Titel:
Subsidiärer Schutzstatus für Palästinenser aus Gaza
Normenkette:
AsylG § 4
Leitsätze:
1. Der Begriff des [innerstaatlichen] bewaffneten Konflikts bezieht sich auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in de zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aktuell ist aufgrund der katastrophalen humanitären Umstände, der mangelnden medizinischen Versorgung und der immer noch fortgesetzten Boden- und Luftangriffe auf die Hamas, die aufgrund der besonderen Umstände dieses Konflikts in erheblichem Maß auch die Zivilbevölkerung treffen, davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und ihrer Unversehrtheit besteht. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
subsidiärer Schutz aufgrund eines bewaffneten Konflikts in Gaza, Asylklage, Palestinenser, Gaza, subsidiärer Schutz, bewaffneter Konflikt, medizinische Versorgung, wirtschaftliche Lage, humanitäre Situation
Fundstelle:
BeckRS 2024, 24475
Tenor
1. Soweit die Klage zurückgenommen wurde (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft), wird das Verfahren eingestellt.
2. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2022 verpflichtet, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
3. Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu ¾.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der auf den streitig entschiedenen Teil des Verfahrens entfallenden Kosten (entspricht ¾ des Klagebegehrens) vorläufig vollstreckbar. Insoweit darf die Beklagte die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet
Tatbestand
1
Der Kläger ist palästinensischer Volkszugehöriger aus Gaza. Er reiste im Juni 2021 aus seinem Heimatland aus. Am 19.07.2021 wurde dem Kläger in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt. Am 07.12.2021 stellte er in Deutschland einen Asylantrag.
2
Zur Begründung seines Asylantrags gab er bei seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) an, die Anhänger der Hamas-Organisation hätten ihn geschlagen, weil er 2019 an Demonstrationen teilgenommen habe. Die Hamas arbeite gegen die Regierung in Gaza. Er habe nicht studieren können. Es gebe in Gaza keine Sicherheit. Der Vater des Klägers habe seinen Job als Polizist 2006 verloren, weil er keine Sympathie für die Hamas gehabt habe.
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Mit Bescheid vom 29.08.2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers vollumfänglich ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG nicht vorlägen. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik binnen 30 Tagen zu verlassen, ansonsten werde er in den Gaza-Streifen abgeschoben. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung führt der Bescheid aus, der Kläger habe sein Heimatland unverfolgt auf legalem Wege mit seinem offiziellen Reisepass verlassen. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr auch kein ernsthafter Schaden als Zivilperson in einem bewaffneten Konflikt. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Zwar sei die wirtschaftliche Lage in den palästinensischen Autonomiegebieten schlecht, dennoch bestünden ausreichend Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Der Kläger habe zudem Familie im Herkunftsland.
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Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 10.09.2022 Klage. Er beantragte zunächst, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2022 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren, weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen. Zur Begründung führte er aus, die Beklagte habe zu Unrecht ein nationales Asylverfahren durchgeführt, der Kläger sei bereits in Griechenland als Flüchtling anerkannt. Diese Entscheidung sei auch für deutsche Behörden bindend. Der Kläger habe auch einen Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes, da die UNWRA den benötigten Schutz und Beistand nicht mehr länger gewähre.
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Mit Beschluss vom 19.01.2023 wurde im Hinblick auf die Vorlageentscheidung des BVerwG im Verfahren 1 C 26.21 zum EuGH das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
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Am 01.06.2024 beantragte der Klägerbevollmächtigte die Fortsetzung des Verfahrens. Mit Schreiben vom 12.07.2024 änderte der Kläger seinen Klageantrag und beantragte,
die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29.08.2022 zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte gehe in zwei aktuellen Entscheidungen selbst von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt in Gaza aus. Dem Kläger drohe bei einer Rückkehr daher ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf den angegriffenen Bescheid. Für Personen aus Gaza bestehe aktuell ein Verfahrensaufschub gem. § 24 Abs. 5 AsylG. Eine Abhilfe durch die Beklagte komme daher nicht in Betracht. Entscheidungen seien lediglich in Fällen ergangen, in denen die Beklagte rechtskräftig zur Entscheidung über die Asylanträge verpflichtet worden sei.
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Mit Schreiben vom 12.07.2024 bzw. 16.07.2024 verzichteten die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Mit Kammerbeschluss vom 30.07.2024 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
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Ergänzend wird hinsichtlich des Sachverhalts auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten übereinstimmend auf eine solche verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
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1. Soweit der Kläger mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 12.07.2024 seine Klage auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes und hilfsweise von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG beschränkt hat, liegt hierin eine Teilklagerücknahme hinsichtlich des Antrags auf die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz (§ 92 Abs. 1 VwGO). Lässt der Kläger nachträglich einen von mehreren Streitgegenständen fallen, so liegt keine Klageänderung vor, sondern eine teilweise Klagerücknahme. Es gilt allein § 92 VwGO, nicht (zugleich) § 91 VwGO (Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung 16. Auflage 2022, § 91 Rn. 5). Das Verfahren wird insofern gem. § 92 Abs. 1 VwGO eingestellt.
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2. Der Kläger hat Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG.
16
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
17
Dem Kläger droht vorliegend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr nach Gaza eine individuelle Bedrohung seines Lebens und seiner Unversehrtheit im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Der Begriff des [innerstaatlichen] bewaffneten Konflikts bezieht sich entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auf eine Situation, in der die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder in der zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen (EuGH Urt. v. 30.1.2014 – C-285/12 (Aboubacar Diakité)). Ein solcher bewaffneter Konflikt ist im Herkunftsgebiet des Klägers Gaza derzeit gegeben.
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Es ist allgemeinkundig, dass am 7.10.2023 Hamas-Kämpfer nach Israel eingedrungen sind und dort mehrere Orte attackiert, eine große Zahl von Menschen getötet und weitere Personen als Geiseln genommen haben und dass seitdem Angriffe durch das israelische Militär auf eine Vielzahl von Orten in Gaza stattfinden. In dem noch immer andauernden Konflikt gab es bis 30.07.2024 nach öffentlich zugänglichen Angaben etwa 39.363 Todesopfer in Gaza und 90.923 Verletzte (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417316/umfrage/opferzahlen-im-terrorkrieg-der-hamas-gegen-israel/, abgerufen am 31.07.2024). Die WHO zählte zum Stand 22.07.2024 39.090 Todesopfer und 90.147 Verletzte. Mehr als 10.000 Personen werden unter den Trümmern vermisst (http://www.emro.who.int/images/stories/Sitrep_-_issue_37b.pdf). Auch wenn die jeweils genannten Zahlen wohl alle als Quelle eine Konfliktpartei (Gesundheitsministerium der Hamas) haben und teilweise angezweifelt werden (https://www.israelogie.de/politik/gaza-opferzahlen/ abgerufen am 31.07.2024), halten die Vereinten Nationen und andere internationale Institutionen und Experten die Daten grundsätzlich für weitgehend korrekt (https://www.tagesschau.de/faktenfinder/gaza-zahlen-tote-100.html, abgerufen am 31.07.2024). Auch die entscheidende Einzelrichterin legt diese Zahlen vorliegend zugrunde, wobei berücksichtigt wird, dass die während eines laufenden Konfliktes bekanntgegebenen Opferzahlen immer nur Annäherungswerte sein können. Obwohl keine Angaben dazu gemacht werden, wie hoch der Anteil der zivilen Todesopfer unter den Gesamtzahlen liegt, spricht die enorme Zahl der Getöteten und Verletzten in einem Gebiet, das von etwa 2,1 Millionen Menschen bewohnt ist (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1417982/umfrage/gesamtbevoelkerung-im-gazastreifen/, abgerufen am 31.07.2024), stark für eine ernsthafte Bedrohung jedes in diesem Gebiet befindlichen Menschen (1,79% der Gesamtbevölkerung getötet, 4,13% der Gesamtbevölkerung verwundet binnen ca. 10 Monaten). Bei der Prüfung ob eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts vorliegt, kann allerdings nicht allein darauf abgestellt werden, dass das Verhältnis der Opferzahl zur Gesamtzahl der Bevölkerung eine bestimmte Schwelle überschreitet. Zur Feststellung, ob eine „ernsthafte individuelle Bedrohung“ vorliegt und subsidiärer Schutz zu gewähren ist, bedarf es vielmehr einer umfassenden Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere derjenigen, die die Situation im Herkunftsland der schutzsuchenden Person kennzeichnen (EuGH, U.v. 10.6.2021, C-901/19). 90% der Bevölkerung Gazas sind Binnenvertriebene, wobei viele davon mehrmals vertrieben wurden. Alleine seit dem 22.07.2024 wurden in Gaza 250.000 Personen vertrieben (https://www.unocha.org/news/todays-top-news-occupied-palestinian-territory-haiti-libya-mali, abgerufen am 31.07.2024). 1,2 Millionen Menschen leben in den 156 UNWRA Einrichtungen, wobei selbst in diesen keine Sicherheit für die Binnenvertriebenen besteht. Seit Beginn des Konflikts wurden 30 UNWRA Einrichtungen direkt getroffen und 55 erlitten Kollateralschäden. 218 Binnenvertriebene wurden dabei in den Lagern getötet, 901 Personen verletzt (https://www.unrwa.org/resources/reports/unrwa-situation-report-44-situation-gaza-strip-and-west-bank-including-east-Jerusalem, abgerufen am 31.07.2024). Nur 44% der Krankenhäuser in Gaza sind teilweise funktionsfähig, wobei in der Region Rafah kein solches mehr besteht und die Versorgung lediglich durch Feldlazarette erfolgen kann (http://www.emro.who.int/images/stories/Sitrep_-_issue_37b.pdf). Die Kampfhandlungen im Gazastreifen dauern weiterhin an (BAMF, Briefing Notes Gruppe 62 – Informationszentrum Asyl und Migration vom 22. Juli 2024, S.8). Die Versorgungssituation der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist schlecht, eine Hungersnot wird prognostiziert (https://www.ipcinfo.org/fileadmin/user_upload/ipcinfo/docs/IPC_Famine_Committee_Review_Report_Gaza_Strip_Acute_Food_Insecurity_Feb_July2024_Special_Brief.pdf, abgerufen am 31.07.2024).
19
Aufgrund der katastrophalen humanitären Umstände, der mangelnden medizinischen Versorgung und der immer noch fortgesetzten Boden- und Luftangriffe auf die Hamas, die aufgrund der besonderen Umstände dieses Konflikts in erheblichem Maß auch die Zivilbevölkerung treffen, ist aktuell davon auszugehen, dass für jede in Gaza befindliche Zivilperson eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens und ihrer Unversehrtheit besteht (vgl. auch VG Sigmaringen Urt. v. 7.3.2024 – A 5 K 1560/22, VG Bremen Urt. v. 18.6.2024 – 7 K 884/23). Gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers sind daher nicht notwendig.
20
Es kann auch dahinstehen, ob dem Kläger bei einer Rückkehr zusätzlich hinreichend individuell eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht, weil der militärischen Arm der Hamas-Regierung verschiedenen Medienberichten zufolge bewusst zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Schulen oder Wohnhäuser als Schutzschilde missbraucht (vgl. z.B. https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-israel-gaza-feuerpause-100.html abgerufen am 16.11.2023). Hierin könnte eine „Entmenschlichung“ der Zivilbevölkerung Gazas gesehen werden, die als lebendiges Schutzschild missbraucht wird.
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Innerhalb des Herkunftsgebietes des Klägers (Palästinensische Autonomiegebiete/ Gaza) besteht auch keine interne Fluchtalternative. Auch wenn es im südlichen Teil des Gazastreifens teilweise sicherer für die Bevölkerung ist als im Norden, besteht die oben geschilderte Lage auch in diesem Gebiet.
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3. Aufgrund der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ist die in Ziffer 4) des angegriffenen Bescheides getroffene Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG gegenstandslos. Die Ziffern 5) und 6) des Bescheides werden aufgehoben, da die Voraussetzungen für eine Abschiebungsandrohung nicht vorliegen und keine Ausreisepflicht des Klägers besteht.
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4. Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat (Flüchtlingsanerkennung) hat er gem. § 155 Abs. 2 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen (1/4). Im Übrigen trägt die Beklagte die Kosten des Verfahrens (3/4), §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 VwGO. Der von den Beteiligten jeweils zu tragende Kostenanteil entspricht dem jeweiligen Anteil des Unterliegens. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.
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Die vorläufige Vollstreckbarkeit im Hinblick auf den streitigen Teil der Entscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO. Soweit die Klage zurückgenommen wurde ist die Kostenentscheidung unanfechtbar (§ 80 AsylG, § 158 Abs. 2 VwGO).