffen.
27
Der so verstandene, zulässige Antrag hat in der Sache Erfolg.
28
1. Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist hinsichtlich Ziffer 2 des Bescheids vom 08.03.2024 als Antrag auf Wiederherstellung und im Übrigen als Antrag auf Anordnung (vgl. § 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG, Art. 21a VwZVG) der aufschiebenden Wirkung der Klage zulässig.
29
2. Der Antrag ist auch begründet.
30
a) Zwar ist das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung in einer den Formerfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise damit begründet worden, dass ein Eintreten der Wiederholungsgefahr bereits kurzfristig während eines evtl. längerfristigen Hauptsacheverfahrens zu befürchten sei, wofür auch die in der jüngeren Vergangenheit gezeigte Rückfallgeschwindigkeit, die mit Gefahren einherginge, welche Grundinteressen der Gesellschaft berührten, spreche. Damit hat der Antragsgegner in hinreichender Weise einzelfallbezogen zum Ausdruck gebracht, dass er das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Ausweisung damit begründet, dass eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers und damit verbundene Gefahren für die Allgemeinheit noch vor Rechtskraft im Hauptsacheverfahren verhindert werden sollen (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 10). Die Frage, ob die gegebene Begründung inhaltlich trägt, ist nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung des Formerfordernisses des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO (vgl. NdsOVG, B.v. 15.5.2021 – 13 ME 243/21 – juris Rn. 23).
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b) Ist mithin das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug (hier) der Ausweisung in einer den Formerfordernissen nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet worden, setzt die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Da die Ausweisung eine schwerwiegende und mit schwer zu behebenden Folgen für den Ausländer verbundene Maßnahme darstellt, deren Gewicht durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung noch erheblich verschärft wird, setzt das Interesse an der sofortigen Vollziehung des Weiteren die aufgrund einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls zu treffende Feststellung voraus, dass der Sofortvollzug schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens als Präventivmaßnahme zur Abwehr der mit der Ausweisungsverfügung zu bekämpfenden Gefahren erforderlich ist (vgl. BVerfG, B.v. 13.6.2005 – 2 BvR 485/05 – NJW 2005, 3275; BayVGH, B.v. 14.3.2019 – 19 CS 17.1784 – juris Rn. 7, B.v. 19.2.2009 – 19 CS 08.1175 – juris Rn. 49 jeweils m.w.N.). Bei der im Übrigen vorzunehmenden Folgenabwägung sind die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich die Ausweisung nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für den Ausländer, wenn sich die Ausweisungsverfügung nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte, gegenüberzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 4.10.2006 – 1 BvR 2403/06 – juris). Für das Vorliegen des besonderen Vollziehungsinteresses im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO kommt es auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an (vgl. OVG NW, B.v. 5.8.2009 – 18 B 331/09 – juris; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 11). Bei der Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat im Rahmen der üblicherweise vorzunehmenden summarischen Prüfung gerade dann, wenn – wie hier – die (sofortige) Vollziehung einer Maßnahme mit einem schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbunden ist, eine – soweit dies unter den Bedingungen eines Eilverfahrens im konkreten Fall möglich ist – vertiefte Prüfung der maßgeblichen Sach- und Rechtsfragen zu erfolgen, um wirksamen Rechtsschutz i.S.d. Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten (BayVGH, B.v. 16.3.2023 – 19 CS 23.269 – juris Rn. 6; B.v. 18.3.2022 – 10 CS 21.1570 – juris Rn. 4).
32
Im vorliegenden Fall ergibt diese Prüfung, dass die Erfolgsaussichten der Klage hinsichtlich der Ausweisungsentscheidung jedenfalls als offen anzusehen sind. Die angegriffene Ausweisung stellt sich im Rahmen der im Eilverfahren möglichen Prüfung weder als offensichtlich rechtmäßig noch als offensichtlich rechtswidrig dar. Die daher durchzuführende Folgenabwägung ergibt ein Überwiegen des Interesses des Antragstellers, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens von den Wirkungen der Ausweisung verschont zu bleiben.
33
Die Ausweisungsverfügung findet in § 53 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 53 Abs. 3 AufenthG ihre Rechtsgrundlage. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8 m.w.N.).
34
Steht dem Ausländer – wie hier – ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris Rn. 82 ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). Für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr als Tatbestandsvoraussetzung einer spezialpräventiven Ausweisung genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung vergleichbarer (nicht gleichartiger) Straftaten durch den Ausländer. Bei besonders schweren und schädlichen Delikten wie Betäubungsmitteldelikten sind an den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 10; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
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Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8; B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 19). Bei dem vom Antragsteller in der Vergangenheit verübten Handel mit Methamphetamin in nicht geringer Menge, einer sehr gefährlichen Droge mit hohem Suchtpotential und schwerwiegenden gesundheitlichen Folgeschäden, wird das Sicherheitsinteresse der Gesellschaft in besonderer Maße tangiert, was sich auch in der Höhe der jeweils verhängten Freiheitsstrafen widerspiegelt (vgl. dazu BayVGH, B.v. 19.3.2019 – 19 CS 17.1784 – juris Rn. 13).
36
Die seitens des Antragstellers in den Jahren 2015 und 2020 begangenen Betäubungsmittelstraftaten, die Gegenstand der Strafverfahren … und … waren und seitens des Antragsgegners zum Anlass für die verfügte Ausweisung genommen worden sind, sind somit als schwerwiegende Straftaten einzustufen, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind, zumal der illegale Handel mit Betäubungsmitteln regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden ist. Auch hat sich der Antragsteller selbst durch eine Haftverbüßung und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Die von ihm begangenen Taten, die den Verurteilungen vom 06.06.2026 und vom 14.10.2020 zugrunde liegen, dienten nach den Feststellungen der Großen Strafkammer des Landgerichts … sowie des Amtsgerichts … der Beschaffung der suchbedingt benötigten Betäubungsmittel, waren also auf diesen Hang des Antragstellers zurückzuführen, weshalb jeweils gemäß § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde (vgl. …*).
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Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 14; B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Erfolgschancen einer Therapie im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% liegen. Untersuchungen zufolge sind die Erfolgschancen weiterer Therapien umso geringer und die Rückfalldelinquenz umso häufiger, je mehr erfolglose Therapien vorangegangen sind. Ein früh begonnener und verfestigter langjähriger Drogenkonsum sowie eine Neigung zu deviantem Verhalten bzw. Delinquenz stellt auch nach Abschluss einer Behandlung ein erhebliches Rückfallrisiko dar (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 15; B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 25, jeweils m.w.N.). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 15; B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11). Dies bedeutet, dass somit selbst eine im Maßregelvollzug erfolgreich absolvierte Drogentherapie nicht automatisch zu einem Entfallen der Wiederholungsgefahr führt (BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 15). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung allerdings nicht ausreichend, wenn bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr geschlossen wird. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie. Ein allgemeines Erfahrungswissen darf demnach nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber – angesichts der abweichenden Zwecksetzung der gefahrenabwehrrechtlichen Ausweisung – keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – juris Rn. 18; U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – juris Rn. 17).
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Unter Zugrundelegung dieser Maßgaben besteht im Falle des Antragstellers ein spezialpräventives Ausweisungsinteresse. Ausweilich der Ausführungen des Urteils des Landgerichts … vom 06.06.2016 (Az. …*) kaufte und übernahm der Antragsteller zu fünf im Einzelnen nicht näher bestimmbaren Zeitpunkten im Zeitraum von Februar 2015 bis Mai 2015 jeweils Crystal Speed in Mengen von 15 bis 45 Gramm, konsumierte einen Teil des Rauschgifts selbst und verkaufte den Rest gewinnbringend. Trotz der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten sowie einer mehr als zweieinhalbjährigen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, die unter dem 25.02.2019 zur Bewährung ausgesetzt wurde, wurde der Antragsteller schon im Juni 2020 erneut straffällig und bewahrte in seiner Wohnung, die er gemeinsam mit seiner jetzigen Ehefrau und dem damals knapp einjährigen Sohn bewohnte, 26,4 Gramm Methamphetamin auf, wobei die Hälfte des Rauschgifts für den Eigenkonsum und die andere Hälfte für den späteren gewinnbringenden Verkauf bestimmt war (vgl. Urteils des Amtsgerichts … vom 14.10.2020, Az. …*). Daher wurde der Antragsteller erneut zu einer Freiheitsstrafe (nunmehr zwei Jahre und neun Monate) verurteilt und abermals seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Ein im Rahmen der Strafvollstreckung eingeholtes kriminalprognostisches Sachverständigengutachten vom 27.01.2023 (Bl. 132f. des Vollstreckungsheftes, Band I) geht davon aus, dass der Antragsteller anhand empirischer Daten einer Gruppe von Straftätern zugeordnet werden könne, bei denen ein mittelmäßiges bis hohes allgemeines Rückfallrisiko von ca. 60% innerhalb von fünf bis sechs Jahren bestehe. Zwar geht der Gutachter unter Berücksichtigung der Anlasstat, des Vorlebens, der postdeliktischen Entwicklung im Maßregelvollzug im Bezirkskrankenhauses … sowie des damals nach der Unterbringung geplanten sozialen Empfangsraumes bei der jetzigen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn von einer Verbesserung des individuellen Risikoprofils aus. Angesichts der damals noch unzureichenden Erprobung des sozialen Entlassraumes und des Fortbestehens von kriminogenen Risikofaktoren (unzureichende Erprobung des Arbeitsverhältnisses, eingeschränkte Abstinenzfähigkeit mit zuletzt offener Rückfälligkeit und bestehende Schmerzsymptomatik) nahm er letztlich aber an, dass die in den Taten zu Tage getretene Gefährlichkeit des Antragstellers außerhalb des Maßregelvollzugs mit überwiegender Wahrscheinlichkeit fortbestehe und im Falle einer Rückfälligkeit vorrangig einschlägige Betäubungsmitteldelikte zu erwarten seien.
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Auch die Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses …, wo sich der Antragsteller vom 23.08.2021 bis 13.09.2021 im stationären Maßregelvollzug befand, sprechen nicht gegen die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Zwar gehen diese durchweg von einer hohen Therapiemotivation des Antragstellers aus und benennen dessen familiäre Situation, insbesondere seine Vaterrolle, als stabilisierenden Faktor. Der jüngsten Stellungnahme vom 22.06.2023, die eine bedingte Entlassung des Antragstellers aus dem stationären Maßregelvollzug empfahl, ist jedoch zu entnehmen, dass sich der Antragsteller weiterhin in der Erprobungsphase befindet und eine relevante Senkung seines Risikos mit Suchtmitteln und Delinquenz nicht zu erreichen sei, wobei die zu erwartenden Straftaten sich am ehesten im Bereich der Betäubungsmittel verorten ließen. Die Therapeuten führen weiter aus, dass es beim Antragsteller wiederholt zu Suchtmittelrückfällen gekommen ist und dass er sich jeweils lediglich eine Krisen- oder Überforderungssituation vom nächsten Drogenkonsum entfernt befindet. Dies belegt letztendlich auch eine weitere Verurteilung durch das Amtsgericht … vom 20.02.2024 (Az. …*) wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Insoweit wurde der Antragsteller am 25.10.2023 und damit nur wenige Wochen nach der Aussetzung seiner zweiten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zur Bewährung (Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 31.08.2023) im Rahmen einer Polizeikontrolle mit 0,85 Gramm Methamphetamin zum Eigenkonsum angetroffen. Zusätzlich untermauert wird die beim Antragsteller bestehende Wiederholungsgefahr in Bezug auf Betäubungsmitteldelikte durch positive Drogentests am 15.01.2024, 27.02.2024 und 06.03.2024. Angesichts dessen kann trotz der weitgehend positiven Einschätzungen des Bezirkskrankenhauses hinsichtlich des Antragstellers nicht von einer nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensänderung ausgegangen werden. Im Hinblick auf die Wertungen des Bezirkskrankenhauses ist überdies zu berücksichtigen, dass zu einer effektiven Drogenbehandlung ein enges Vertrauensverhältnis erforderlich ist, der Therapeut kein verlängerter Arm des Staates ist und Therapieberichte keine objektive Bewertung oder gar Begutachtung darstellen, weswegen Therapiestellungnahmen als einseitige Stellungnahmen zu bewerten sind und die Therapieeinrichtung regelmäßig dann eine günstige Prognose abgibt, wenn sie nicht vom Klienten durch einen erheblichen Verstoß gegen ihre Regeln zu einem disziplinarischen Therapieabbruch genötigt worden ist (BayVGH, B.v. 21.5.2021 – 19 CS 20.2977 – juris Rn. 27). Die günstige Prognose der Einrichtung ist vor diesem Hintergrund zu werten; darüber hinaus beruht sie auf der empfehlenden Prämisse, den Antragsteller weiterhin im Rahmen einer ambulanten Suchttherapie zu behandeln und ihn regelmäßigen Abstinenzkontrollen zu unterziehen. Überdies benennen die Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses mehrere Rückfälle des Antragstellers, so dass die Therapie nicht ohne Rückfälle und Beanstandungen verlief.
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Angesichts der überwiegend positiven Einschätzungen des Bezirkskrankenhauses … sowie der Ausführungen des Bewährungshelfers geht die Kammer – auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass es sich auch bei den Einschätzungen des Bewährungshelfers letztlich um subjektive Eindrücke handelt (vgl. (OVG SA, B.v. 9.7.2019 – 2 M 53/19 – juris Rn. 21) – jedoch von einer geringeren Gefährlichkeit des Antragstellers für die Allgemeinheit aus als derjenigen, die ihm im Rahmen der gegenständlichen Ausweisungsverfügung attestiert wird. Denn der Antragsteller fiel zuletzt im Jahr 2020 wegen illegalen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln auf. In den letzten dreieinhalb Jahren ist es zwar wiederholt zu Suchtmittelrückfällen gekommen. Auch wurde der Antragsteller zuletzt im Februar 2024 wegen des Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt, jedoch kam es zu keiner weiteren Verurteilung wegen Betäubungsmittelhandels. Gegen die Annahme einer insoweit bestehenden Wiederholungsgefahr spricht zudem, dass der Antragsteller nunmehr seit 2023 einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgeht (zunächst im familieneigenen Imbissbetrieb und inzwischen in einem Handwerksbetrieb) und sich eine Normalisierung seiner privaten Vermögensverhältnisse angesichts des fortschreitenden Privatinsolvenzverfahrens abzeichnet. Damit dürfte keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass der Antragsteller künftig zur Bestreitung seines Lebensunterhalts oder zur Finanzierung seiner Betäubungsmittelabhängigkeit auf den gewinnbringenden Verkauf von Suchtmitteln zurückgreift.
41
Die gebotene Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls lässt vorliegend eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids nicht zu, insbesondere erscheint zweifelhaft, ob der Antragsgegner vorliegend zu Recht von einem Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses – vor allem in Anbetracht des vorgenannten geringeren Risikos für die Allgemeinheit – gegenüber den besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen des Antragstellers ausgegangen ist.
42
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht; BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24). Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des EuGH für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20; B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 37f.).
43
In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung verdrängen. Vielmehr ist anhand der sogenannten „Boultif-Kriterien“ ein gerechter Ausgleich der gegenläufigen Interessen zu finden (vgl. z.B. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 „Üner“ – juris Rn. 57ff.; BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 23; vgl. auch BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 27). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist zu berücksichtigen, dass Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt und allein aufgrund formal-rechtlicher Bindungen ausländerrechtliche Schutzwirkungen nicht entfaltet (vgl. BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris).
44
Bei der Ausweisung hier geborener bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer („faktische Inländer“) ist der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in angemessenen Umfang Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf den lebenslangen Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet und seiner insoweit geltend gemachten Stellung als „faktischer Inländer“ ist zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ nicht davon entbindet, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht auch für so genannte „faktische Inländer“ kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn .19; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener Ausländer ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Auch nach der Rechtsprechung des EGMR bietet Art. 8 EMRK bei sogenannten „Zuwanderern der zweiten Generation“ keinen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung (vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 „Üner“ – juris Rn. 54; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 28). Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 29).
45
Im vorliegenden Fall erscheint die zu treffende Abwägung jedenfalls offen. Unstreitig verwirklicht der Antragsteller angesichts seiner strafrechtlichen Vorgeschichte vertypte besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG sowie ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG. Auch besteht nach den obigen Ausführungen in Anbetracht der nach wie vor bestehenden Suchmittelabhängigkeit des Antragstellers und seiner eingeschränkten Abstinenzfähigkeit, die sich zuletzt in wiederholten positiven Drogenscreenings widerspiegelte, eine anhaltende Gefährlichkeit hinsichtlich des Besitzes und des Konsums von Betäubungsmitteln. Er legte auch in der Vergangenheit eine enorme Rückfallgeschwindigkeit an den Tag und beging seine Taten in den Jahren 2020 und 2023 unter offener Bewährung und trotz seiner zu diesem Zeitpunkt schon bestehenden Vaterrolle. Den von seinen Taten betroffenen Rechtsgütern kommt überdies ein hohes Gewicht zu. Aufgrund der therapeutischen Einschätzungen und des aktuellen Verlaufs der ambulanten Suchttherapie ist davon auszugehen, dass der Antragsteller seine Drogensucht weder derzeit überwunden hat noch in näherer Zukunft erfolgreich überwinden wird. Die von ihm begangenen Straftaten waren ausweislich der Ausführungen der jeweiligen Strafurteile auf seinen Hang, harte Drogen zu konsumieren, zurückzuführen. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller erstmalig bereits im Alter von 11 Jahren auf Suchtmittel zurückgriff, selbst wenn insoweit schwierige Ereignisse im Kindes- und Jugendlichenalter eine Rolle spielten. Der Antragsteller war bereits zweimal jeweils langjährig in Entziehungsanstalten untergebracht, ohne dass damit eine dauerhafte Abstinenz erzielt werden konnte. Nicht zuletzt deswegen wurde die zulässige Dauer der Bewährungszeit von maximal fünf Jahren im Fall des Antragstellers voll ausgeschöpft und nicht verkürzt (§ 56 Abs. 1 Satz 2 StGB). Er steht nach wie vor unter dem Druck der Bewährungshilfe und angeordneter Abstinenzkontrollen. Gleichwohl konnten ihn die angeordneten Bewährungsauflagen nicht vom weiteren Suchtmittelkonsum abhalten. Zu Gunsten des Antragstellers ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass ihm sämtliche Therapieberichte wie auch die Stellungnahmen seines Bewährungshelfers eine Krankheitseinsicht und – trotz der wiederholten Rückfälle – eine Abstinenzmotivation attestieren. Dem Verhalten des Antragstellers seit seiner zweiten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt können positive Prognoseanhaltspunkte entnommen werden. So wird ihm seitens der Therapeuten, des Bewährungshelfers und seines familiären Umfelds ausnahmslos der feste Wille zugeschrieben, sein Leben künftig in den Griff zu bekommen. Auch hat die Kammer anhand der Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses sowie den schriftlichen Erklärungen aus seinem familiären Umfeld keinen Zweifel daran, dass der Antragsteller tatsächlich Verantwortung für sein Kind übernommen hat und sich intensiv um den Sohn kümmert. Er lebt mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn in einem Haushalt und übernimmt Erziehungs- und Pflegeaufgaben. Dieses familiäre Umfeld verschafft dem Antragsteller ausweislich der Ausführungen der Bezirkskrankenhauses … und des forensischen Gutachters Stabilität. Überdies geht der Antragsteller seit mehr als einem Jahr einer geordneten Beschäftigung nach und beabsichtigt, seine wirtschaftliche Stellung künftig durch Nachholung einer Berufsausbildung weiter zu verbessern. Bereits während seiner ersten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist es dem Antragsteller jedenfalls gelungen, den Hauptschulabschluss nachzuholen.
46
Zu Gunsten des Antragstellers ist weiter in Rechnung zu stellen, dass er mehrere vertypte besonders schwerwiegende Bleibeinteressen erfüllt. So verfügt er über eine Niederlassungserlaubnis und hält sich bereits seit seiner Geburt rechtmäßig im Bundesgebiet auf, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Überdies ist er mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und lebt mit dieser in familiärer Lebensgemeinschaft, § 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 AufenthG. Zwar erfolgte die Eheschließung erst nach Bekanntgabe der gegenständlichen Ausweisungsverfügung. Da der Antragsteller allerdings bereits seit zehn Jahren mit seiner jetzigen Ehefrau eine Beziehung führt und schon über Jahre hinweg mit dieser zusammengelebt hat, kann insoweit nicht von einer verringerten Schutzwürdigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 41; B.v. 6.3.2024 – 10 CS 24.185 – juris Rn. 20) ausgegangen werden. Darüber hinaus lebt der Antragsteller mit seinem fünfjährigen deutschen Sohn in häuslicher Lebensgemeinschaft und übt das Personensorgerecht für diesen auch tatsächlich aus, § 55 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 AufenthG. Ausweislich der vorgelegten Stellungnahmen aus dem familiären Umfeld des Antragstellers, insbesondere seiner Ehefrau, sowie der Berichte des Bezirkskrankenhauses … und seines Bewährungshelfers ist davon auszugehen, dass der Antragsteller sich tatsächlich intensiv um seinen Sohn kümmert und in dessen Pflege und Erziehung involviert ist. Am Vorliegen einer aufenthaltsrechtlich schutzwürdigen Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 GG, vgl. BVerfG, B.v. 12.5.1987 – 2 BvR 1226/83 – juris Rn. 87; B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 ff. m.w.N; B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16) hat die Kammer keine Zweifel. Dass der Antragsteller in der Vergangenheit aufgrund Haftverbüßung und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur ausschnittsweise am Leben seines Sohnes teilnahm, steht der familiären Lebensgemeinschaft nicht entgegen. Der spezifische Erziehungsbeitrag eines Elternteils wird durch die Betreuung des Kindes durch den anderen Elternteil nicht entbehrlich. Die Entwicklung eines Kindes wird nicht nur durch quantifizierbare Betreuungsbeiträge der Eltern, sondern auch durch die geistige und emotionale Auseinandersetzung geprägt, die vorliegend in Zeiten der Unterbringung jedenfalls durch regelmäßige Besuchskontakte aufrechterhalten blieb. Angesichts der übermittelten zahlreichen Stellungnahmen – auch des Kindergartens des Sohnes – ist davon auszugehen, dass zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn aufgrund gepflegten persönlichen Umgangs in häuslicher Lebensgemeinschaft ein Vater-Kind-Verhältnis besteht, das von der nach außen manifestierten Verantwortung für die leibliche und seelische Entwicklung des Kindes geprägt ist (vgl. dazu BayVGH, B.v. 17.12.2018 – 10 C 18.2177 – juris Rn. 19; B.v. 28.7.2015 – 10 ZB 15.858 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 20.9.2018 – 11 S 240/17 – juris Rn. 80; U.v. 5.8.2002 – 1 S 1381/01 – juris, Rn. 19).
47
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 48; B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris, Rn. 12). Dementsprechend ist im Einzelfall zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris m.w.N.; BayVGH, 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 35). Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 13f. m.w.N.). Eine Aufenthaltsbeendigung für einen Elternteil aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung – jedenfalls bei besonders schweren Straftaten und langfristig ungünstiger Prognose – ist nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen. Das zwischen dem Ausländer und seinem minderjährigen deutschen Kind bestehende Familienleben bzw. das Kindeswohl hat nicht generell und ausnahmslos Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse (BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22.10 – juris Rn. 4; B.v. 21.7.2015 – 1 B 26.15 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 12.8.2022 – 10 ZB 22.1511 – juris Rn. 17).
48
Der Sohn des Antragstellers ist zwar während des Maßregelvollzugs (weitgehend) ohne seinen Vater aufgewachsen. Allerdings besteht nunmehr eine tatsächlich gelebte Vater-Kind-Beziehung. Andererseits spricht wiederum die fortgesetzte Straffälligkeit des Antragstellers, auch nach der Geburt des Kindes, gegen dessen Eignung als positives väterliches Vorbild und als positiver väterlicher Orientierungspunkt für den Sohn. Durchgreifende Mängel hinsichtlich der Übernahme von Elternverantwortung begründet überdies die im Jahr 2020 stattgefundene Lagerung von Betäubungsmitteln in der gemeinsam mit seiner jetzigen Ehefrau und dem Kind bewohnten Familienwohnung, obgleich die Kammer unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Sohn damals noch nicht einmal ein Jahr alt war, nicht von einer ernsthaften Gefährdung des Kindes ausgeht. Angesichts des seit der Entlassung aus dem stationären Maßregelvollzugs engen familiären Zusammenlebens und der gelebten Vater-Kind-Beziehung erscheint die Annahme des gegenständlichen Bescheides, dass es vorliegend mit dem Kindeswohl vereinbar wäre, den Kontakt per Telefonat oder Videokonferenz aufrechtzuerhalten, fragwürdig. Zumal es keine Anhaltpunkte dafür gibt, dass die seitens des Antragstellers erbrachten Betreuungsleistungen lediglich unter dem Eindruck der Ausweisung vorgenommen wurden. Im Gegenteil ergibt sich aus den Stellungnahmen des Bezirkskrankenhauses aus dem Jahr 2023, dass dem Antragsteller auch damals ein intensiver Kontakt zu seinem Sohn sehr wichtig war.
49
Im angegriffenen Bescheid fehlt es überdies an einer ernsthaften Berücksichtigung des Umstands, dass der inzwischen 36-jährige Antragsteller in … geboren und aufgewachsen ist, jedenfalls während der erlittenen Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt … in den Jahren 2015 und 2016 (19.08.2015 bis 05.06.2016) den Hauptschulabschluss nachholte, zeitweise berufstätig war und dies seit über einem Jahr beständig ist und sein Leben ausschließlich (sich in diesem legal aufhaltend) im Bundesgebiet geführt hat, wo auch seine Familie und sein sonstiges soziales Umfeld leben. In Anbetracht des Umstands, dass der Antragsteller seine komplette Sozialisation in der Bundesrepublik erfahren hat und hier mit seiner deutschen Ehefrau und seinem deutschen Kind in einem gemeinsamen Haushalt lebt, dürfte trotz der wiederholten Straffälligkeit des Antragstellers von einer sozialen Integration in die hiesigen Verhältnisse auszugehen sein. Zwar mag es seiner wirtschaftlichen Integration im Bundesgebiet noch an der erforderlichen Nachhaltigkeit fehlen. Es ist jedoch in Rechnung zu stellen, dass er jedenfalls seit Beginn des Jahres 2023 durchgehend einer Berufstätigkeit nachgeht und in dem Handwerksbetrieb, in welchem er bereits derzeit tätig ist, ab September 2024 eine Berufsausbildung beabsichtigt. Angesichts dessen und des fortschreitenden Privatinsolvenzverfahrens spricht einiges dafür, dass es dem Antragsteller gelingen wird, sich künftig wirtschaftlich in Deutschland zu integrieren. Demgegenüber verfügt der Antragsteller ausweislich seines eigenen Vorbringens und der Stellungnahmen seiner erwachsenen Verwandten sowie seines Bewährungshelfers über lediglich geringe Bezüge zur Türkei. Seine Eltern und Geschwister leben bereits seit seiner Geburt in Deutschland. Auch gab seine Mutter im Rahmen einer Stellungnahme an, den Antragsteller nicht in der türkischen Sprache erzogen zu haben. Der Antragsteller selbst erklärt, der türkischen Sprache nicht hinreichend mächtig zu sein. Er führte weiter aus, keinen Kontakt zu Verwandten in der Türkei zu haben. Selbst wenn der Antragsteller nicht als sogenannter faktischer Inländer betrachtet werden müsste, dürfte der Vollzug der Ausweisung für ihn als eine „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene“ Person einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen, was im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen angemessen und in einem auf die Erfassung seiner individuellen Lebensverhältnisse angelegten Prüfprogramm zu würdigen ist (BVerfG, B.v. 18.4.2024 – 2 BvR 29/24 – juris Rn. 30).
50
Im Hinblick auf die familiären Bindungen im Bundesgebiet werden die Beziehungen des Antragstellers zu seinen volljährigen in der Bundesrepublik lebenden Verwandten voraussichtlich nicht von entscheidender Bedeutung sein, da bislang keine zusätzlichen Elemente einer Abhängigkeit glaubhaft gemacht wurden, die über die üblichen emotionalen Bindungen hinausgingen (vgl. EMGR; U.v. 17.4.2003 – 52853/99 – NJW 2004, 2147 Rn. 44). Von ganz erheblicher Bedeutung ist jedoch die Beziehung des Antragstellers zu seinem minderjährigen deutschen Sohn. Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass dieser erst fünf Jahre alt ist. In diesem Alter ist eine Aufrechterhaltung einer Beziehung allein durch Fernkommunikation oder gelegentliche Besuche im Ausland über längere Zeit äußerst schwierig. Ein Umzug in die Türkei kann jedenfalls dem Sohn wegen seiner deutschen Staatsangehörigkeit und dem fehlenden hinreichenden Bildungsfundament sowie Sprachkenntnissen und den damit einhergehenden Problemen im Rahmen einer etwaigen späteren (Re-)Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht zugemutet werden (vgl. zur Thematik BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 10 C 16.12 – juris Rn. 27; U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 19). Sollte der Antragsgegner das derzeit auf acht Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht verkürzen, bestünde die Gefahr, dass die Beziehung zwischen dem Antragsteller und seinem Sohn endgültig abbricht. Dass dieser zu befürchtende Kontaktabbruch ohne Auswirkungen auf das Wohl des Kindes bleibt, erscheint angesichts der gelebten und engen Vater-Kind-Beziehung unwahrscheinlich.
51
Im Sinne der vorstehenden Ausführungen wird sich das Ausweisungsinteresse im vorliegenden Einzelfall gegebenenfalls nur dann gegenüber dem Bleibeinteresse des Antragstellers durchsetzen können, wenn das Risiko der Begehung neuer, schwerwiegender Delikte im Bereich des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln über das „ernsthafte Drohen“ hinausgeht, das zum Überschreiten der Mindestschwelle einer Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG erforderlich wäre.
52
Angesichts der offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung der Ausweisung bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung. Müsste sich der Antragsteller während des Hauptsacheverfahrens im Ausland aufhalten, drohte angesichts des jungen Alters seines Sohnes und der aktuellen Durchschnittsdauer verwaltungsgerichtlicher Hauptsacheverfahren eine schwerwiegende Schädigung, möglicherweise sogar ein endgültiger Abbruch der Vater-Sohn-Beziehung. Auch der Versuch des Antragstellers, sich durch seine zwischenzeitlich aufgenommene Berufstätigkeit und die beabsichtigte Berufsausbildung zu resozialisieren, würde zunichtegemacht. Demgegenüber erscheint es angesichts des Umstandes, dass der Antragsteller sich zunächst weiterhin unter Führungsaufsicht befindet und der angenommenen lediglich geringen Wiederholungsgefahr hinsichtlich eines Handels mit Betäubungsmitteln hinnehmbar, wenn eine Aufenthaltsbeendigung gegebenenfalls erst nach Bestandskraft der Ausweisungsverfügung erfolgt. Angesichts der erheblichen legalen Voraufenthaltszeit erscheint auch eine weitere Aufenthaltsverfestigung während des laufenden Hauptsacheverfahrens vor dem Hintergrund des Vorstehenden und der möglichen Kindeswohlgefährdung als hinnehmbar. Schließlich kommt nach der gesetzgeberischen Grundentscheidung einem gegen eine Ausweisung gerichteten Widerspruch bzw. einer entsprechenden Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung zu (vgl. § 84 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
53
c) Die aufschiebende Wirkung der Klage ist auch bezüglich der unter Ziffer 5 des angegriffenen Bescheides erlassenen Abschiebungsandrohung sowie hinsichtlich des unter Ziffer 3 verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots anzuordnen. Aufgrund der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ausweisung ist der Antragsteller gegenwärtig nicht vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1 AufenthG; vgl. OVG Bremen, U.v. 15.11.2019 – 2 B 243/19 – juris Rn. 36). Nachdem sich die Rechtmäßigkeit der Ausweisung als Grundlage des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht abschließend überprüfen lässt, diese Rechtmäßigkeit im Rahmen der Überprüfung des Sofortvollzugs des Einreise- und Aufenthaltsverbots in den Blick zu nehmen ist und der Wegfall der aufschiebenden Wirkung nur gerechtfertigt ist, wenn die Grundmaßnahme voraussichtlich rechtmäßig ist, gebietet die Offenheit der Frage der Rechtmäßigkeit der Ausweisung und die Interessenabwägung dort, hier die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage (vgl. VGH BW, B.v. 21.1.2020 – 11 S 3477/19 – NVwZ-RR 2020, 556/563 Rn. 76; NdsOVG, B.v. 23.2.2021 – 8 ME 126/20 – BeckRS 2021, 3434 Rn. 8).
54
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 8.2 und 1.5 des Streitwertkatalogs.