Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 25.04.2024 – B 3 K 23.30754
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Flüchtlingsschutz einer Irakerin mit Kindern

Normenketten:
AsylG § 3, § 3 b Abs. 1 Nr. 4, § 3c, § 3d
AnerkennungsRL Art. 4 Abs. 4
Leitsätze:
1. Die Gruppe der alleinstehenden Frauen im Irak, die ohne schutzbereiten männlichen Familienangehörigen auf sich gestellt sind, erfüllt die Merkmale für eine  Gruppenverfolgung, weil sie von der irakischen Mehrheitsgesellschaft als andersartig wahrgenommen werden und diversen Verfolgungsmaßnahmen aufgrund dieser Zuschreibung ausgesetzt sind. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt richtet sich besonders gegen Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in de Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Frauen, Gruppenverfolgung im Irak, Verwestlichung, langer Aufenthalt in Europa, Asyl, Irak, Flüchtlingseigenschaft, alleinstehende Frau, Gruppenverfolgung, geschlechtsspezifische Gewalt, Vergewaltigung, sexuelle Belästigung, gesellschaftliche Strukturen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 24472

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11.08.2021 verpflichtet, den Klägerinnen den Flüchtlingsschutz zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch die Klägerinnen gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.  

Tatbestand

1
Bei den Klägerinnen handelt es sich um eine Mutter und zwei ihrer insgesamt 5 Kinder. Die Klägerin zu 2 ist 2005 im Irak geboren, die Klägerin zu 3 2012 in Österreich.
2
Sie hatten bereits im Jahr 2016 einen förmlichen Asylantrag gestellt, der wegen der Annahme, sie hätten in Italien Schutz, mit Bescheid vom 22.07.2016 als unzulässig abgelehnt wurde. Die hiergegen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 02.02.2017 (B 3 K 16.31085) abgewiesen. Der am 04.05.2020 gestellte Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag) wurde mit Bescheid vom 19.06.2020 abgelehnt. Hiergegen haben die Klägerinnen Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erhoben. Nachdem mit Email des italienischen Liaison-Beamten vom 21.01.2021 bekannt geworden war, dass die Klägerinnen entgegen der Information der Österreichischen Behörden im Erstverfahren in Italien kein internationaler Schutz zugesprochen worden sei, sondern lediglich ein Aufenthaltstitel aus familiären Gründen gewährt worden sei, der zum 17.02.2017 ausgelaufen sei, wurde der Bescheid durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) aufgehoben und ein neues Verfahren mit individueller Prüfung der Asylgründe durchgeführt. Das Klageverfahren wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 10.03.2021 eingestellt.
3
Zur Begründung des Folgeantrages hatten die Klägerin zu 1 und deren Ehemann mit Schreiben vom 11.05.2020 angegeben, es gebe im Irak keine Sicherheit, kein Gesundheitswesen, keine Menschenrechte, kein Schulwesen welches die Schüler angemessen ausbilde. In Italien habe es ebenfalls Probleme gegeben. Man habe die Familie dort unter andrem trennen wollen.
4
Am 08.06.2021 erfolgte zudem eine informatorische Anhörung der Klägerin zu 1. Diese gab an, erstmals 2008 den Irak verlassen zu haben. Es habe damals Krieg gegeben. Daher sei zunächst ihr Ehemann, der bei der Zentrale, in der gewählt worden sei, gearbeitet habe und von der Gegenpartei verfolgt worden sei, ausgereist. Im Wege des Familiennachzugs seien sie und ihre Kinder zu diesem nach Italien gereist, der dort Flüchtlingsschutz erhalten gehabt hätte. Nachdem es in Italien Probleme gegeben habe, eine Wohnung zu halten und sich zu finanzieren, sie sei mit den Kindern 2010 wieder in den Irak zurückgekehrt. Dort habe man aber wegen der Sicherheitslage nicht leben können. Sie sei dann mit den Kindern im Jahr 2011 wieder nach Italien gereist. Nachdem es erneut finanzielle Schwierigkeiten gegeben habe, sei die Familie nach Österreich gegangen. Dort habe man, um gesundheitlich behandelt werden zu können, einen Asylantrag stellen müssen. Später seien sie wieder nach Italien gegangen, dort sei die Situation erneut schlecht gewesen. Das Jugendamt habe die Familie trennen wollen. Daher hätten sie Italien verlassen und seien nach Deutschland gekommen. Der Schutz in Italien sei vor langer Zeit abgelaufen. Im Zeitraum von 17.12.2019 bis 20.03.2020 habe sie sich mit ihren Kindern in der Schweiz aufgehalten. Zuvor habe es Probleme mit dem Ehemann gegeben, was der Grund für die Ausreise in die Schweiz gewesen sei. Sie lebe in Deutschland wieder mit dem Ehemann zusammen. Es gebe aber häufig Streit, sodass sie sich trennen wollten. Der Ehemann wolle, dass sie mit den Kindern in den Irak zurückkehre und er selbst in Europa bleibe. Zudem plane der Ehemann seine Ausreise nach Italien und wolle sie und die Kinder in Deutschland zurücklassen. Ihre Wohnung im Irak bestehe nicht mehr, dort gebe es keine ärztliche Versorgung und keine Schule. Sie wisse nicht, wo sie dort hin solle. Im Irak sei ihr persönlich nichts zugestoßen. Sie habe jedoch Angst vor dem IS. Dieser sei an der Grenze von Mossul noch aktiv. Sie stamme aus Mossul und könne nirgendwo anders hinziehen. Dort lebten auch noch ihre drei Brüder und vier Schwestern. Die Sicherheitslage sei problematisch. Die finanzielle Lage der Brüder sei schwierig. Für die Kinder habe sie keine eigenen Fluchtgründe.
5
Mit Bescheid vom 11.08.2021 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerinnen ab. Die Flüchtlingseigenschaft, sowie der subsidiäre Schutz wurden nicht zuerkannt. Es wurde festgestellt, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen und die Antragstellerinnen – unter Androhung der Abschiebung in den Irak – aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
6
Auf die Begründung des Bescheids, der laut Aktenvermerk am 16.08.2021 zur Post gegeben wurde, wird Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
7
Mit Schriftsatz vom 31.08.2021, der am gleichen Tag einging, hat die damalige Prozessbevollmächtigte Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach erhoben und beantragt,
I. Der Bescheid des Bundesamtes vom 11.08.2021, mit Ausnahme der Ziffer 2, zugestellt am 17. August 2021, mit Aktenzeichen: …, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
III. Hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, den Klägerinnen den subsidiären Status nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
IV. Höchst hilfsweise wird die Beklagte verpflichtet, den Klägerinnen einen Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 zu gewähren.
8
Zur Begründung ist im Schriftsatz vom 16.09.2021 im Wesentlichen ausgeführt, der Bescheid sei rechtswidrig und verletze die Klägerinnen in ihren Rechten. Die Klägerin zu 1 habe das Verfolgungsschicksal in Anlehnung an das Verfolgungsschicksal des Ehemannes in der Anhörung geschildert. Dieses sei in Italien anerkannt worden. Die Sicherheitslage im Irak sei volatil. Die Mutter der Klägerin sei alleinerziehende Mutter von insgesamt 5 Kindern, davon seien 4 minderjährig. Der Vater habe sich nach Italien abgesetzt und wolle nichts mehr mit der Familie zu tun haben, so dass von ihm keine Hilfe zu erwarten sei. Vom 31.12.2019 bis 09.04.2020 habe sich die Familie in der Schweiz aufhalten müssen, da es in Deutschland massive Probleme mit dem Vater gegeben habe. Das zuletzt geborene Kind sollte ihre Mutter sogar abtreiben lassen. Dies sei dieser von ihrem Vater vorgehalten worden. Der alleinerziehenden Mutter könne nicht zugemutet werden – wenn auch mit Hilfe ihrer volljährigen Tochter – den Lebensunterhalt für die gesamte Familie im Irak zu bestreiten. Zudem gebe es keine Möglichkeit wieder in ihre Heimat zurückzukehren, wo alle Gebäude abgebrannt und zerstört seien. Als alleinerziehende Frau könne sie jedoch auch nicht an einen anderen Ort ziehen, als den, an dem die Familie wohnt. Diese könne eine sechsköpfige-Familie abgesehen davon auch nicht aufnehmen, so dass ein Unterbringen durch Familienangehörige ausscheide. Zudem müsse noch erwähnt werden, dass die Familie in Italien schlecht behandelt worden sei. Dort sei durch das Jugendamt versucht worden, der Mutter die Kinder wegzunehmen. Dieses traumatische Ereignis hätten sie bis heute nicht verwunden.
9
Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 03.09.2021 beantragt,
die Klage abzuweisen.
10
Zur Begründung wurde auf den streitgegenständlichen Bescheid verwiesen.
11
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Ansbach vom 14.09.2023 wurde der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth verwiesen. Dort wurde der Rechtsstreit mit Beschluss vom 26.03.2024 zur Entscheidung auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
12
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten des Bundesamtes und der Ausländerbehörde zu den Klägerinnen und ihren Familienangehörigen Bezug genommen. Wegen des Ablaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen, § 117 Abs. 3 VwGO.

Entscheidungsgründe

13
Die zulässige Klage hat im vollem Umfang Erfolg.
14
1. Der streitgegenständliche Bescheid vom 11.08.2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten. Sie haben zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
15
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will. Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, § 3e AsylG.
16
Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt unabhängig davon, ob bereits eine Vorverfolgung stattgefunden hat, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – BVerwG 10 C 25.10 – juris = BVerwGE 140, 22). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden sind nach Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (QRL – RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff.) ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass der Ausländer erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. In der Vergangenheit liegenden Umständen ist damit Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beizumessen.
17
Bezüglich der vom Ausländer im Asylverfahren geltend gemachten Umstände, die zu seiner Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, genügt aufgrund der regelmäßig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Flüchtlings die Glaubhaftmachung. Die üblichen Beweismittel stehen ihm häufig nicht zur Verfügung. In der Regel können unmittelbare Beweise im Verfolgerland nicht erhoben werden. Mit Rücksicht darauf kommt dem persönlichen Vorbringen des Ausländers und dessen Würdigung eine gesteigerte Bedeutung zu. Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass der Tatrichter einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – BVerwG 9 C 109.84 – juris = BVerwGE 71, 180 und U.v. 11.11.1986 – 9 C 316.85 – juris). Eine Glaubhaftmachung in diesem Sinne setzt voraus, dass die Geschehnisse im Heimatland schlüssig, substantiiert und widerspruchsfrei geschildert werden. Erforderlich ist somit eine anschauliche, konkrete und detailreiche Schilderung des Erlebten. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Ausländer nur geglaubt werden, wenn die Widersprüche und Ungereimtheiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 23.2.1988 – BVerwG 9 C 273.86 – juris sowie B.v. 21.7.1989 – 9 B 239.89 – juris = NVwZ 1990, 171).
18
Den Klägerinnen ist die Flüchtlingseigenschaft zuzusprechen, weil ihnen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der verwestlichen alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörigen im Irak Verfolgung droht.
19
Eine Gruppe gilt nach § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Diese Merkmale sind für die Gruppe der alleinstehenden Frauen im Irak, die ohne schutzbereiten männlichen Familienangehörigen, auf sich gestellt sind, erfüllt, weil sie von der irakischen Mehrheitsgesellschaft als andersartig wahrgenommen werden und diversen Verfolgungsmaßnahmen aufgrund dieser Zuschreibung ausgesetzt sind.
(vgl. z.B. VG Saarlous U.v. 15.11.2022, 6 K 323/21 – juris; VG Regensburg U.v. 25.10.2021 – RO 13 K 19.30604; VG München U.v. 17.3.2020 – M 19 K 16.32356; VG Oldenburg U.v. 26.1.2022 – 15 A 1885/18; VG Stade, U.v. 23.7.2019 – 2 A 19/17 –; VG Aachen, U.v. 17.5.2019 – 4 K 1634/17.A; VG Weimar, U.v. 17.4.2019 – 6 K 20181/17 We –; VG Hannover, U.v. 24.3.2022 – 6 A 3392/17 –, U.v.14.4.2023 – 12 A 4071/18 –, U.v.10.4.2019 – 6 A 2689/17 –, U.v. 26.2.2018 – 6 A 6292/16 –; VG Karlsruhe, U.v. 21.2.2019 – A 10 K 4198/17 –; VG Münster, U.v. 2.10.2019 – 6a K 3033/18.A – und U.v. 2.10.2018, Az. 6a K 5132/16.A – alle jeweils juris).
20
Als alleinstehende Frauen ohne männlichen Schutz haben die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG zu befürchten. Nach der derzeitigen Auskunftslage sind alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im gesamten Staatsgebiet geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG ausgesetzt. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen. Besonders Flüchtlinge und Binnenvertriebene – wie die Klägerin – sind von sexueller Belästigung, sowohl in den Lagern als auch in den Städten betroffen.
21
Zwar ist in der irakischen Verfassung die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben und eine Frauenquote von 25% im Parlament (Autonome Region Kurdistan-Irak (RKI): 30%) verankert. In politischen Entscheidungsprozessen spielen Frauen jedoch eine untergeordnete Rolle. Nur wenige Frauen nehmen Spitzenpositionen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ein. Laut Art. 14 und 20 der Verfassung ist jede Art von Diskriminierung aufgrund des Geschlechtes verboten. Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Artikel als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Frauen sind im Alltag Diskriminierung ausgesetzt, die ihre gleichberechtigte Teilnahme am politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben im Irak verhindert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft und insbesondere unter Binnenvertriebenen hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z. B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. Frauen wird überproportional der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Nach Angaben des Planungsministeriums von Februar 2022 liegt die Alphabetisierungsrate von Frauen bei 83% und von Männern bei 92%. In den Familien sind patriarchalische Strukturen weit verbreitet; 18,4% der Mädchen werden laut UNICEF vor Vollendung des 18. Lebensjahrs verheiratet.
22
Auch sind „Ehrenmorde“ gegen Frauen in der irakischen Gesellschaft verbreitet. 2015 haben Regierung und Parlament der RKI in Abänderung des irakischen Strafrechts den Ehrenmord anderen Morden strafrechtlich gleichgestellt. Sowohl Politik als auch Rechtslage der RKI sprechen sich ausdrücklich gegen „Ehrenmorde“ aus. In einigen gesellschaftlichen Gruppen gilt der „Ehrenmord“ allerdings immer noch als rechtfertigbar. Im Zentralirak gelten bei Ehrenmord zudem mildernde Umstände. Die kurdische Regionalregierung hat ihre Anstrengungen zum Schutz der Frauen verstärkt. So wurden im Innenministerium vier Abteilungen zum Schutz von weiblichen Opfern von (familiärer) Gewalt sowie vier staatliche Frauenhäuser eingerichtet. Zwei weitere werden von NROs betrieben. Zusätzlich unterstützt der Hohe Frauenrat (High Council of Women Affairs – HCWA) der kurdischen Regionalregierung den Schutz von Frauenrechten. Seit 2011 gibt es ein kurdisches Gesetz gegen häusliche Gewalt, in dem weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung von Frauen und andere Gewalt innerhalb der Familie unter Strafe gestellt werden. Die gesetzlichen Regelungen werden in der Praxis allerdings nicht durchgängig umgesetzt. Eine vom Frauenrechtskomitee des kurdischen Parlaments initiierte Reform des Gesetzes zur Bekämpfung häuslicher Gewalt, die eine Erweiterung der Schutzrechte von Frauen vorsieht, scheiterte zunächst am Widerstand der islamistischen Parteien. Sie erreichten, dass der Änderungsantrag der Fatwa-Kommission der RKI zur Überprüfung auf Konformität mit islamischem Recht vorgelegt wurde.
23
Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. NROs berichten über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion. Im Zuge des „IS“-Vormarschs auf Sinjar sollen über 5.000 jesidische Frauen und Mädchen verschleppt worden sein, von denen Hunderte später als „Trophäen“ an „IS“-Kämpfer gegeben oder nach Syrien „verkauft“ wurden. Diese Frauen wurden anschließend oftmals von ihren Familien aus Gründen der Tradition verstoßen oder sie wurden gezwungen, die aus den Zwangsehen entstandenen Kinder zu verstoßen.
(vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28.10.2022, S. 11 ff).
24
Die Bewegungsfreiheit von Frauen wird durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränkt. So hindert das Gesetz Frauen beispielsweise daran, ohne die Zustimmung eines männlichen Vormunds oder gesetzlichen Vertreters einen Reisepass zu beantragen oder ein Dokument zur Feststellung des Personenstands zu erhalten, welches für den Zugang zu Beschäftigung, Bildung und einer Reihe von Sozialdiensten erforderlich ist. Frauen wird überproportional häufig der Zugang zu Bildung und Teilnahme am Arbeitsmarkt verwehrt. Nur 14% der Frauen sind erwerbstätig oder aktiv auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, verglichen mit 73% der Männer. Die Jugendarbeitslosigkeit bei Frauen und Mädchen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren wird auf etwa 63,3% geschätzt (Stand 2017). Frauen, die nicht an der irakischen Arbeitswelt teilhaben, sind einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, selbst wenn sie in der informellen Wirtschaft mit Arbeiten wie Nähen oder Kunsthandwerk beschäftigt sind.
(vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 22.08.2022, S. 191).
25
Alleinstehende Frauen sind im Irak, inklusive der Autonomen Region Kurdistan-Irak, gesellschaftlich kaum akzeptiert. Leben Frauen alleine, wird dies als unangemessen betrachtet, da sie keinen männlichen „Beschützer“ haben. In der Folge werden sie häufig Opfer von (sexueller) Gewalt und Diskriminierung. Alleinstehende Frauen, die von ihrer Familie keine Unterstützung erfahren, sind hiervon besonders häufig betroffen, ebenso wie (Binnen-)Flüchtlinge.
(vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderanalysen, Kurzinformation – Irak. Geschlechtsspezifische Gewalt, 01.05.2023, S. 5 f.; EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 141).
26
Im Fall von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt mangelt es an strafrechtlicher Verantwortung für Täter und Schutzmechanismen für Opfer. Solche Fälle bleiben weitgehend ungemeldet. Gründe dafür sind fehlender Zugang zu gerichtlichen oder administrativen Mechanismen, Angst vor Stigmatisierung und Repressalien, darunter die Furcht davor, von Familienmitgliedern getötet zu werden, aber auch die Angst, selbst strafrechtlich verfolgt zu werden nach Artikel 394 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe verbietet.
(vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, 23.10.2023, S. 178 ff).
27
Flüchtlinge und Binnenvertriebene berichten von regelmäßiger sexueller Belästigung, sowohl in den Lagern als auch in den Städten. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass das Sicherheitspersonal von Vertriebenenlagern weibliche Binnenvertriebene zu sexuellen Gefälligkeiten im Austausch für die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen aufforderte. Zu den Tätern sexuellen Missbrauchs gehören neben Lagerbewohnern und Personal manchmal auch Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder Behördenmitarbeiter. Auch die Volksmobilisierungseinheiten (Popular Mobilization Forces, PMF) sollen häufig für die sexuelle Ausbeutung von Frauen in Vertriebenenlagern verantwortlich sein.
(vgl. U. S. Department of State (USDOS), Iraq 2022 Human Rights Report, 20.03.2023, S. 54 ff.; EUAA, Country Guidance: Iraq, 29.06.2022, S. 74).
28
Dies gilt auch oder umso mehr für Frauen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in den Irak ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann. Maßgeblich für die „Verwestlichung“ einer Asylsuchenden ist die Frage, inwiefern sie bereit ist, patriarchalische Rollenvorstellungen zu akzeptieren und sich sowohl ihrem Partner als auch anderen Männern unterzuordnen. Für eine „Verwestlichung“ sprechen der Wille zu einer selbstbestimmten Lebensführung, die Offenheit gegenüber anderen Kulturen, Religionen und Werten, die Bereitschaft, die eigene Meinung auch gegen Widerstände zu verteidigen, und das Bestreben, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Auch bei verheirateten Frauen und Müttern kann eine „Verwestlichung“ anzunehmen sein.
(vgl. VG Hannover U.v. 27.10.2022 – 3 A 5642/18 -.; VG Stade, U.v. 23.7.2019 – 2 A 19/17 – m.w.N; VG Braunschweig U.v. 23-01-2023 – 2 A 172/19 – alle juris)
29
Die Einzelrichterin hat in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerinnen insbesondere aufgrund ihrer Einstellungen keine schutzbereiten männlichen Angehörigen im Irak vorfinden werden und sich in das Gesellschaftssystem des Irak nicht einfinden können werden.
30
Die Klägerin zu 1 hat glaubhaft vorgetragen, dass im Irak noch ihre Brüder und die Brüder ihres Ehemannes leben. Sie hat hierzu erläutert, dass diese einerseits ihr eigenes Leben führten, und das Verhältnis anderseits angespannt sei, weil diese ihre 5 Töchter gegen ihren Willen verheiraten wollten. Sie könnten sich nicht vorstellen, dass es andere Gesellschaftsstrukturen geben könne, in denen die Frauen nicht unterdrückt werden und sich dem Willen der Männer beugen müssten. Im Gegenzug sehe sie bei einer Rückkehr die Gefahr, dass insbesondere das Leben ihrer Töchter zerstört würde, da sie sich dem Willen der Männer beugen müssten und die Töchter verheiratet würden. Sie habe nach dem Tod ihres Vaters niemanden, der sich für sie und die Belange ihrer Töchter einsetzen würde. Darüber hinaus hätten ihre Töchter und sie die Meinung und dies nun auch so in Deutschland erlebt und gelebt, dass auch Frauen Rechte hätten, insbesondere ihr Leben selbst zu gestalten. Im Irak könne eine Frau nicht einmal hinsichtlich ihrer Kinder mitbestimmen. Dies komme einer Entrechtung der Frau gleich. Hiermit hat die Klägerin zu 1 dokumentiert, dass sie nicht willens und in der Lage ist, sich in die patriarchalen Strukturen einzuordnen und potentiellen Schutz durch etwaig schutzbereite männliche Angehörige gegen ihre Rechte als Frau einzutauschen. Diese Einstellung manifestiert sich auch in ihrem Lebenslauf. Sie lebt inzwischen getrennt und hat ihrer Tochter, der Klägerin zu 2, entgegen dem Willen ihres Ehemannes ermöglicht, zu arbeiten. Sofern die männlichen Verwandten der Klägerinnen überhaupt in der Lage und bereit wären insgesamt 5 neue Personen in ihren Haushalt aufzunehmen, würde dies mindestens an der fundamental unterschiedlichen Einstellung zum gesellschaftlichen Miteinander scheitern.
31
Die inzwischen 19-jährige Klägerin zu 2 hat den überwiegenden Teil ihres Lebens und insbesondere auch die für das gesellschaftliche Bewusstsein prägenden Jahre in Europa (15 Jahre) und schwerpunktmäßig in Deutschland (9 Jahre) verbracht. Sie hat hier ihre Schulausbildung genossen und arbeitet, entgegen den Willen des Vaters. Eine Ausbildung steht an. Sie spricht fließend Deutsch und hat in der mündlichen Verhandlung leidenschaftlich geschildert, ihr Leben mit der anstehenden Ausbildung selbst in die Hand nehmen zu wollen. Zudem hat sie überzeugend dargelegt, mit der Einstellung ihres Vaters und der ihrer männlichen Verwandten im Irak zur Heirat und Rolle der Frau nicht einverstanden zu sein. Dies geht so weit, dass sie den Kontakt mit dem Vater, wegen dessen Absicht sie und ihre Schwestern im Irak zu verheiraten und den dortigen gesellschaftlichen Strukturen auszuliefern, meidet. Zudem hat sie in der mündlichen Verhandlung mit der Aussage, die Personen, die die Frauen unterdrückten, seien aus ihrer Sicht keine Männer unaufgefordert und in eigenen Worten deutlich ihre Überzeugungen klargestellt, ohne unnötig zu übertreiben. Dies untermauert die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen. Besonders hinsichtlich der Klägerin zu 2 kann sich die Einzelrichterin nicht vorstellen, dass sich diese in die gesellschaftlichen Strukturen des Irak einfinden können wird.
32
Die vom Vater beabsichtigte Verheiratung der Töchter mit ihren Cousins klingt schon in frühen Verfahrensstadien an, was ebenfalls für die Glaubhaftigkeit der Aussagen spricht. So hat dieser bereits 2016 gegenüber dem Bundesamt angegeben, sein Neffe, der Verlobte seiner Tochter, lebe in Deutschland (vgl. Bundesamtsbescheid des Vaters vom 22.07.2016 (Az. …*) Seite 2).
33
Das Dargestellte gilt entsprechend für die in Österreich geborene bald 12-jährige Klägerin zu 3.
34
Nach alledem ist die Einzelrichterin der Überzeugung, dass den Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak dort flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohen wird. Demnach ist den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen und des streitigen Bescheides aufzuheben. Über die Hilfsanträge ist demnach wegen des Erfolgs des Hauptantrags nicht mehr zu entscheiden.
35
2. Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG kostenfreien Verfahrens folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.