Titel:
Asyl, Herkunftsland: Nigeria, Isolierter Folgeschutzantrag, Wiederaufnahme, Minderjähriger, ADHS
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5 und 7
VwVfG § 51
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland: Nigeria, Isolierter Folgeschutzantrag, Wiederaufnahme, Minderjähriger, ADHS
Fundstelle:
BeckRS 2024, 24640
Tenor
I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der 2015 im Bundesgebiet geborene Kläger ist nigerianischer Staatsangehöriger, ebenso seine 1992 in Nigeria geborene Mutter, die am … Juni 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet eingereist war und dort einen Asylantrag gestellt hatte.
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Dieser war mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom … März 2017 als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden. Eine hiergegen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhobene Klage wurde mit Urteil vom 9. November 2017 abgewiesen (M 27 K 17.36617). Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof blieb erfolglos (BayVGH, B.v. 1.2.2018 – 10 ZB 18. 30069). Die Mutter Klägers hatte bei ihrer Anhörung am … Oktober 2016 gegenüber dem Bundesamt unter anderem geäußert, sie habe sich vor dem Verlassen Nigerias einen Monat lang bei der Schwester ihrer Mutter in L* … aufgehalten, danach einen weiteren Monat bei ihrer Mutter. In der mündlichen Verhandlung des Verwaltungsgerichts hatte sie unter anderem angegeben, nach einem (in der mündlichen Verhandlung näher beschriebenen) Vorfall in ihrem Dorf sei sie zu der Schwester ihrer Mutter nach L* … gezogen. Dort habe sie ca. sechs Monate gewohnt, dann sei sie in das Dorf ihrer Mutter zurückgekehrt und habe dort bis zu ihrer Ausreise aus Nigeria noch einen weiteren Monat gewohnt. Eine Bedrohung oder Verfolgung jedenfalls für den sechsmonatigen Aufenthalt in L* … hatte sie nicht angegeben.
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Am *. Februar 2016 wurde ein Asylantrag für den Kläger aufgrund der Antragsfiktion des § 14 a Abs. 2 AsylG als gestellt erachtet. Zur Begründung trug die Mutter des Klägers vor, ihr Sohn beantrage aus denselben Gründen wie sie selbst Asyl. In der Region, aus der sie stamme, herrsche Krieg. Sie sei aufgrund einer Bombenexplosion von dort geflohen und habe ihren Vater dabei verloren. Ihr Sohn könne nicht in das Land zurück, aus dem sie aus diesem Grund geflohen sei, ohne dass dadurch sein Leben in Gefahr wäre.
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Mit Bescheid vom … Mai 2017 lehnte das Bundesamt diese Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf subsidiären Schutz ab (Nr. 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und forderte den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen; andernfalls würde er nach Nigeria abgeschoben (Nr. 5). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Individuelle Asylgründe seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch die Mutter habe keine drohende Verfolgungsgefahr geltend gemacht, im Übrigen gebe es für sie und ihn die Möglichkeit internen Schutzes innerhalb Nigerias. Ferner gebe es keine Hinweise auf das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Dem Kläger könne eine Rückkehr nach Nigeria zugemutet werden, seine Mutter sei jung, erwerbstätig und verfüge dort über ein familiäres Netzwerk. Die hiergegen gerichtete Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 27 K 17.40798) blieb erfolglos. In der mündlichen Verhandlung hatte die Mutter des Antragsstellers ergänzt, es gebe einen Überweisungsschein für eine kinderpsychiatrische Abklärung. Auch sei abzuklären, warum der Kläger nicht spreche. Der ärztliche Befund laut Attest vom *. März 2020 gab diesbezüglich den Befund „expressive Sprachentwicklungsstörung“ und „Konzentrationsstörungen“ an. Es drohe eine geistige Behinderung; Sprachtherapie, Ergotherapie sowie psychologische und heilpädagogische Leistungen seien notwendig. In den Urteilsgründen ist ausgeführt, das Vorbringen der Mutter, sie habe jeglichen Kontakt zu Angehörigen verloren, sei im Hinblick darauf, dass sie sich nach eigenem Vorbringen bis einen Monat vor ihrer Ausreise aus Nigeria bei der Schwester ihrer Mutter in L* … aufgehalten habe nicht nachvollziehbar. Weshalb sie diesen Kontakt, sollte sie ihn verloren haben, nicht wieder aufnehmen könne, sei nicht nachvollziehbar. Auch begründeten die für den Kläger vorgetragenen gesundheitlichen Aspekte keinen Anlass für das Feststellen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG, insbesondere keine extreme Gefahrenlage bei Rückkehr nach Nigeria.
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Am … September 2022 beantragte der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ein asylrechtliches Wiederaufnahmeverfahren mit dem Ziel der Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten. Eine Begründung des Antrags erfolgte nicht.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom … November 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Abänderung des Bescheides vom … Mai 2017 bezüglich der Feststellungen zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ab. Wiederaufgreifensgründe seien nicht vorgetragen worden.
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Hiergegen hat der Kläger am 28. November 2022 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erhoben und beantragt,
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Unter teilweiser Abänderung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … Mai 2017 (Az: … … …*) wird die Beklagte verpflichtet, beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Nigeria festzustellen.
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Die Mutter des Klägers wäre in Nigeria nicht in der Lage, für sich und den Kläger das dort notwendige Existenzminimum zu erwirtschaften, sie wüsste in Nigeria schon nicht, wo sie hinsollte. Hinzu kämen ihre gesundheitlichen Probleme ohne auffindbare Ursache. Würde die Mutter ausfallen, wäre der siebenjährige Kläger ganz auf sich gestellt. Zudem bestehe bei diesem ein erhöhter Förderbedarf, wie sich aus dem Attest der KJF Klinik … … gGmbH vom … März 2022 ergebe. Er leide an ADHS, einer Sprachentwicklungsstörung und habe einen knapp unterdurchschnittlichen IQ. Die Weiterführung der ergotherapeutischen und logopädischen Therapie sei notwendig. Aus ärztlich-psychologischer Sicht ginge eine Abschiebung des Klägers nach Nigeria für diesen mit einer großen Gefahr für seine Entwicklung und Gesundheit einher, weil die erforderliche Unterstützung in Nigeria nicht gegeben sei.
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Den zugleich erhobenen Antrag im Eilverfahren hat das Gericht mit Beschluss vom 13, Februar 2023 abgelehnt.
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Die Beklagte beantragt,
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und äußerte sich zu den erstmals im Antrags- und Klageverfahren vorgetragenen Wiederaufnahmegründen nicht, teilte jedoch mit, dass zwischenzeitlich ein Aufenthaltstitel nach § 104 c AufenthG, befristet bis jeweils … Juni 2025, an den Kläger und seine Mutter erteilt worden sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch im Verfahren M 1 S 22.32282, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die zulässige Klage, über die nach Hinweis gemäß § 102 Abs. 2 VwGO im Ladungsschreiben trotz Ausbleibens des Klägers verhandelt und entschieden werden konnte, hat in der Sache keinen Erfolg.
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Es liegen weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG vor, noch hat der Kläger gemäß § 51 Abs. 5 in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG einen Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zu den nationalen Abschiebungsverboten im Wege der Ermessensreduzierung auf Null und auf Feststellung des Vorliegens derselben.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG wäre für den Kläger überdies nicht festzustellen. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
18
Umstände, die zu einer beachtlich wahrscheinlichen Existenzgefährdung führen könnten, liegen in der konkreten Lage des Antragstellers nicht vor. Nach der im Bundesgebiet gelebten Familiengemeinschaft ist bei einer hypothetischen, aber realitätsnahen Rückkehrprognose (vgl. BVerwG, U. v. 4.7.2019 – 1 C 49/18 – juris Rn. 15 ff.) von einer Rückkehr des Antragstellers mit seiner alleinerziehenden Mutter auszugehen.
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Dabei ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Mutter des Klägers im Falle einer Rückkehr nach Nigeria nicht wüsste, wo sie hinsoll. Nach ihrem Vortrag in den vorangegangenen Verfahren leben sowohl ihre Mutter als auch ihre 5 Geschwister in Nigeria. Mit ihrer Schwester und der Mutter bestand nach eigenem Vortrag noch bis zur Ausreise enger Kontakt. Es ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, weshalb dieser Kontakt nicht mehr besteht oder wenigstens im Fall einer Rückkehr wieder aufgenommen werden könnte. Schließlich ist auch nicht vorgetragen, dass die bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen zu einer Erwerbsunfähigkeit der Mutter führen. Somit ist davon auszugehen, dass es der Mutter möglich und zumutbar ist, bei einer Rückkehr nach Nigeria einer zumindest das Existenzminimum sichernden Erwerbstätigkeit, etwa im Bereich einer Farmhelferin, als Putzkraft oder auch im Bereich selbstbetriebener Straßenladengeschäfte (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Nigeria, Stand: 29.7.2022, S. 55), nachzugehen und sich und ihrem Sohn zumindest eine Lebensgrundlage am Rande des Existenzminimums zu erwirtschaften. Insbesondere erscheint es auch möglich und zumutbar, eine (Teilzeit-)Betreuung für den Sohn zu organisieren oder landestypisch die Unterstützung des sozialen Umfelds bei der Betreuung in Anspruch zu nehmen, bis dieser aufgrund ihres Lebensalters einen eigenständigen Tagesablauf haben (vgl. so auch VG München, U. v. 31.8.2021 – M 13 K 17.46005 – n.v. Rn. 18).
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Trotz möglicher Startschwierigkeiten bei einer Rückkehr, womöglich ohne Kontakt zum eigenen Familienverband, ist von einer beachtlich wahrscheinlichen Existenzgefährdung auch deshalb nicht auszugehen, weil bei einer freiwilligen Rückkehr, die im Hinblick auf eine eigenständige Verbesserung der Existenzsicherungsmöglichkeiten und damit einer Reduzierung der Schutzbedürftigkeit auch zumutbar ist (vgl. etwa BVerwG, U. v. 15.4.1997 – 9 C 38/96 – juris Rn. 27 mit Verweis auf U. v. 3.11.1992 – 9 C 21.92 – juris Rn. 12), beachtliche Unterstützungsleistungen zur Reintegration und zur Existenzschaffung zur Verfügung stehen (vgl. im Überblick https://www.returningfromgermany.de/de/countries/nigeria), die insbesondere auch eine Vulnerabilität bei Erkrankungen und die Stellung als Alleinerziehende berücksichtigen und etwa durch Wohnungsunterstützung oder Hilfe bei der Arbeitsplatzsuche Unterstützung leisten (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/jrs/). Durch diese Leistungen wird es freiwilligen Rückkehrern auch, gemessen am dargestellten Durchschnittseinkommen, im Zweifel erheblich erleichtert, nach einer Rückkehr nach Nigeria die Existenz zu sichern und sich auch wieder eine eigene Existenzgrundlage zu schaffen (vgl. so auch VG Düsseldorf, U. v. 15.12.2020 – 27 K 2264/18.A – juris Rn. 55 ff.).
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Auch liegt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG beim Kläger nicht vor. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll nach § 60 Abs. 7 S. 1 abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren nach § 60 Abs. 7 S. 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60 a Abs. 1 S. 1 zu berücksichtigen (§ 60 Abs. 7 S. 2).
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Die für den Kläger vorgetragenen Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, begründen keine Anhaltspunkte, inwiefern sich nach seinem derzeitigen Zustand selbst bei einem vollständigen Behandlungsabbruch oder -ausfall einer Heilpädagogik, Ergo-, Physio- und Sprachtherapie ergeben könnte, dass er in Nigeria einer erheblichen, konkreten Gefahrenlage ausgesetzt wäre, dass er gewissermaßen sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre. Im Übrigen vermag die vorgelegte ärztliche Bescheinigung vom … März 2022, welche bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung am … September 2022 vorgelegen hatte, im behördlichen Verfahren der Antragsgegnerin jedoch nicht vorgelegt wurde, den gesundheitlichen Zustand des Antragstellers zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung schon deshalb nicht glaubhaft zu machen, weil es die Entwicklung des gesundheitlichen Zustands des Klägers seit dem … März 2022 – mithin knapp 2,5 Jahren – naturgemäß nicht berücksichtigt.
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3. Die Klage war deshalb mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.