Titel:
berechtigte Zweifel, Verhältnismäßigkeit der Gutachtenanordnung, Epilepsie, behandelnde Ärzte
Normenketten:
FeV § 11
Anlage 4 zur FeV
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3
Leitsatz:
Gutachtenanforderung rechtswidrig, insbesondere unverhältnismäßig.
Schlagworte:
berechtigte Zweifel, Verhältnismäßigkeit der Gutachtenanordnung, Epilepsie, behandelnde Ärzte
Fundstelle:
BeckRS 2024, 24468
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen Ziffer 1 und 2 des Bescheids des Antragsgegners vom 19. Januar 2024 wird wiederhergestellt und hinsichtlich der Ziffer 3 (Zwangsgeldandrohung) angeordnet.
2. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin beantragt die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs gegen den Bescheid des Landratsamts … (Landratsamt) vom 16. September „2021“ (wohl 2024) wiederherzustellen, mit dem ihr die Fahrerlaubnis entzogen wurde und weitere Anordnungen getroffen wurden.
2
Mit Schreiben der Polizeiinspektion … (PI) vom 12. Juli 2023 wurde dem Landratsamt mitgeteilt, dass dort ein anonymes Schreiben eingegangen sei, wonach bei der Antragstellerin öfter der Krankenwagen käme, da sie „Bewusstlosigkeitsanfälle“ bekäme. Da sie weiterhin Pkw fahre, bestehe eine Gefahr für den Straßenverkehr. Die PI teilte zudem mit, dass seitens der Polizei keine Notwendigkeit des Einschreitens bestehe.
3
Im beigefügten anonymen Schreiben „besorgter Mitbürger*innen“ wurde u.a. ausgeführt, dass die Antragstellerin „wie eine gesengte Sau rase, möglicherweise keinen Führerschein habe und sie jederzeit bei einer plötzlich einsetzenden Bewusstlosigkeit im Straßenverkehr andere Menschen gefährden könne“.
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Mit Schreiben vom 6. September 2023 forderte das Landratsamt von der Antragstellerin aufgrund der mitgeteilten Bewusstlosigkeitsanfälle zur Einordnung der Art und des Ausmaßes ihrer Erkrankung(en) einen aktuellen ausführlichen Krankheits- und Befundbericht, einschließlich Angaben zur Anamnese, zu dem(n) Befund(en), zur epikritischen Bewertung und gegebenenfalls zur Therapie ihrer Bewusstlosigkeitsanfälle bis spätestens 9. Oktober 2023 vorzulegen.
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Der Bevollmächtigte der Antragstellerin bestellte sich mit Schreiben vom 12. September 2023 und wies daraufhin, dass die Antragstellerin weder öfter Bewusstlosigkeitsanfälle habe, noch deshalb öfter Krankenwägen zu ihr kämen. Es bestünden Zweifel, dass die PI dies festgestellt und dem Landratsamt so mitgeteilt habe. Die Antragstellerin werde zur Klarstellung einen aktuellen Krankheits- und Befundbericht einholen und dem Landratsamt zukommen lassen.
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Am 19. September 2023 legte der Bevollmächtigte der Antragstellerin einen ausführlichen Anamnesebericht der behandelnden Neurologen Dr. S. und Dr. F. vom 13. September 2023 vor, welche gesamtbeurteilend keine Hinweise auf Krampf- und Bewusstlosigkeitsanfälle feststellen konnten. Im Arztbericht ist als Diagnose angegeben:
- Anfallsereignis vor fünf Jahren – am ehesten dissoziative Anfälle
- Bekannte dissoziative Anfälle
- Chronisches Schmerzsyndrom mit psychischen und somatischen Faktoren
- Unverträglichkeit von Novaminsulfon
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Neben einer ausführlichen Anamnese enthält der Bericht Ausführungen zum neurologischen und psychischen Befund sowie EEG (Elektroenzephalogramm). In der Beurteilung wird ausgeführt, dass sich gesamtbeurteilend keine Hinweise für dissoziative Krampfanfälle oder Bewusstlosigkeitsanfälle ergäben und Kraftfahreignung gegeben sei. Dem Bericht ist weiter zu entnehmen, dass die Antragstellerin seit 5 Jahren bei guter Compliance auf Levetiracetam eingestellt sei. Sie arbeite seit über einem Jahr im Homeoffice, ohne dass Anfallsereignisse aufgetreten seien. Im EEG gebe es auch keine Hinweise für eine erhöhte Anfallsbereitschaft.
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Am 16. Oktober 2023 forderte das Landratsamt von der Antragstellerin wegen bestehender Zweifel an ihrer Fahreignung aufgrund der diagnostizierten Epilepsie und dissoziativen Anfälle ein Gutachten eines Facharztes für Neurologie oder eines Facharztes für Nervenheilkunde, jeweils mit verkehrsmedizinischer Qualifikation, um diese Zweifel auszuräumen. Sie müsse als Inhaberin einer Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M und S die hierfür notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllen. Die Anforderungen könnten insbesondere dann nicht erfüllt sein, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach Anlage 4 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) vorliege, wodurch die Eignung oder die bedingte Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen sein könne (§ 46 Abs. 3 FeV i.V.m. § 11 Abs. 1 Sätze 1-2 FeV).
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Aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen gehe hervor, dass die Antragstellerin an einer Epilepsie leide. Epilepsie sei eine Erkrankung mit mindestens einem spontan aufgetretenen epileptischen Anfall, der nicht durch eine aktuell bestehende, erkennbare Ursache (beispielsweise eine akute Entzündung des Gehirns, einen Schlaganfall oder eine Kopfverletzung) oder einen Auslöser (z. B. massiven Schlafmangel) hervorgerufen wurde. Epilepsie werde unter der Nr. 6.6 der Anlage 4 der FeV aufgeführt und sei somit eine Erkrankung, die zu einer Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen führen könne. Werde die Diagnose einer Epilepsie gestellt, sei eine mindestens 1-jährige Anfallsfreiheit die Voraussetzung für das Erlangen der Kraftfahreignung. Darüber hinaus bestehe keine Kraftfahreignung, sofern eignungsausschließende Nebenwirkungen durch die Therapie aufträten. Somit würden sich die Fahreignungszweifel so erheblich verstärken, dass das der Fahrerlaubnisbehörde in § 11 Abs. 2 FeV eingeräumte Ermessen auf nahe Null reduziert werde.
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Die Begutachtungsanordnung erfolge insbesondere auch deshalb, da selbst bei noch bzw. wieder bestehender Fahreignung der einzelfallbezogenen verkehrsmedizinischen Beurteilung der Notwendigkeit der weiteren Überwachung zum einen, aber auch der Art und den Anforderungen mit Festlegung unter anderem der zu erbringenden Nachweise, Intervalle und der Art der Kontrollen der weiteren Überwachung zum Erhalt der Fahreignung zum anderen eine entscheidende Bedeutung zukomme. Die Beurteilung und Festlegung sei für den (medizinisch und psychologisch nicht geschulten) Laien der Fahrerlaubnisbehörde nicht möglich, weswegen der gutachterlich vorzunehmenden Beurteilung und Festlegung durch einen verkehrsmedizinisch geschulten Arzt auch diesbezüglich entscheidende Bedeutung zukäme. Auch könnten diese gutachterlich zu klärenden Einschätzungen nicht durch einen behandelnden Arzt festgelegt werden.
11
Die Antragstellerin wurde aufgefordert, das Gutachten bis spätestens 19. Dezember 2023 vorzulegen. Die Kosten der Begutachtung habe die Antragstellerin zu tragen. Das Gutachten solle über folgende Fragen Auskunft geben:
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1. Ist die Antragstellerin trotz Vorliegen einer Erkrankung (hier: Epilepsie, dissoziative Anfälle) und der damit verbundenen Medikation in der Lage den Anforderungen zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 1 gerecht zu werden?
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2. Liegt eine ausreichende Compliance vor und wird diese auch umgesetzt (Adhärenz)?
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3. Sind Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeuges (je Fahrerlaubnisklassengruppe) gerecht zu werden?
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4. Ist bzw. sind insbesondere (eine) fachlich einzelfallbegründete Auflage(n) nach Anlage 4 (z.B. ärztliche Kontrollen) erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand und wie lange? Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind die Ergebnisse der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen; wenn ja, warum?
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5. Ist eine fachlich einzelfallbegründete (je Fahrerlaubnisklassengruppe) Nachuntersuchung i.S. einer erneuten (Nach-) Begutachtung erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand?
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Die Begutachtungsanordnung enthielt diverse Hinweise, insbesondere, dass bei Nichteinhaltung der Vorlagefrist auf die Nichteignung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werde (§ 11 Abs. 8 FeV).
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Mit weiterem Schreiben vom 21. Dezember 2023 wurde gemäß § 3 Abs. 1 und 2 StVG und § 46 Abs. 1 FeV das Verfahren zur Entziehung der Fahrerlaubnis eingeleitet. Die Zustimmungserklärung zum angeforderten Gutachten sei nicht vorgelegt, das geforderte Gutachten nicht erstellt worden. Die an der Fahreignung der Antragstellerin bestehenden Zweifel seien nicht ausgeräumt worden. Das Landratsamt müsse nach § 11 Abs. 8 FeV mangels Mitwirkung darauf schließen, dass die Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Ihre Fahrerlaubnis müsse daher entzogen werden.
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Der Bevollmächtigte der Antragstellerin reagierte mit Schreiben vom 2. Januar 2024 und wies erneut auf den Anamnesebericht vom 13. September 2023 hin, in dem der Antragstellerin insbesondere eine gute Compliance (Seite 1) und eine gegebene Kraftfahreignung (Seite 2) attestiert worden sei. Die Ärzte befänden sich auch auf der Gutachterliste des Landratsamtes. Ein Verzicht auf die Fahrerlaubnis werde nicht erfolgen.
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Mit Bescheid vom 19. Januar 2024 entzog das Landratsamt der Antragstellerin die Fahrerlaubnis der Klassen B, L, M und S (Ziffer 1). Es ordnete an, den Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides bei der Führerscheinstelle des Landratsamts abzugeben (Ziffer 2). Für den Fall der Nichtbefolgung der Verpflichtung in Nr. 2 dieses Bescheides werde innerhalb einer Woche nach Zustellung des Bescheides ein Zwangsgeld in Höhe von 300,00 EUR zur Zahlung fällig (Ziffer 3). Die sofortige Vollziehung der Nrn. 1 und 2 werde im öffentlichen Interesse angeordnet. Die Antragstellerin sei somit ab Zustellung dieses Bescheids nicht mehr berechtigt, ein erlaubnispflichtiges Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr zu führen (Ziffer 4). Die Antragstellerin habe die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gebühr werde auf 250,00 € festgesetzt. Daneben würden die angefallenen Auslagen in Höhe von 4,11 € erhoben (Ziffer 5).
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der bestehenden Eignungszweifel, die die Antragstellerin nicht durch ein Gutachten ausgeräumt habe, die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
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Gegen den Bescheid legte der Bevollmächtigte der Antragstellerin per Fax am 20. Februar 2024 Widerspruch ein und verwies auf die bisherigen Ausführungen.
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Der Antragsgegner teilte mit Schreiben vom 27. Februar 2024 mit, dass er dem Widerspruch nicht abhelfe und regte an, diesen aus Kostengründen zurückzunehmen. Auf die bisherigen Ausführungen werde Bezug genommen. Im Übrigen könne ein Befundbericht der behandelnden Ärzte, welche insbesondere keine vorherige Einsichtnahme in die Verfahrensakten erhalten hätten, kein verkehrsmedizinisches Gutachten ersetzen (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 5 und Abs. 6 Satz 4 FeV).
24
Mit Schreiben vom 20. Februar 2024 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Bayreuth,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 30.09.2021 gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16.09.2021 über die Entziehung der Fahrerlaubnis wird wiederhergestellt.
Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers aufschiebende Wirkung hat.
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Bereits aus formellen Gründen sei die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit rechtswidrig. Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit unter Ziffer 4 des Bescheides vom 19.01.2024 nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erfülle nicht die Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO. Im vorliegenden Bescheid liege überhaupt keine auf diesen konkreten Einzelfall der Antragstellerin bezogene Begründung zur sofortigen Vollziehbarkeit vor. Demzufolge fehle es auch an der Begründung, warum gerade bei der Antragstellerin nicht bis zur Unanfechtbarkeit dieses Bescheides gewartet werden könne. Weiter fehle es an einer Abwägung.
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In materieller Hinsicht sei darauf hinzuweisen, dass weder die vom Antragsgegner behaupteten Bewusstlosigkeitsanfälle tatsächlich bei der Antragstellerin eingetreten seien, noch aus den dem Antragsgegner vorgelegten medizinischen Unterlagen sich die unterstellte Hypothese der fehlenden Fahreignung wegen epileptischen Anfällen ergebe.
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Der Antragsgegner beantragte mit Schreiben vom 27. Februar 2024, den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung werde auf den Bescheid und bisherigen Schriftverkehr verwiesen. Der Anamnesebericht vom 13. September 2023 reiche nicht aus, um die Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin vollständig auszuräumen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
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Der Antrag ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.
31
Die Auslegung des Antrags (§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) ergibt im wohlverstandenen Interesse der anwaltlich vertretenen Antragstellerin, dass diese die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die für sofort vollziehbar erklärten Anordnungen in Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 19. September 2024 (Anm.: nicht 2021) und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der kraft Gesetzes (§ 21a VwZVG) sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 des Bescheids begehrt.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. im Fall des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Das Gericht prüft, ob die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung gegeben sind und trifft im Übrigen eine eigene Abwägungsentscheidung. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung der Antragstellerin auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen. Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
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Die von der Antragstellerin begehrte aufschiebende Wirkung ihres gegen den Bescheid des Landratsamts vom 19. Januar 2024 erhobenen Widerspruchs ist wiederherzustellen. Die summarische Prüfung, wie sie im Sofortverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO geboten, aber auch ausreichend ist, ergibt hier, dass der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid des Landratsamts voraussichtlich Erfolg haben wird. Der Antragsgegner ist hier voraussichtlich zu Unrecht von der Nichteignung der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen nach § 11 Abs. 8 FeV ausgegangen. Die hierauf gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis sowie die weiteren (Neben-)Entscheidungen werden sich deshalb voraussichtlich als rechtswidrig erweisen.
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1. Ziffer 1 des Bescheids erweist sich nach summarischer Prüfung als rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Mangels feststehender Ungeeignetheit der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen durfte ihr die Fahrerlaubnis nicht entzogen werden.
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a) Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde.
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Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung eines Fahrerlaubnisinhabers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde nach § 46 Abs. 3 i.V.m. §§ 11 bis 14 FeV – je nach Lage des Einzelfalls – die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens oder eine medizinisch-psychologische Untersuchung anordnen. Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er der Fahrerlaubnisbehörde das von ihr geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf sie bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sie ihn hierauf bei der Anordnung zur Beibringung des Gutachtens hingewiesen hat (§ 11 Abs. 8 FeV). Der Schluss auf die Nichteignung ist allerdings nur zulässig, wenn die Anordnung der Begutachtung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig, und die Weigerung ohne ausreichenden Grund erfolgt ist (vgl. BayVGH, U.v. 17.4.2023 – 11 BV 22.1234 – juris Rn. 24). Die Gutachtensanordnung muss weiter hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich sein. Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was ihr konkreter Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag (vgl. Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 11 FeV Rn. 55).
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b) Vorliegend wird sich die mit Schreiben des Landratsamts vom 16. Oktober 2023 ergangene Aufforderung zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens voraussichtlich als rechtswidrig erweisen, was die Rechtswidrigkeit des nach § 11 Abs. 8 FeV vorgenommenen Fahrerlaubnisentzugs zur Folge hat.
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Die Begutachtungsaufforderung vom 16. Oktober 2023 hat das Landratsamt auf die Regelung des § 11 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 FeV gestützt. Danach kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis oder über die Anordnung von Beschränkungen oder Auflagen die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen.
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Der Antragsgegner stützt sich dabei auf Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin wegen der bei ihr diagnostizierten Epilepsie. Diese kann grundsätzlich nach § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV begründen. Nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV ist Eignung oder bedingte Eignung im Falle von Epilepsie ausnahmsweise gegeben, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z. B. ein Jahr anfallsfrei.
40
Wer epileptische Anfälle erleidet, ist nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden, solange ein Risiko für Anfallsrezidive besteht. Grundsätzlich gilt dies auch für andere anfallsartig auftretenden Störungen mit akuter Beeinträchtigung des Bewusstseins, der Motorik oder anderer handlungsrelevanter Funktionen. Epilepsien sind komplexe Erkrankungen des Gehirns mit dem Leitsymptom epileptischer Anfälle, die häufig mit Störungen des Bewusstseins und der Motorik einhergehen und in aller Regel spontan, plötzlich und unvorhersehbar auftreten und nicht unterdrückt werden können. Hierdurch ist der Betroffene nicht mehr in der Lage, jederzeit ein Kraftfahrzeug sicher führen zu können.
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Bei der Beurteilung der Kraftfahreignung wird unterschieden zwischen dem erstmaligen Anfall und den wiederholten Anfällen (Epilepsie). Außerdem muss zwischen dem provozierten und dem nicht provozierten Anfall differenziert werden. Bereits bei einem erstmaligen, unprovozierten Anfall ohne Anhalt für eine beginnende Epilepsie entfällt die Kraftfahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 für 6 Monate und für Fahrzeuge der Gruppe 2 für 2 Jahre. Bei einem erstmaligen, provozierten Anfall mit vermeidbarem Auslöser hingegen entfällt die Kraftfahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 für minimal 3 Monate und für Fahrzeuge der Gruppe 2 für minimal 6 Monate. Bei Vorliegen einer Epilepsie ist nach den Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung in der Regel nicht von einer Kraftfahreignung auszugehen, was sowohl für Fahrzeuge der Gruppe 1 als auch für Fahrzeuge der Gruppe 2 gilt. Ein Unterschied zwischen den Fahrzeuggruppen besteht hier in Bezug auf die Ausnahmen von der fehlenden Kraftfahreignung. Wird die Diagnose der Epilepsie gestellt (d.h. nach wiederholten Anfällen), ist eine mindestens einjährige Anfallsfreiheit die Voraussetzung für das Erlangen der Kraftfahreignung für die Kraftfahrzeuge der Gruppe 1 und eine mindestens fünfjährige Anfallsfreiheit ohne medikamentöse Therapie bei Kraftfahrzeugen der Gruppe 2. Die geforderte Anfallsfreiheit als Grundlage der Wiederherstellung der Fahreignung kann dabei entfallen bei ausschließlich an den Schlaf gebundenen Anfällen nach mindestens dreijähriger Beobachtungszeit und einfachen fokalen Anfällen, die ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderung für das Führen eines Kraftfahrzeuges einhergehen und bei denen nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplexfokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar wurden. Dies muss durch Fremdbeobachtung gesichert sein und darf sich nicht allein auf die Angaben des Patienten stützen (vgl. BayVGH, B.v. 4.10.2016 -11 ZB 16.1535 – juris Rn. 14)
42
aa) Vorliegend ergeben sich schon keine berechtigten Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin.
43
Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 16.8.2018 – 11 CS 17.1940 juris Rn. 19). Begründete Anzeichen für eine Beeinträchtigung der Fahreignung der Antragstellerin durch die diagnostizierte Epilepsie lassen sich nach Auffassung der Kammer alleine aus dem vorgelegten Arztbericht vom 13. September 2023 nicht entnehmen.
44
Zunächst wurden die ärztlichen Unterlagen in Bezug auf etwaige Bewusstlosigkeitsanfälle angefordert, die Epilepsie wurde dem Antragsgegner offenbar erst durch die ärztlichen Unterlagen bekannt.
45
Es ergibt sich aus dem Befund neben der Diagnose auch, dass das Anfallsereignis erstmals vor fünf Jahren auftrat, dass sich bei der Antragstellerin seit über einem Jahr keine Anfallsereignisse gezeigt haben, dass sie medikamentös eingestellt ist, bei guter Compliance und vor allem, dass die Kraftfahreignung gegeben ist. Weiter ergibt sich, dass eine Therapie bereits durchgeführt wird und eine Verlaufskontrolle bereits nach drei Monaten erfolgen soll.
46
Das Gericht kann ernsthafte Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin aus diesem Arztbericht nicht entnehmen, auch nicht unter Zugrundelegung der o.g. Anforderungen nach den Begutachtungsleitlinien. Eine einjährige Anfallsfreiheit wird durch die Ärzte bescheinigt.
47
bb) Selbst wenn man von Tatsachen ausgehen würde, die berechtigte Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin begründen, wäre das Ergehen der Gutachtenanordnung unverhältnismäßig. Der zur Überprüfung von Bewusstlosigkeitsanfällen angeforderte Arztbericht wird fehlerhaft zur Gutachtenanordnung bezüglich einer Epilepsie herangezogen.
48
Es wäre dem Antragsgegner als milderes Mittel problemlos möglich gewesen, bei den behandelnden Ärzten zur Epilepsie der Antragstellerin nachzufassen. Es geht hier nicht um die Gutachtenerstellung an sich, die nach § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV nicht vom behandelnden Arzt erfolgen soll (aber sehr wohl kann). Es geht zunächst um die Erforderlichkeit eines Gutachtens wegen Tatsachen, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung eines Fahrerlaubnisinhabers begründen. Eine solche Tatsache ist nicht alleine die diagnostizierte Epilepsie der Antragstellerin unter völliger Ausblendung der weiteren Feststellungen im Befundbericht und ohne Feststellungen zur Therapie, Verlaufskontrolle etc. Die Fragen des Landratsamts hätten zunächst weiter aufgeklärt werden können, ehe ein Gutachten angeordnet wird. Erst bei danach (weiterhin) bestehenden Zweifeln wäre eine Gutachtenanordnung verhältnismäßig. Eine Akteneinsicht ist dafür nicht erforderlich.
49
Zudem handelt es sich bei den behandelnden Ärzten um ausgewiesene und vom Antragsgegner anerkannte Experten im Bereich verkehrsmedizinischer Gutachten. Die Antragstellerin war bereits über ein Jahr bei den Ärzten in Behandlung, so dass eine einjährige Anfallsfreiheit durch Fremdbeobachtung nach Auffassung des Gerichts belegt oder widerlegt hätte werden können. Es galt also erst einmal grundsätzlich zu klären, ehe eine Gutachtensanordnung mit entsprechenden Kosten und Konsequenzen für die Antragstellerin ergeht, ob berechtigte Zweifel an der Fahreignung der Antragstellerin bestehen, da ihr in dem Arztbericht Kraftfahreignung eindeutig bescheinigt wird. Dies unterblieb.
50
cc) Der angeordnete Entzug der Fahrerlaubnis kann somit nicht darauf gestützt werden, dass ein – zu Unrecht gefordertes – ärztliches Fahreignungsgutachten von der Antragstellerin nicht vorgelegt wurde.
51
2. Gegen die in Ziffer 2 des Bescheids angeordnete Ablieferung des Führerscheins bestehen nach summarischer Prüfung ebenfalls Rechtmäßigkeitsbedenken. Nachdem der Antragstellerin die Fahrerlaubnis zu Unrecht entzogen worden ist, ist auch die Abgabeverpflichtung als begleitende Anordnung rechtswidrig, weshalb die aufschiebende Wirkung auch in Bezug auf Ziffer 2 des Bescheides wiederherzustellen ist.
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3. Die aufschiebende Wirkung der Klage in Bezug auf die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 ist anzuordnen, da sich die Fahrerlaubnisentziehung nach summarischer Prüfung als rechtswidrig erweist und die Antragstellerin ihrer Ablieferungspflicht derzeit nicht nachkommen muss.
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4. Ob die Anordnung der sofortigen Vollziehung den Anforderungen des § 80 Abs. 3 VwGO entspricht, kann daher dahinstehen.
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5. Der Antragsgegner trägt als unterliegender Beteiligter die Kosten des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 VwGO.
55
6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. Nrn. 1.5 und 46.3 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (s. NVwZ-Beilage 2013, 57).