Inhalt

OLG München, Teil- und Zwischenurteil v. 17.09.2024 – 5 U 7318/22 e
Titel:

Schadensersatzansprüche eines getäuschten Aktienerwerbers gegen die Aktiengesellschaft als Insolvenzforderungen ("Wirecard")

Normenketten:
InsO § 38, § 39 Abs. 1 Nr. 5, § 174 Abs. 2, § 179 Abs. 1, § 180 Abs. 1, § 183 Abs. 1, § 199 S. 2
ZPO § 146, § 256, § 280 Abs. 2
BGB § 241 Abs. 2, § 280, § 311 Abs. 2, § 823, § 826
WpHG § 97, § 98
Leitsätze:
1. Ob die Eigenschaft einer Forderung als Insolvenzforderung iSv § 38 InsO ein feststellungsfähiges "(Nicht-)Bestehen eines Rechtsverhältnisses" ist, das nach § 256 Abs. 1 ZPO einer Feststellung zugänglich ist, erscheint zweifelhaft. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen getäuschter Aktionäre gegen die Emittentin sind nicht als Ausfluss der mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehung der Aktionäre anzusehen, sodass den Aktionären insoweit die Stellung Drittgläubiger zukommt. (Rn. 80) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auf arglistiger Täuschung beruhende Schadensersatzansprüche eines derivativen Aktienerwerbers gegen die Aktiengesellschaft sind als Insolvenzforderungen iSv § 38 InsO einzuordnen und unterfallen somit nicht dem Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO. (Rn. 71 – 72) (redaktioneller Leitsatz)
4. Solche Schadensersatzansprüche unterfallen auch nicht dem Nachrang gem. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. (Rn. 123) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der Streit, ob eine angemeldete Forderung eine Insolvenzforderung iSv § 38 ZPO darstellt, ist einem Zwischenurteil nach § 280 Abs. 2 ZPO zugänglich. (Rn. 59) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Insolvenztabelle, angemeldete Forderung, Feststellung, Aktionär, derivativer Erwerb, Schadensersatzanspruch, Täuschung, Insolvenzforderung, Nachrang, Zwischenurteil
Vorinstanz:
LG München I, Endurteil vom 23.11.2022 – 29 O 7754/21
Fundstellen:
ZIP 2024, 2755
MDR 2025, 62
AG 2025, 127
ZIP 2024, 2290
LSK 2024, 24286
BKR 2024, 1058
ZRI 2024, 908
BeckRS 2024, 24286
NZI 2024, 969

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 23.11.2022, Az. 29 O 7754/21, abgeändert.
2. Die zulässige Klage macht gemäß §§ 174, 179 InsO die unter lfd. Nr. 5401 im Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. AG zur Tabelle angemeldeten kapitalmarktrechtlichen Schadensforderungen als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO geltend.
3. Die Berufung des Beklagten zu 1) wird zurückgewiesen.
4. Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
6. Die Revision zum Bundesgerichtshof wird zugelassen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Parteien streiten im Wege der Tabellenfeststellungsklage und Widerklage über das Bestehen und den insolvenzrechtlichen Rang von der Klägerin geltend gemachter kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche, die sie im Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. AG (im Folgenden: Schuldnerin) angemeldet hat.
Zur Klage
2
Derzeit haben ca. 50.000 Aktionäre der Schuldnerin im Insolvenzverfahren Schadensersatzansprüche wegen des Aktienerwerbs in einem Volumen von ca. 8,5 Milliarden EUR zur Insolvenztabelle angemeldet. Insgesamt wurden Gläubigerforderungen im Umfang von ca. 15,4 Milliarden EUR angemeldet. In der Masse befinden sich aktuell ca. 650 Millionen EUR. Für die Anmeldung von solchen „Aktionärsforderungen“ wurde bislang noch kein allgemeiner Prüfungstermin angesetzt und nur die Anmeldung der Klägerin vorgezogen geprüft. Den Schwerpunkt des vorliegenden Verfahrens bildet die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Rechtsfrage, ob kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche, wie sie die Klägerin hier beispielhaft verfolgt, Insolvenzforderungen nach § 38 InsO darstellen. Davon hängt es ab, ob und welche Quote andere Insolvenzgläubiger, die hier in der Person der Beklagten zu 2) repräsentiert sind, erwarten können.
Zu den Klageforderungen
3
Die Klägerin ist eine deutsche Kapitalanlagegesellschaft und verwaltet u.a. die im Folgenden (S. 4 ff) aufgeführten 33 unselbständigen Sondervermögen, für die sie im Zeitraum von 2015 bis zum 12.06.2020 Aktien der Schuldnerin auf dem Sekundärmarkt gekauft und zum großen Teil wieder verkauft hat. Der Beklagte zu 1) ist der durch das Amtsgericht München – Insolvenzgericht – mit Beschlüssen vom 29.06.2020 und 25.08.2020 bestellte Insolvenzverwalter der Schuldnerin (Anlagen B3 und B4). Die Beklagte zu 2) ist durch Beschluss des Amtsgerichts München – Insolvenzgericht – vom 13.11.2020 zur gemeinsamen Vertreterin der Gläubiger der von der Schuldnerin ausgegebenen Schuldverschreibung über EUR 500 Mio mit einer Verzinsung von 0,5 Prozent p.a. (ISIN …Q5) bestellt worden (Anlage B7). Die Schuldnerin war eine im DAX gelistete Aktiengesellschaft, deren Geschäftsgegenstand die Erbringung von Dienstleistungen im (elektronischen) Zahlungsverkehr war.
4
Seit dem Jahr 2005 hatte die Schuldnerin wiederholt in Pressemitteilungen, Interviews, AdhocMitteilungen, Konzernabschlussberichten und anderen Veröffentlichungen am Kapitalmarkt positiv über ihren Geschäftsverlauf berichtet. Am 18.06.2020 informierte die E & Y Gmbh Wirtschaftsprüfungsgesellschaft als Abschlussprüferin der Schuldnerin diese darüber, dass über die Existenz von angeblichen Bankguthaben auf Treuhandkonten der Schuldnerin aus dem sog. Dritt-Partner-Geschäft (“TPA-Geschäft“) in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden EUR keine ausreichenden Prüfungsnachweise zu erlangen seien. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verweigerte in der Folge die Erteilung eines positiven Testates für den Jahresabschluss 2019. Mit am 22.06.2020 veröffentlichter Ad-hoc-Mitteilung (Anlage K 31) teilte die Schuldnerin mit, dass Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von 1,9 Milliarden EUR (1/4 des Gesellschaftsvermögens) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht existierten. Am 25.06.2020 stellte die Schuldnerin Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Dieses wurde durch das Amtsgericht München – Insolvenzgericht – mit Beschluss vom 25.08.2020 – Az. 1542 IN 1308/20 – eröffnet (Anlage B4).
5
Zum 18.06.2020 hielt die Klägerin in insgesamt ... Sondervermögen ... der Schuldnerin (...). ... . Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin meldete die Klägerin am ... die im Folgenden genannten Forderungen als „Schadensersatzforderungen geschädigter Aktionäre aus vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung“ für die von ihr verwalteten unselbständigen Sondervermögen im Rang des § 38 InsO gegenüber dem Beklagten zu 1) zur Tabelle an (Anlage K 1). Zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu 1) besteht Einigkeit dahingehend, dass es das sog. TPA-Geschäft der Schuldnerin, die TPA-Umsatzerlöse und die auf den TPA-Treuhandkonten liegenden Guthabenbestände nie gegeben hat und es sich hierbei um eine Fiktion der damaligen Verantwortlichen der Schuldnerin handelte. Die Beklagte zu 2) erklärt sich hierzu mit Nichtwissen.
6
Zur Herleitung und Begründung der einzelnen Forderungen wird auf das Protokoll der Sitzung am 16.07.2024 (Bl. 337 der Berufungsakten) und den dort beispielhaft dargestellten Transaktionen Bezug genommen.
7
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Forderungsanmeldungen, wobei die zugrundeliegenden Aktienkäufe der Klägerin nach deren durch die Beklagtenseite mit Nichtwissen bestrittener Erklärung (mit Ausnahme des ...) aus dem Zeitraum ab 2018 resultieren:

Sondervermögen

Forderung

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Diese wurden im Prüftermin vom 15.04.2021 durch beide Beklagte jeweils dem Grunde und der Höhe nach in voller Höhe bestritten (Anlagen K 2, B 2).
9
Unter dem Az. 402 Js 150939/20 führt die Staatsanwaltschaft M. I gegen den Streithelfer zu 1), die Streithelferin zu 2) und die weiteren ehemaligen Vorstandsmitglieder der Schuldnerin ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des gewerbsmäßigen Bandenbetrugs, der Untreue, unrichtiger Darstellung und Marktmanipulation in mehreren Fällen (Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft M. I vom 22.07.2020, Anlage K 21).
10
Die Klägerin hat erstinstanzlich im wesentlichen vorgetragen, dass ihre kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen im Rang des § 38 InsO zur Insolvenztabelle festzustellen seien. Die Klägerin stützt die von ihr zur Tabelle angemeldeten Schadensersatzansprüche auf §§ 826, 31 BGB wegen Täuschung über ein tatsächlich nicht existierendes Geschäftsmodell durch die damaligen Vorstände der Schuldnerin und auf vorsätzliche Insolvenzverschleppung. Die Schuldnerin habe gerade das Ziel verfolgt, durch die Insolvenzverschleppung Anleger zum Aktienerwerb zu bestimmen. Darüber hinaus stützt sie die geltend gemachten Schadensersatzansprüche auf § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 400 AktG, § 331 Abs. 1 Nr.1 HGB sowie teilweise auf §§ 97, 98 WpHG. Die Schuldnerin habe ihre Angaben zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage seit 2009 manipuliert und diese manipulierten Daten in ihren Mitteilungen zu den Jahresergebnissen veröffentlicht (Anlagenkonvolut K8). Die entsprechenden Konzernabschlussberichte seien von den Vorständen M.B. und J.M. unterzeichnet worden (Anlagenkonvolut K 10). Im Zeitraum Januar 2014 bis Mai 2020 habe die Schuldnerin eine große Anzahl manipulierter Ad-hoc-Mitteilungen und DGAP-News am Kapitalmarkt veröffentlicht (vgl. Darstellung Klageschriftsatz vom 07.06.2021, Bl. 15 ff d.A.; Anlagenkonvolut K11). Die Schuldnerin sei mindestens seit dem Jahr 2015 überschuldet. Die Vorstände M.B., J.M. und S. S. hätten Kenntnis von dem in Wirklichkeit nicht existenten und lediglich fingierten TPA-Geschäft und den Bilanzmanipulationen auf Ebene der Schuldnerin als Konzernobergesellschaft gehabt. M.B. und J.M. hätten persönliche Vorteile aus dem betrügerischen Geschäftsmodell der Schuldnerin gezogen. Die Klägerin habe die einzelnen Transaktionen für ihre aufgeführten Sondervermögen (Anlage K3) vor dem Hintergrund des von der Schuldnerin am Kapitalmarkt gezeichneten Bildes der Schuldnerin als eines innovativen, erfolgreichen Unternehmens und der von der Schuldnerin veröffentlichten Bilanzen getätigt. Bei zutreffender Informationslage (Nichtexistenz des TPA-Geschäfts) hätte die Klägerin keine Aktien der Schuldnerin gekauft, Indexstrategien seien mit den Fonds nicht verfolgt worden. Hierbei sei der Klägerin ein Vertragsabschlussschaden in geltend gemachter Höhe entstanden. Der Schaden ergebe sich aus der Differenz des Verkaufspreises und des Kaufpreises der Aktie, Dividenden seien schadensmindernd entsprechend den jeweiligen Hauptversammlungsbeschlüssen berücksichtigt worden. Ein Restwert der Aktien sei nicht schadensmindernd zu berücksichtigen, da diese jedenfalls bei Abschluss des Insolvenzverfahrens wertlos seien (vgl. insoweit Schadensberechnung der Klägerin, aufgeschlüsselt nach den einzelnen Sondervermögen, Anlage K3). Hilfsweise werde der Kursdifferenzschaden als Mindestschaden geltend gemacht. Dieser betrage für die von der Klägerin am 18.06.2020 in ihren unselbständigen Sondervermögen noch gehaltenen 73.345 Aktien unter der Annahme eines hypothetischen Kaufpreises pro Aktie in Höhe von EUR 0,02 insgesamt EUR 6.569.455,29 (vgl. Tabelle Schriftsatz vom 28.02.2022 S. 12/13). Sog. Sicherungsgeschäfte habe die Klägerin nicht getätigt, sog. Steuervorteile seien vorliegend nicht anrechenbar.
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Es handele sich bei den von ihr geltend gemachten Schadensersatzansprüchen um persönliche Vermögensansprüche, die nicht erst im Rahmen einer Überschussverteilung nach § 199 S.2 InsO zu berücksichtigen seien. §§ 57, 71 AktG und damit der aktienrechtliche Kapitalerhaltungsgrundsatz seien nach der Rechtsprechung des BGH (Urteil vom 09.05.2005 – II ZR 87/02 –, juris; Beschluss vom 29.05.2006 – II ZR 334/05 – unveröffentlicht, vorgelegt als Anlage K33; Urteil vom 28.01.2020 – II ZR 10/19 –, juris) auf Schadensersatzforderungen getäuschter Aktionäre nicht anwendbar, da diese nicht auf ihrer mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehung, sondern auf ihrer Stellung als Drittgläubiger beruhten; deshalb bestünden auch keine mitgliedschaftlichen Bindungen der getäuschten Aktionäre, die in der Insolvenz fortgelten könnten. Das Verbot der Einlagenrückgewähr gem. § 57 AktG lebe in der Insolvenz der Gesellschaft nicht wieder auf. Es herrsche eine Funktionsgleichheit der insolvenzrechtlichen Rangordnung mit dem Kapitalerhaltungsrecht und der Vorrang des Anlegerschutzes auch in der Insolvenz. Im Zeitpunkt nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens könne ein Anspruch, der vor Insolvenzeröffnung nicht dem kapitalerhaltungsrechtlichen Rückzahlungsverbot unterlegen habe, nicht plötzlich aus gesellschaftsrechtlichem Rechtsgrund im Rang zurückgesetzt werden. Diese Wertungsentscheidung bleibe in der Insolvenz erhalten und werde nicht insolvenzrechtlich überlagert. Die Investitionsentscheidung des Anlegers für eine Investition in Fremd- oder Eigenkapital sei für die Rangordnung von Insolvenzforderungen ohne Bedeutung; es komme auf die zeitlich früher anzusetzende Täuschung an, die dazu führe, dass die Anlegerstellung insgesamt und damit erst recht die dieser zugrundeliegende Investitionsentscheidung unberücksichtigt bleibe. Es sei auch irrelevant, ob die Fehlvorstellungen der Anleger „wertbildende Faktoren ihrer Eigenkapitalinvestition“ oder „die Anlageklasse“ beträfen, die Kapitalmarkthaftung schütze den gesamten Kapitalmarkt unabhängig von der Form des Finanzinstruments. Den streitgegenständlichen Ansprüchen stünden die aktienrechtlichen Vorschriften des Kapitalerhaltungsrechts schon vor der Insolvenz nicht entgegen, sodass aus diesen auch keine fortbestehenden gesellschaftsrechtlichen Bindungen im Fall der Insolvenz resultieren könnten, sie seien von Anfang an nicht mit einer Mitgliedschaft verbunden gewesen. Eine gesetzliche Vorschrift, aus der sich der Nachrang der geltend gemachten Ansprüche ergeben könnte, existiere in der geltenden Insolvenzordnung nicht und sei insbesondere nicht in § 199 S. 2 InsO zu sehen. Der Tatbestand des § 199 InsO sei nicht erfüllt, hingegen aber der des § 38 InsO. Im übrigen führe eine nach-nachrangige Berücksichtigung kapitalmarktrechtlicher Schadensersatzansprüche zu einer Verzerrung der Überschuldungsbilanz und systematischen Wertungswidersprüchen.
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Einerseits könnten die getäuschten Anleger ihre Ansprüche aufgrund der nicht anwendbaren Auszahlungssperre der §§ 57, 71 AktG voll durchsetzen und so ggfs. die Insolvenz der Emittentin erst auslösen; andererseits unterfielen sie nach Ansicht des Beklagten der Regelung des § 199 S. 2 InsO und dürften dieser Auffassung nach nicht in die Überschuldungsbilanz eingestellt werden. Tatsächlich aber seien nur solche Forderungen nicht in die Überschuldungsbilanz einzustellen, die auch außerhalb der Insolvenz nicht uneingeschränkt durchsetzbar seien, was auf die kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche der Klägerin gerade nicht zutreffe. Die Klägerin vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, dass sowohl die Rechtsprechung des EuGH zur Rechtssache „Hirmann“ (Urteil vom 19.12.2013 – C-174/12 –, juris) wie auch Art. 17 MAR verbunden mit dem unionsrechtlichen Effektivitätsgrundsatz belegen, dass die Einordnung der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche als Insolvenzforderungen im Rang des § 38 InsO nach Maßgabe der Systematik des europäischen Kapitalerhaltungsrechts erforderlich seien. Der Anleger trage in der Insolvenz nicht jegliches unternehmerische Risiko der Aktiengesellschaft, sondern nur dasjenige, über das er pflichtgemäß aufgeklärt worden sei. Die von den Beklagten angeführten Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft seien auf Fälle des täuschungsbedingten Aktienerwerbs weder anwendbar, noch könnten sie auf diese übertragen werden. Die Konstellation der mehrgliedrigen Gesellschaft sei nicht vergleichbar mit einem täuschungsbedingten Aktienerwerb am Sekundärmarkt.
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Der Beklagte zu 1) hat erstinstanzlich im wesentlichen vorgetragen, es fehle bereits an einer schlüssigen Darstellung der geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche nach Grund und Höhe. Anhand der Kursverläufe der W.aktie sei nachvollziehbar, dass Aktionäre, die, wie die Klägerin, im Zeitraum zwischen dem 01.10.2015 und 12.06.2020 mit W.aktien gehandelt hätten, durch etwaige Fehler in der seitens der Insolvenzschuldnerin vorgenommenen Kapitalmarktinformationen nicht zwingend einen Verlust erlitten, sondern möglicherweise deshalb erst einen Gewinn generiert hätten. Insbesondere seien sog. dauerinvestierte Anleger von vornherein vom Schutzzweck der Kapitalmarkthaftung wegen Ad-hoc-Pflichtverletzungen ausgenommen. Die Klägerin habe es auch unterlassen, einzelne Aktientransaktionen den behaupteten Ad-hoc-Pflichtverletzungen zuzuordnen, ihr gesamtes Spekulationsverhalten offenzulegen und zu etwaigen Sicherungsgeschäften vorzutragen. Es bestehe keine Veröffentlichungspflicht bei einer Selbstbezichtigung der Vorstandsmitglieder oder des Emittenten. Der Anspruch sei zudem wegen öffentlich bekannter Vorwürfe gegen die Schuldnerin ausgeschlossen, hilfsweise werde die Einrede der Verjährung erhoben. Konkreter Schadens- und Kausalitätsvortrag sei den von der Klägerin als Anlagekonvolut K3 vorgelegten Listen nicht zu entnehmen. Die von der Klägerin angewandte sog. FIFO- (First-in-first-out-) Methode scheide im Rahmen der kapitalmarktrechtlichen Informationsdeliktshaftung aus. Ein etwaiger Kursdifferenzschaden könne nur durch ein Sachverständigengutachten ermittelt werden.
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Die von der Klägerin wegen fehlerhafter Kapitalmarktinformationen geltend gemachten Schadensersatzansprüche stellten keine Insolvenzforderungen dar, sondern in der Mitgliedschaft der Klägerin an der Schuldnerin wurzelnde Ansprüche, sodass die Klägerin als Eigenkapitalgeberin diese Ansprüche, ihr Bestehen unterstellt, nur im Rahmen der Überschussverteilung beanspruchen könne. Höchstrichterlich sowie auch nach der Rechtsprechung des EuGH sei die sog. Rangfrage bislang ungeklärt. Art. 7 Abs. 2 S.2 lit.i) EUInsVO verweise insoweit auf das Recht des zuständigen Mitgliedsstaats. Die von der Klägerin zitierte „EMTV“- Entscheidung des BGH (Az. II ZR 287/02) besage lediglich, dass die Kapitalerhaltungsvorschriften der §§ 57, 71 AktG bei einer werbenden Gesellschaft gegenüber den die getäuschten „Neuaktionäre“ schützenden Vorschriften der §§ 97, 98 WpHG im Wege einer teleologischen Reduktion zurücktreten würden. Hieraus sei nicht abzuleiten, wie die Anlegeransprüche in der Insolvenz zu behandeln seien. Eine methodengerechte Gesetzesauslegung bedinge die Einordnung der klägerischen Ansprüche im „Schlussrang“ nach § 199 S. 2 InsO. Eigenkapitalgeber seien keine „persönlichen Gläubiger“ der Gesellschaft, soweit ihre Rechtsbeziehung zur Gesellschaft dem insolvenzrechtlichen Eigenkapital zuzuordnen sei.
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Ansprüche der Eigenkapitalgeber seien keine Insolvenzforderungen, sondern unterfielen dem § 199 S. 2 InsO, da sie im Hinblick auf die Klägerin untrennbar mit deren Aktionärseigenschaft verbunden seien. Auch der getäuschte Aktionär bleibe Aktionär mit allen Rechten und Pflichten. Er müsse in der Insolvenz das Residualrisikio tragen, da sein Ersatzanspruch unmittelbar aus einer Aktionärsstellung resultiere. Diese Einordnung bedinge, dass die kapitalmarktrechtlichen Ansprüche der Klägerin nicht in die insolvenzrechtliche Überschuldungsbilanz einzustellen seien. Das Insolvenzrecht gebiete eine strikte und zwingende Differenzierung zwischen täuschungsbedingten Ansprüchen der Anleihegläubiger (Fremdkapitalgeber) und der täuschungsbedingt beigetretenen Aktionäre (Eingenkapitalgeber). Diese Überlegungen würden durch die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft bestätigt, die auch auf einen täuschungsbedingten Aktienerwerb der Klägerin Anwendung fänden. Selbst wenn man der Auffassung des Beklagten zu 1) mit der Schlussrangeinordnung der streitgegenständlichen Forderungen nicht folge, so seien diese jedenfalls als nachrangige Insolvenzforderungen analog § 39 Abs. 1 Nr.5 InsO anzusehen.
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Die Zwischenfeststellungswiderklage sei zulässig und begründet. Die insolvenzrechtliche Qualifikation einer zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderung sei nicht vom Streitgegenstand der Tabellenfeststellungsklage umfasst. Die begehrte Feststellung sei vorgreiflich, ihr komme über den Rechtsstreit hinaus Bedeutung zu, z.B. in einem etwaigen Rückforderungsprozess (Dividenden) des Beklagten zu 1) gegen die Klägerin gem. § 134 InsO bzw. § 62 AktG, im Rahmen eines möglichen Einsichtnahmebegehrens der Klägerin in die Prüfberichte der Ernst & Young Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gem. § 321a HGB oder soweit die Klägerin zurückgenommene oder gleichgerichtete Ansprüche zur Insolvenztabelle anmelden sollte.
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Die Beklagte zu 2) hat erstinstanzlich vorgetragen, die streitgegenständlichen Schadensersatzansprüche seien unabhängig von Grund und Höhe nicht zur Tabelle festzustellen, die Klägerin sei gem. § 199 S.2 InsO auf eine Befriedigung aus dem nach der Schlussverteilung verbleibenden Überschuss zu verweisen. Die Rangfrage als „Dreh- und Angelpunkt“ des Verfahrens sei vordringlich zu entscheiden. Hinsichtlich des insolvenzrechtlichen Nachrangs habe sich für die Klägerin ein Risiko verwirklicht, das sie mit ihrer bewussten und täuschungsfreien Entscheidung für eine Investition in das Eigenkapital der Schuldnerin übernommen habe. Die (streitigen) Schadensersatzansprüche der Klägerin sowie auch aller Aktionäre und ehemaliger Aktionäre unterlägen mitgliedschaftlichen Bindungen, die auch in der Insolvenz fortgälten. Der Erwerb der Aktionärsstellung sei „conditio sine qua non“ für die Schadens- und damit für die Anspruchsentstehung. Hieran müsse sich die Klägerin festhalten lassen und könne nicht fiktiv so behandelt werden, als habe sie der Schuldnerin Fremdkapital zur Verfügung gestellt. Maßgeblich für den Rang der geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Ansprüche sei allein eine insolvenzrechtliche Betrachtung. Nach dieser würden originäre Ansprüche aus der Mitgliedschaft und verselbständigte Ansprüche, die mitgliedschaftlichen Bindungen unterlägen, von § 199 S.2 InsO umfasst. Insbesondere kapitalerhaltungs- und haftungsrechtliche Bindungen würden in der Insolvenz zum Schutz der Gesellschaftsgläubiger fortgelten. Da sich die Klägerin täuschungsfrei für die Aktionärsstellung entschieden habe, die mit den höchsten Gewinnchancen, aber auch den höchsten Risiken einhergehe, sei sie eine mitgliedschaftliche Beteiligung mit den entsprechenden Bindungen eingegangen. Diese vorinsolvenzlich übernommene Rechtsstellung innerhalb einer Gesellschaft werde in der Insolvenz beibehalten. Dies stehe im Einklang mit der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft, wonach eine Beteiligung auch im Fall einer arglistigen Täuschung nicht rückwirkend, sondern nur mit Wirkung für die Zukunft als gesellschaftsrechtlicher Abfindungsanspruch aufgelöst und abgewickelt werde. Es stehe auch im Einklang mit dem Grundsatz der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht, wonach u.a. Ansprüche eines Gesellschafters wegen Verletzungen der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht in der Insolvenz kapitalerhaltungsrechtlich gebunden seien. Würde vorliegend die Passivmasse mit den angemeldeten Schadensersatzforderungen der Klägerin und anderer Eigenkapitalinvestoren angereichert, hätte dies die nahezu vollständige Verwässerung der Befriedigungsaussichten der eigentlichen Gläubiger (Arbeitnehmer, Kunden, Lieferanten und sonstiger Fremdkapitalgeber) zur Folge. Im übrigen erklärte sich die Beklagte zu 2) mit Nichtwissen (insbesondere zu den behaupteten Transaktionen, deren Zeitpunkten, dem sog. TPA-Geschäft der Schuldnerin, möglichen Finanzmarktmanipulationen der Schuldnerin, deren Überschuldung und dem Wissen der Vorstandsmitglieder von den Manipulationen) und bestritt die Höhe des geltend gemachten Schadens.
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Nach Auffassung der Klägerin ist die vom Beklagten zu 1) erhobene Zwischenfeststellungsklage gem. § 261 Abs. 3 Nr.1 ZPO unzulässig und jedenfalls unbegründet.
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Die Klägerin beantragte erstinstanzlich, die Forderungen für die von ihr verwalteten streitgegenständlichen 33 Sondervermögen in Höhe von insgesamt EUR ... im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin zur lfd. Nr. ... zur Insolvenztabelle festzustellen (Protokoll vom 05.10.2022, Bl. 575 d.A.). Die Beklagten sowie die Streithelfer beantragten insoweit Klageabweisung (Bl. 575 d.A.). Darüber hinaus stellte der Beklagte zu 1) Zwischenfeststellungswiderklageantrag mit dem Ziel festzustellen, dass die von der Klägerin unter der lfd. Nr. 5401 zur Insolvenztabelle der W. AG angemeldeten angeblichen Schadensersatzansprüche keine Insolvenzforderungen i.S.d. §§ 38, 39 InsO seien, sondern aus der Mitgliedschaft der Klägerin an der W. AG wurzelnde Ansprüche, die allein im Rahmen der Überschussverteilung (§ 199 S.2 InsO) berücksichtigt werden können, darstellen (Schriftsatz vom 17.06.2022, Bl. 531 d.A.). Diesem Antrag hat sich die Beklagte zu 2) angeschlossen (Bl. 575 d.A.).
20
Die Klägerin beantragte die Abweisung der Zwischenfeststellungswiderklage und vertrat die Meinung, dass diese aufgrund entgegenstehender Rechtshängigkeit unzulässig sei (Bl. 575 d.A.).
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Der Beklagte zu 1) hat den ehemaligen Vorständen der Schuldnerin den Streit verkündet (Schriftsatz vom 30.11.2021, Bl. 168 d.A.). Von diesen ist der Streitverkündete zu 1), M.B., mit Schreiben vom 14.03.2022 auf Seiten des Beklagten zu 1) dem Rechtsstreit beigetreten (Bl. 380 d.A.). Die Streitverkündete zu 3), S. S., ist mit Schriftsatz vom 13.05.2022 (Bl. 432 d.A.) auf Seiten der beiden Beklagten dem Rechtsstreit beigetreten.
22
Die Beklagte zu 2) ist der Zwischenfeststellungswiderklage mit Schriftsatz vom 27.07.2022 auf Seiten des Beklagten zu 1) als Nebenintervenientin beigetreten (Bl. 573 d.A.).
23
Wegen weiterer Einzelheiten, auch des erstinstanzlich erfolgten streitigen Vortrags zu Grund und Höhe der von der Klägerin zur Tabelle angemeldeten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr.1 ZPO auf das landgerichtliche Urteil Bezug genommen.
24
Das Landgericht hat mit Urteil vom 23.11.2022, Az 29 O 7754/21, die Klage und die Feststellungswiderklage abgewiesen. Es hat die Feststellungsklage der Klägerin als zulässig, aber unbegründet angesehen. Die von der Klägerin geltend gemachte Forderung sei keine Forderung nach § 38 InsO. Die Klägerin sei keine Drittgläubigerin. Eine Täuschung im Zeitpunkt der Investitionsentscheidung führe nicht dazu, dass die tatsächliche Aktionärsstellung außer Betracht zu bleiben habe, die Gesellschafterstellung der Klägerin sei vielmehr auch in der Insolvenz relevant. Auch aus § 249 BGB folge nicht, dass die Beteiligung der Klägerin insgesamt unwirksam sei. Mit den kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen mache die Klägerin gerade Ansprüche geltend, die auf ihrer Aktionärsstellung beruhten und damit mit der Begründung bzw. dem Vollzug des mitgliedschaftlichen Rechtsverhältnisses in einem Zusammenhang stünden; ein Schaden sei ohne die Erlangung der Aktionärsstellung nicht denkbar. Der kapitalmarktrechtliche Schadensersatzanspruch teile trotz einer gewissen rechtlichen Selbständigkeit die insolvenzrechtliche Qualifikation des Finanzinstruments. In der Insolvenz sei gesellschaftsrechtlichen haftungs- oder kapitalerhaltungsrechtlichen Bindungen der Forderungen Rechnung zu tragen. Anders als bei der werbenden Gesellschaft, bei der der Haftung für kapitalmarktrechtliche Informationspflichtverletzungen jedenfalls bei vorsätzlichem Handeln Vorrang vor dem aktienrechtlichen Kapitalschutz der §§ 57, 71 AktG zukomme und die Haftungsmasse für alle Gläubiger noch ausreichend sei, sei für die insolvente Gesellschaft kein Vorrang der kapitalmarktrechtlichen Haftung vor dem aktienrechtlichen Kapitalschutz anzuerkennen. Dies entspreche den Wertungen des Insolvenzrechts. Diese orientierten sich am Gedanken des Gläubigerschutzes, die Rangverteilung ergebe sich zudem aus der getroffenen Investitionsentscheidung. Vorliegend habe sich ein Risiko verwirklicht, das die Klägerin mit ihrer bewussten Investition in Eigenkapital übernommen habe. Aus der bewussten Entscheidung der Klägerin, in Eigenkapital zu investieren, folge die gesellschaftsrechtliche Bindung der geltend gemachten Schadensersatzansprüche. Die Entscheidung in die Anlageklasse „Eigen- oder Fremdkapital“ sei das entscheidende insolvenzrechtliche Differenzierungskriterium. Die Entscheidung für ihre Anlageklasse habe die Klägerin täuschungsfrei getroffen. Aufgrund dieser Entscheidung habe sie als Aktionärin im Gegensatz zu den in Fremdkapital investierten Anleihegläubigern an den wirtschaftlichen Chancen des Unternehmens partizipieren können. Die Täuschung erfasse lediglich die Werthaltigkeit der Anlage. Die Klägerin müsse sich auch in der Insolvenz an der täuschungsfrei getroffenen Entscheidung für das Eigenkapital festhalten lassen, diese entfalte Wechselwirkungen im Verhältnis der Klägerin zu anderen Investoren, die sich ebenfalls an der Kapitalstruktur der Klägerin beteiligt hätten. Der Grundsatz des Kapitalmarktschutzes und dessen europarechtliche Ausgestaltung in Art. 17 MAR verlangten nicht, dass die Inhaber unterschiedlicher Finanzinstrumente in der Insolvenz zwingend gleich zu behandeln seien. Zwar sei die Ad-hoc-Publizitätspflicht ein wesentliches Instrument zum Schutz des Kapitalmarkts; jedoch komme dem negativen Anreizsystem im Insolvenzverfahren keine wesentliche Wirkung mehr zu, da das wirtschaftliche Scheitern des Emittenten bereits feststehe.
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Die Zwischenfeststellungswiderklage der Beklagten zu 1) sei unzulässig, da die zu klärende Rechtsfrage bereits durch die Entscheidung in der Hauptsache erschöpfend geregelt werde. Ein Teilurteil scheide aus, da sämtliche in der Klage geltend gemachten Ansprüche zur Endentscheidung reif seien, und der Ausspruch über den Zwischenfeststellungsantrag des Beklagten zu 1) auch keine weitergehende rechtliche Bedeutung habe.
26
Gegen das ihr am 25.11.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 22.12.2022 Berufung eingelegt (Bl. 6 d.Berufungsakte, im Folgenden: Akte). Diese hat sie mit Schriftsatz vom 20.01.2023 (Bl. 13 ff d.A.) begründet.
27
Gegen das ihm am 23.11.2022 zugestellte Urteil hat der Beklagte zu 1) am 14.12.2022 Berufung eingelegt (Bl. 1 d.A.). Diese hat er mit Schriftsatz vom 20.01.2023 (Bl 11 ff d.A.) begründet.
28
Die Klägerin wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen. Sie konzentriert ihren Vortrag weiterhin auf rechtliche Ausführungen zur sog. Rangfrage. Danach sieht sie im Kern die von ihr geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche entgegen dem landgerichtlichen Urteil als Insolvenzforderungen i.S.d. § 38 InsO an. Ergänzend zu ihrem in erster Instanz erfolgen Tatsachenvortrag bringt die Klägerin vor, dass der Beklagte zu 1) abweichend von seinem Vorbringen im vorliegenden Verfahren in einem gegen ein Schwesterunternehmen der Klägerin vor dem Landgericht Frankfurt am Main geführten Rechtsstreit (Az. 2-28 O 8/24) vorgetragen habe, dass die W. AG spätestens zum 31.12.2017 realiter überschuldet und seit mindestens 2018 auch zahlungsunfähig gewesen sei.
29
Die Berufung des Beklagten zu 1) sei zurückzuweisen, da die Zwischenfeststellungsklage unzulässig sei.
30
Zu den weiteren Einzelheiten des Vortrags der Klägerin wird auf deren Schriftsätze vom 20.01.2023 (Bl. 13 ff d.A.), 05.06.2024 (Bl. 236 ff d.A.), 25.06. 2024 (Bl. 284 ff d.A.) und 09.08.2024 (Bl. 387 ff d.A.) verwiesen.
31
Die Klägerin beantragt,
I. Das am 23. November 2022 verkündete Urteil der 29. Zivilkammer des Landgerichts München I, Az. 29 O 7754/21, wird abgeändert.
II. Die Forderungen der Klägerin in Höhe von insgesamt EUR ... im Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. AG zur lfd. Nr. … werden – wie in erster Instanz zuletzt beantragt – zur Insolvenztabelle für folgende Sondervermögen wie folgt festgestellt:

Sondervermögen

Forderung

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32
Die Klägerin beantragt weiter, im Wege der Zwischenfeststellungsklage gemäß § 256 Abs. 2 ZPO festzustellen,
dass die von der Klägerin unter der lfd. Nr. … zur Insolvenztabelle der W. AG angemeldeten Forderungen in Höhe von insgesamt EUR ... Insolvenzforderungen im Rang des § 38 InsO sind.
33
Im Hinblick auf die Berufung des Beklagten zu 1) beantragt die Klägerin,
diese zurückzuweisen.
34
Die Klägerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil, soweit dieses die Zwischenfeststellungswiderklage des Beklagten zu 1) abgewiesen hat, und hält die Zwischenfeststellungswiderklage mangels Vorgreiflichkeit für unzulässig, im übrigen auch für unbegründet.
35
Die Klägerin trägt zu ihrer erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Zwischenfeststellungsklage vor, diese sei zulässig. Ihr stünde insbesondere nicht die vom Beklagten zu 1) erhobenen Zwischenfeststellungswiderklage entgegen, da ihre Zwischenfeststellungsklage und die Zwischenfeststellungswiderklage unterschiedliche Streitgegenstände hätten. Im Fall einer Abweisung der negativen Zwischenfeststellungswiderklage des Beklagten zu 1) aus sachlichen Gründen stünde gerade nicht fest, dass die von der Klägerin angemeldeten Forderungen den Rang des § 38 InsO hätten. Die begehrte Feststellung entfalte auch Bedeutung über den hiesigen Rechtsstreit hinaus.
36
Der Beklagte zu 1) beantragt,
Auf die Berufung des Widerklägers wird das Endurteil des Landgerichts München I vom 23. Nov.2022 – Az. 29 O 7754/21 – insoweit aufgehoben, als die Widerklage unter Ziff. 2 des Urteilstenors abgewiesen wurde und wie folgt abgeändert:
„Im Wege der Zwischenfeststellungswiderklage (§ 256 Abs. 2 ZPO) wird festgestellt, dass die von der Klägerin unter der lfd. Nr. ... zur Insolvenztabelle der W. AG angemeldeten angeblichen Schadensersatzansprüche keine Insolvenzforderungen i.S.d. §§ 38, 39 InsO, sondern aus der Mitgliedschaft der Klägerin an der W. AG wurzelnde Ansprüche, die allein im Rahmen der Überschussverteilung (§ 199 S.2 InsO) berücksichtigt werden können, darstellen.“
37
Der Beklagte zu 1) beantragt weiter,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
38
Der Beklagte zu 1) beantragt darüber hinaus,
die Zwischenfeststellungswiderklage der Klägerin wird zurückgewiesen.
39
Der Beklagte zu 1) wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil, soweit es die Klage abgewiesen und die sog. Rangfrage entsprechend der Rechtsauffassung des Beklagten zu 1) entschieden hat. Der Beklagte zu 1) erneuert in diesem Zusammenhang überdies seine Einwendungen, die sich gegen Grund und Höhe der von der Klageseite geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche richten.
40
Der Beklagte zu 1) beanstandet die Abweisung der Widerklage durch das Landgericht als rechtsfehlerhaft. Er wiederholt und vertieft auch in diesem Zusammenhang sein erstinstanzliches Vorbringen.
41
Der Beklagte zu 1) widerspricht der Erhebung der klägerischen Zwischenfeststellungsklage gem. § 533 Nr. 1 ZPO. Er ist der Auffassung, dass diese wegen anderweitiger Rechtshängigkeit gem. § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO unzulässig und überdies unbegründet sei, da es sich bei den behaupteten Forderungen um in der Mitgliedschaft in der W. AG wurzelnde, haftungsrechtlich gebundene Gläubigerrechte im Sinne des § 199 S. 2 InsO und nicht um Insolvenzforderungen im Sinne des § 38 InsO handele.
42
Zu den weiteren Einzelheiten des Vortrags des Beklagten zu 1) wird insbesondere auf dessen Schriftsätze vom 24.01.2023 (Bl. 13 ff), 03.05.2023 (Bl. 145 ff d.A.), 05.06.2024 (Bl. 217 ff d.A.), 25.06.2024 (Bl. 287 ff d.A.), 12.07.2024 (Bl. 333 ff d.A.) und 09.08.2024 (Bl. 369 ff d.A.) verwiesen.
43
Die Beklagte zu 2) beantragt,
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen und die Zwischenfeststellungsklage der Klägerin abzuweisen.
44
Sie beantragt darüber hinaus,
die Frage des insolvenzrechtlichen Rangs der Klageforderungen abzuschichten, den Streitstoff hierauf zu beschränken und darüber vorab zu verhandeln.
45
Im übrigen schließt sich die Beklagte zu 2) als Nebenintervenientin dem Berufungsantrag des Beklagten zu 1) an.
46
Die Beklagte zu 2) verteidigt das erstinstanzliche Urteil, soweit es die Klage abweist und die sog. Rangfrage im Sinne der Beklagten entscheidet. Darüber hinaus hält die Beklagte zu 2) die Berufung des Beklagten zu 1) für begründet.
47
Zu den weiteren Einzelheiten des Vortrags der Beklagten zu 2) wird insbesondere auf deren Schriftsätze vom 24.04.2023 (Bl. 115 ff d.A.), 25.06.2024 (Bl. 264 ff d.A.), 11.07.2024 (Bl. 327 ff d.A.) und 09.08.2024 (Bl. 352 ff d.A.) verwiesen.
48
Der Senat hat Hinweise erteilt mit Verfügungen vom 15.05.2024 (Bl. 212 d.A.) und vom 08.07.2024 (Bl. 322 ff d.A). Im Termin vom 16.07.2024 hat der Senat mit Zustimmung der Parteien durch Beschluss gemäß § 146 ZPO die Verhandlung auf das Angriffsvorbringen der Klägerin, wonach die mit der Klage verfolgten Schadensersatzansprüche nach §§ 174,179 Abs. 1 InsO als Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) durch Anmeldung zur Tabelle geltend gemacht werden können bzw. auf das kontradiktorische Verteidigungsvorbringen der Beklagten zu diesem Punkt, beschränkt (Bl. 338 d.A.).
49
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das erstinstanzliche Urteil, die Ladungsverfügung vom 15.05.2024 (Bl. 212 d.A.), das Sitzungsprotokoll vom 16.07.2024 (Bl. 337 d.A.), den Beschluss vom 16.07.2024 (Bl. 338 d.A.) sowie sämtliche in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
50
Auf die zulässige Berufung der Klägerin hin war im Wege einer Zwischenentscheidung das erstinstanzliche Urteil abzuändern und der „Rang der Klageforderungen nach § 38 InsO“ festzustellen. Das Rechtsmittel des Beklagten zu 1) hat keinen Erfolg. Eine Entscheidung über Grund und Höhe der angemeldeten Schadensersatzforderungen bleibt dem weiteren Verfahren vorbehalten.
A.
51
Der Senat entscheidet über die Klageforderungen vorab durch Zwischenurteil.
52
Die Klage ist zulässig und insbesondere stellen die mit ihr verfolgten Schadensersatzansprüche Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) dar, die zur Tabelle angemeldet werden können. Der Senat entscheidet darüber im Weg des Zwischenurteils (§ 280 Abs. 2 S. 1 ZPO).
53
1. Soweit es um das Vorliegen einer Insolvenzforderung (§ 38 InsO) geht, handelt es sich um eine „Vorfrage“ der von der Klägerin nach dem Widerspruch der Beklagten nach §§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1, 183 Abs. 1 InsO erhobenen (Tabellen-)Feststellungsklage.
54
a) Der Streitgegenstand der Tabellenfeststellungsklage ist nicht restlos geklärt. Nach überwiegender Auffassung bildet diesen das angemeldete Insolvenzgläubigerrecht, d.h. das Haftungsrecht des Gläubigers an der Insolvenzmasse. Ob die Forderung besteht, sie den beanspruchten Rang hat und als Insolvenzforderung zu qualifizieren ist, sind lediglich Vorfragen, die nicht in Rechtskraft erwachsen (Uhlenbruck/Sinz, 15. Aufl. 2019, InsO § 179 Rn. 11; MüKoInsO/Schumacher § 178 Rn. 15 und § 179 Rn. 7; a.A. RGZ 55, 157, 160; Häsemeyer InsR Rn. 22.03). Allein die Forderung gegen den Schuldner als solche (mit dem ihr zugrunde liegenden Lebenssachverhalt), wie dies bei der Feststellungsklage nach § 256 ZPO der Fall wäre, soll dagegen nicht den Gegenstand der Feststellung bilden (so aber Häsemeyer InsR Rn 22.03).
55
Zutreffend ist auf jeden Fall, dass der Bestand der Forderung für die Teilnahme an den Verteilungen nicht genügt, sondern auch ihre Verfolgbarkeit im Insolvenzverfahren (§ 38 InsO) und der beanspruchte Rang (§§ 38, 39 InsO) für den Erfolg der Tabellenfeststellungsklage gegeben sein müssen (Uhlenbruck/Sinz, 15. Aufl. 2019, InsO § 179 Rn. 11). Entsprechend bildet der „Rang“ der angemeldeten und mit der Tabellenfeststellungsklage verfolgten Forderung eine von mehreren Vorfragen des Prozesses.
56
b) Eine isolierte, der Rechtskraft fähige Feststellung zu einzelnen Vorfragen ist im Verfahren der ZPO nur im Rahmen des § 256 ZPO möglich; weitergehende Möglichkeiten eröffnen Spezialgesetze, die ausdrücklich deren Feststellung (sog. Feststellungsziele) ermöglichen (§ 41 Abs. 1 VDuG; § 2 Abs. 1 KapMuG 2024).
57
Ob danach die Eigenschaft einer Forderung als Insolvenzforderung im Sinne von § 38 InsO ein feststellungsfähiges „(Nicht-)Bestehen eines Rechtsverhältnisses“ ist, das nach § 256 Abs. 1 ZPO einer Feststellung zugänglich ist, erscheint zweifelhaft. Ausgehend von dem Grundsatz, wonach Bestand, Rang und Anmeldbarkeit der persönlichen Forderung nur die Bedeutung von Vorfragen haben, auf die sich die Rechtskraftwirkung der Feststellung nicht erstreckt, wird zudem auch ein schutzwürdiges Interesse des Anmelders an einer isolierten Feststellung dieser Fragen verneint (MüKoInsO/Schumacher, 4. Aufl. 2019, InsO § 179 Rn. 7).
58
c) Die Möglichkeit einer neben der Tabellenfeststellung erhobenen (allgemeinen) Feststellungsklage (der Klägerin) oder einer Feststellungswiderklage (des Beklagten zu 1) nach § 256 Abs. 1 ZPO oder § 256 Abs. 2 ZPO („streitig gewordenes Rechtsverhältnis“), mit der über den „Rang“ entschieden werden soll, kann nach Auffassung des Senats jedoch offen bleiben, da hierüber von Amts wegen im Wege des Zwischenurteils entschieden wird. Damit ergeht eine Feststellung im Sinne der Zwischenfeststellungsklage der Klägerin, so dass diesem Antrag – wenngleich aus anderen Erwägungen – im Ergebnis entsprochen wird und eine gesonderte Entscheidung entbehrlich ist. Der gegenläufige Berufungsantrag des Beklagten zu 1) bleibt in der Sache ohne Erfolg, so dass eine gesonderte Entscheidung über seine Zulässigkeit unterbleiben kann (siehe näher unten D.).
59
2. Ein Zwischenurteil (§ 280 Abs. 2 ZPO) kann über die Zulässigkeit der Klage ergehen. Dazu kann im Vorgriff die gesonderte Verhandlung über diese Frage angeordnet werden, was vorliegend ausdrücklich wegen der Rangfrage erfolgte (§ 146 ZPO). Die ZPO lässt zwar nicht (mehr) das Zwischenurteil über jedes selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel (vgl. § 146 ZPO) zu, sondern nur über „prozessuale Vorfragen“ (Zöller/Feskorn § 303 Rn. 6 und 11). Der Streit, ob die angemeldete Forderung eine Insolvenzforderung darstellt, ist in diesem Sinne einem Zwischenurteil nach § 280 Abs. 2 ZPO zugänglich.
60
Die Klage gemäß §§ 179 ff. InsO ist eine echte Feststellungsklage im Sinne des § 256 ZPO. Der Gläubiger erstrebt positive Feststellung (§ 179 Abs. 1 InsO), der Widersprechende negative Feststellung des bestrittenen Insolvenzgläubigerrechts (§ 179 Abs. 2 InsO). Das Feststellungsinteresse des Gläubigers der bestrittenen, nicht titulierten Forderung ergibt sich regelmäßig aus § 189 InsO (MüKoInsO/Schumacher, 4. Aufl. 2019, InsO § 179 Rn. 5).
61
Die umstrittene „Vorfrage“, ob es sich bei den angemeldeten Forderungen der Klägerin um Insolvenzforderungen nach § 38 InsO handelt, kann bei der rechtlichen Beurteilung in einem Prozess sowohl als Element der Begründetheit als auch als Element der Zulässigkeit aufgefasst werden. Die erste Betrachtungsweise würde am Bestand des materiellen Haftungsrechts ansetzen, die zweite am vorgelagerten Rechtsschutzinteresse der Klägerin an der begehrten Feststellung. Beide Erwägungen schließen sich nicht aus und sollten auch nicht kleinteilig gegeneinander ausgespielt werden.
62
Bildet die „Rangfrage“, wie hier, den zentralen Streit des Prozesses, der deswegen als Pilotverfahren ausgewählt und geführt wird, und soll diese Frage nach Auffassung der Parteien vorrangig gerichtlich geklärt werden, so fehlt dem Kläger das grundlegende Feststellungsinteresse an der erstrebten Tabellenanmeldung, wenn sein Anspruch gerade nicht angemeldet werden darf, sondern er mit diesem auf unabsehbare Zeit zurückgestellt wird. Die Tabellenfeststellungsklage wäre dann (auch) unzulässig. Neben dieser formalen Betrachtung sprechen für eine Entscheidung über die Rangfrage als Vorfrage im Wege des § 280 Abs. 2 ZPO die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit, der Prozessökonomie und der prozessualen Waffengleichheit.
63
Der Klageabweisungsantrag der Beklagten erzwingt eine Prüfung der Rangfrage. Nachdem das Landgericht der Sache nach die Verhandlung sogar auf diesen Punkt beschränkte und der Senat dies im Beschluss vom 16.07.2024 förmlich nachgeholt hatte, könnte eine Klageabweisung in der gegenwärtigen Verfahrenssituation unter keinem anderen rechtlichen Gesichtspunkt erfolgen. Über Grund und Höhe der Schadensersatzforderungen wurde bislang noch nicht in einer Weise verhandelt, die ein Endurteil ermöglichen würde. Eine Klageabweisung kann daher (entgegen der Auffassung des Beklagten zu 1) derzeit nur auf die fehlende Eigenschaft der Klageforderungen als Insolvenzforderungen gestützt werden. Wird diese Rechtsfrage aber im Rechtszug unterschiedlich beurteilt, gebietet die Waffengleichheit, der Klägerin in diesem Prozessstadium ebenfalls eine entsprechend klare und für das weitere Verfahren bindende Entscheidung (§§ 303, 318 ZPO) zu ermöglichen. Damit wird der Prozess strukturiert und eine sinnvolle Klärung der vorgelagerten Grundproblematik ermöglicht. Sollten die Klageforderungen nicht aus der Masse befriedigt werden müssen (sondern erst aus einem – theoretischen – Überschuss nach § 199 S. 1 InsO), entfallen Feststellungen zu Grund und Höhe der Einzelforderungen, die aber mit einem ganz erheblichen Aufwand verbunden wären.
64
Schließlich dient die „positive“ Feststellung des Rangs nach § 38 InsO der Rechtssicherheit, weil sich auf diesem Weg der Inhalt der Entscheidung nicht erst über die Auslegung einer Klageabweisung bezüglich der Widerklage ergibt. Bestätigt wird dieser Ansatz auch mit dem Argument des Beklagten zu 1), dass dem Zwischenfeststellungsantrag der Klägerin die frühere Widerklage des Beklagten zu 1) nach § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO entgegenstünde. Dies stellt die Dinge auf den Kopf. Die „Rangfrage“ war als „Vorfrage“ schon mit Klageerhebung Teil des Streitstoffs und sollte in dem dazu ausgelösten Pilotverfahren bejahend oder verneinend, jedenfalls vorrangig geklärt werden; die Einkleidung dieser von allen Parteien gewünschten gerichtlichen Beurteilung entweder als klageabweisendes Endurteil oder als prozessuale Zwischenfeststellung kommt dem am nächsten.
65
3. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig, was zwischen den Parteien nicht weiter streitig ist.
66
a) Die sachliche und örtliche Zuständigkeit lag vor und ist inzwischen einer weiteren Überprüfung ohnehin entzogen (§ 513 Abs. 2 ZPO).
67
b) Die Klageforderungen waren Gegenstand der Anmeldung und Prüfung (vgl. BGH Urteile vom 23.07.2024, Az. II ZR 222/22 und Az. II ZR 206/22).
68
Soweit die Klägerin inzwischen nicht mehr alle angemeldeten Forderungen verfolgt, führt dies nicht zur Unzulässigkeit der Klage. Die Anmeldung selbst ist bestimmt und Grundlage für den Rechtsstreit. Die Forderungsanmeldung, die die Anlagen K1 und K3 umfasste, genügt den Anforderungen des § 174 Abs. 2 InsO.
69
Nach § 174 Abs. 2 InsO sind bei der Anmeldung insbesondere der Grund und der Betrag der Forderung anzugeben. Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 2 InsO sind erfüllt, wenn die Forderung ausreichend individualisiert ist. Zur Angabe des Grundes der Forderung ist die bestimmte Angabe des Lebenssachverhalts, aus dem die Forderung nach der Behauptung des Gläubigers entspringt, erforderlich. Insbesondere bei einer Sammelanmeldung wie vorliegend sind Grund und Betrag der einzelnen Forderungen jeweils ausreichend bestimmt zu bezeichnen (vgl. BGH, Urteil vom 23.07.2024 – II ZR 206/22 – Rn. 29 ff, juris). Die Forderungsanmeldung der Klägerin genügt diesen Anforderungen. Die Klägerin hat in ihrer Forderungsanmeldung vom 26.10.2020 (Anlage K1) das Geschäftsmodell der Schuldnerin sowie die beanstandeten AdhocMitteilungen geschildert. Beigelegt waren G2, G2-1, G2-2 und G2-3 (Anlagen K1 und K3), in denen die Schadensübersichten (Transaktions- und Kursdifferenzschäden) der einzelnen unselbständigen Sondervermögen samt Transaktionsnachweisen sowie Depotbankbestätigungen, getrennt für jeden klagegegenständlichen Fonds, aufgelistet waren. Auf die Schlüssigkeit der Forderungsdarlegung kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
70
c) Die einzelnen Klageforderungen (der 33 Sondervermögen) sind nach diesen Erwägungen auch bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Deren Darstellung (nur) als Anlage zur Klageschrift ist sachgerecht und wurde schon vom Landgericht als zulässige Form des prozessualen Vortrags angesehen; zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist eine Prozesstrennung (§ 145 Abs. 1 S. 1 ZPO) nicht angezeigt. Die Klägerin ist schließlich als Kapitalverwaltungsgesellschaft nach §§ 92, 93 KAGB zur Prozessführung befugt .
B.
71
Das Angriffsvorbringen der Klägerin ist begründet. Ihre streitgegenständlichen kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche sind Insolvenzforderungen nach § 38 InsO. Die Schadenersatzansprüche der Klägerin waren zur Zeit der Insolvenzeröffnung entstanden, richten sich gegen die Schuldnerin und begründen einen vermögensrechtlichen Anspruch (§ 194 Abs. 1 BGB); sie stellen keine „Beteiligung“ der Klägerin an der Schuldnerin nach § 199 S. 2 InsO dar. Ob die Ansprüche dem Grunde und der Höhe nach tatsächlich in dem geltend gemachten Umfang bestehen, ist Gegenstand des (weiteren gerichtlichen) Prüfungsverfahrens nach §§ 179, 180 InsO.
72
Eine von § 38 InsO abweichende Einordnung der mit der Klage verfolgten Ansprüche in abgrenzender Auslegung der Bestimmungen § 38 InsO und § 199 S. 2 InsO ist nach Auffassung des Senats nicht möglich. Das Landgericht ist in seinem Urteil vom 23.11.2022 allerdings aus erwägenswerten Gründen zu dem Ergebnis gekommen, dass die von der Klägerin geltend gemachten Schadensersatzansprüche im Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO einzuordnen sind. Diese sog. Rangfrage (also die Frage, ob getäuschte Aktionäre mit kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen im Insolvenzverfahren über das Vermögen des Emittenten nur mit dem Nach-Nachrang des § 199 S.2 InsO an einem Überschuss teilhaben können, so die Rechtsauffassung der Beklagten, oder ob sie als Insolvenzgläubiger i.S.v. § 38 InsO, so die Rechtsauffassung der Klägerin, oder gemäß § 39 InsO nachrangig am Insolvenzverfahren teilnehmen) ist bislang höchstrichterlich nicht entschieden und in der Kommentarliteratur umstritten (zum Meinungsstand vgl. Jungmann in Karsten Schmidt, InsO, 20. Auflage, 2023, Rn. 3 ff zu § 199; Baumert NZG 2023, 111, 113). Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, insbesondere zur insolvenzrechtlichen Einordnung der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche gem. §§ 97, 98 WpHG existiert nicht. Nach Auffassung des Senats kann ein solcher Nach-Nachrang der gesetzlichen Regelung im Wege der methodengerechten Auslegung nicht entnommen werden, sondern stellt eine rechtspolitische Forderung dar.
73
Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich in der gebotenen Kürze gem. § 313 Abs. 3 ZPO auf die wesentlichen, die Entscheidung tragenden Gedanken. Eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung insbesondere mit den von beiden Seiten vorgelegten Rechtsgutachten ist nicht angezeigt. In diesem Sinn sind für den Senat zur Entscheidung der sog. Rangfrage diese Erwägungen maßgeblich:
74
I. Der bisherige Stand der höchstrichterlichen Rechtsprechung spricht für eine insolvenzrechtliche Einordnung der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche der Klägerin als Insolvenzforderungen gem. § 38 InsO.
75
1. Im Ausgangspunkt hat der BGH in der sog. EMTV-Entscheidung (Urteil vom 09.05.2005 – II ZR 287/02 –, juris) formuliert, dass die (werbende) Aktiengesellschaft, die für die von ihrem Vorstand durch falsche Ad-hoc-Mitteilungen begangenen sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigungen analog § 31 BGB einzustehen habe, eine gesamtschuldnerische Haftung auf Naturalrestitution treffe, die nicht durch die besonderen aktienrechtlichen Gläubigerschutzvorschriften über das Verbot der Einlagenrückgewähr (§ 57 AktG) und das Verbot des Erwerbs eigener Aktien (§ 71 AktG) begrenzt oder ausgeschlossen sei. Dies gelte jedenfalls im Fall der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung nach §§ 826, 31 BGB und eines vorsätzlichen Verstoßes gegen § 400 AktG als anlegerschützendem Gesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB. In den Fällen, in denen wie im vorliegenden, die Klägerin infolge der behaupteten vorsätzlich falschen Ad-hoc-Mitteilungen des Vorstands der Emittentin Aktien durch derivative Umsatzgeschäfte auf dem Sekundärmarkt von dritten Marktteilnehmern erworben habe, beruhten ihre entsprechenden Schadensersatzforderungen nicht in erster Linie auf ihrer – durch die unerlaubten Handlungen des Vorstands erst begründeten – mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehung als Aktionär, sondern auf ihrer Stellung als Drittgläubiger. Die deliktische Haftung der Aktiengesellschaft knüpfe an die Verletzung von gesetzlichen Publizitätspflichten an, die der Emittentin in erster Linie zum Schutz der Funktionsfähigkeit des (sekundären) Kapitalmarkts auferlegt worden seien. Das Gesellschaftsvermögen werde durch die Belastung mit einer derartigen Schadensersatzverbindlichkeit nicht anders als bei sonstigen deliktischen Ansprüchen außenstehender Gläubiger in Anspruch genommen. Es bestehe im Fall der kapitalmarktbezogenen sittenwidrigen Beeinträchtigung der Willensfreiheit des Anlegers durch den Vorstand kein Anlass, die Gesellschaft wegen des aktienrechtlichen Vermögensbindungsgrundsatzes von jeglicher Ersatzverpflichtung freizustellen oder auch nur die Haftung auf das sogenannte freie Vermögen zu beschränken.
76
Zwar bezieht sich die Entscheidung auf die werbende Aktiengesellschaft außerhalb der Insolvenz. Sie ist jedoch für die Beantwortung der streitgegenständlichen Rangfrage von Bedeutung, sofern sie definiert, dass die Klägerin mit ihren behaupteten Schadensersatzansprüchen, die auf einer Täuschung der Organe der Schuldnerin bei dem hier ausschließlich erfolgten derivativen Aktienerwerb der Klägerin beruhen, der Gesellschaft wie „ein außenstehender Dritter“ gegenübersteht.
77
2. Vergleichbares hat der EuGH im sog. Hirmann – Urteil auf europarechtlicher Ebene ebenfalls für die werbende Aktiengesellschaft entschieden (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2013 – C-174/12, Rn. 43 ff, juris). Der EuGH hat die Frage, ob der aktienrechtliche Grundsatz der Kapitalerhaltung die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen der Aktionäre gegen „ihre“ Aktiengesellschaft, insbesondere von Ersatzansprüchen aus der Prospekthaftung bzw. Kapitalmarktinformationshaftung ausschließt, verneint. Darüber hinaus hat er zu dem in Art. 42 der Zweiten RL 77/91/EWG verankerten Gleichbehandlungsgrundsatz der Aktionäre festgestellt, dass sich Aktionäre, denen wegen einer von der Gesellschaft vor oder beim Erwerb ihrer Aktien begangenen Pflichtwidrigkeit ein Schaden entstanden sei, nicht in derselben Lage befänden wie Aktionäre derselben Gesellschaft, deren Rechtsstellung von dieser Pflichtwidrigkeit nicht berührt sei (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2013, a.a.O., Rn. 30, juris).
78
3. Unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die unter Ziffer B.I.1a) zitierte EMTV-Entscheidung hat der BGH mit Beschluss vom 19.05.2022 (Az. IX ZR 67/21, im Anschluss an den unveröffentlichen Hinweisbeschluss des BGH vom 29.06.2006 – II ZR 334/05) die Grundsätze der EMTVEntscheidung für die Konstellation der betrügerischen Veranlassung eines Anlegers zum Erwerb nachrangiger Genussrechte in die Situation der Insolvenz übertragen. Wörtlich heißt es insoweit (BGH, Beschluss vom 19.05.2022, a.a.O., Rn.5):
„Derartige Schadensersatzforderungen des durch Betrug bzw. arglistige Täuschung zum Vertragsschluss verleiteten Anlegers haben ihre Wurzel nicht in dem Vertrag selbst, sondern in den schädigenden Ereignissen, die erst zum Abschluss des Vertrages mit der betreffenden nachteiligen Nachrangklausel führten. Der solchermaßen geschädigte Anleger ist in seiner Eigenschaft als Drittgläubiger betroffen (vgl. dazu auch Senatsurteil vom 9. Mai 2005 – II ZR 287/02, ZIP 2005, 1270 – EMTV) und als solcher im Wege des Schadensersatzes gemäß § 249 BGB (Naturalrestitution) so zu stellen, als hätte er die Anlageentscheidung nicht getroffen; er kann also die Befreiung von dem abgeschlossenen Vertrag und Ersatz seiner Aufwendungen verlangen.“
79
Der BGH hat weiter ausgeführt, dass sich auch nichts anderes ergeben würde, wenn man die im entschiedenen Fall emittierten Genussrechte aufgrund ihrer vertraglichen Ausgestaltung und der vereinbarten Verlustbeteiligung wie eine stille Beteiligung zu behandeln hätte. Zwar seien die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft dann grundsätzlich anwendbar, diese stünden aber einem Anspruch auf Rückgewähr der Einlage nicht entgegen, wenn der Vertragspartner des stillen Gesellschafters verpflichtet sei, diesen im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als hätte er den Gesellschaftsvertrag nicht abgeschlossen und seine Einlage nicht geleistet. Demjenigen, der sich aufgrund einer Verletzung der Aufklärungspflicht oder auf sonstige Weise (Eingehungsbetrug) schadensersatzpflichtig gemacht habe, dürfe es nicht zugutekommen, dass er gleichzeitig auch an dem mit dem geschädigten Anleger geschlossenen Gesellschaftsvertrag beteiligt sei (Beschluss vom 19.05.2022, a.a.O., Rn. 6).
80
4. Aus den vorgenannten Entscheidungen ist ersichtlich, dass zum einen kapitalmarktrechtliche Ansprüche getäuschter Aktionäre gegen die Emittentin (außerhalb der Insolvenz) nicht als Ausfluss der mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehung der Aktionäre anzusehen sind (so die Beklagten, die daraus eine Einordnung im Nach-Nachrang nach § 199 S. 2 InsO in der Insolvenz der Gesellschaft vornehmen wollen), sondern den Aktionären die Stellung sog. Drittgläubiger zukommt (EMTV-Entscheidung, BGH II ZR 287/02). Darüber hinaus ist auch der durch arglistige Täuschung erst zur Zeichnung seiner Anlage bestimmte Anleger in der Insolvenz der Gesellschaft „in seiner Eigenschaft als Drittgläubiger“ betroffen (BGH, Beschluss vom 19.05.2022, IX ZR 67/21) mit der Folge einer insolvenzrechtlichen Einordnung als Insolvenzforderung gem. § 38 InsO. Daraus sind mehrere Schlussfolgerungen zu ziehen:
81
a) Die Grundsätze der EMTV-Entscheidung gelten nicht allein für die werbende Gesellschaft, sonst wären diese in der die Insolvenzkonstellation betreffenden Entscheidung des BGH vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 – nicht ausdrücklich zitiert worden. Der Einwand der Beklagten, dass die Entscheidung des BGH vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 – für die Ersatzansprüche getäuschter Aktionäre in der Insolvenz irrelevant sei, überzeugt daher nicht. Der BGH stellt auch in der Insolvenz der Gesellschaft auf die Begründung des Schadensersatzanspruches des Anlegers ab und definiert die Stellung des geschädigten Anlegers als „Drittgläubiger“ durch den Umstand, dass dessen Schadensersatzforderungen nicht im Vertrag wurzeln, sondern in den schädigenden Ereignissen, die den Anleger erst zum Abschluss des Vertrags bestimmt haben. Den Entscheidungen ist weiter zu entnehmen, dass der BGH auch in der Situation der Insolvenz der Gesellschaft nicht differenziert zwischen der Entscheidung des geschädigten Anlegers in sog. Eigen- oder Fremdkapital, worauf die Beklagten bei ihrer rechtlichen Einordnung der sog. Rangfrage maßgeblich abstellen. Zwar bezieht sich die Entscheidung des IX. Senats vom 19.05.2022 (IX ZR 67/21) auf den arglistig geschädigten Genussrechtsinhaber in der Insolvenz der GmbH und damit auf einen in Fremdkapital investierten Anleger. Der BGH verweist jedoch, wie ausgeführt, in dieser Entscheidung, die den Rang der Schadensersatzansprüche des geschädigten Anlegers in der Insolvenz der Gesellschaft betrifft, ausdrücklich auf die bereits mehrfach zitierte EMTV-Entscheidung, die den arglistig getäuschten Aktionär der werbenden Aktiengesellschaft betrifft.
82
Bei der Einordnung der kapitalmarktlicher Schadensersatzansprüche, die auf einer arglistigen Täuschung von Organen der Gesellschaft beruhen, kommt es entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten nicht auf die Frage an, in welche Anlageklasse (Eigen- oder Fremdkapital, Genussrechtskapital oder Aktien) die Investition des getäuschten Anlegers erfolgt ist. Als Folge hiervon sind auch die mit der Anlageklasse verbundenen Rechte, bei Aktionären u.a. das Dividenden- und das Stimmrecht sowie allgemein-wirtschaftlich die Gewinnerwartung des Aktionärs, als Differenzierungskriterium für die insolvenzrechtliche Einordnung der geltend gemachten Schadensersatzansprüche ohne entscheidende Relevanz. Dies gilt auch für die Überlegung der Beklagtenseite, dass mit dem Aktienerwerb in der Regel eine Gewinnerwartung des Aktionärs verbunden sei, was aus wirtschaftlicher Sicht ein entscheidungserhebliches Differenzierungskriterium sei. In gleicher Weise irrelevant ist demnach die von der Beklagtenseite vorgenommene Aufspaltung der Täuschung des Aktionärs in einen täuschungsbeeinflussten Teil, der die Werthaltigkeit der Anlage betreffe, und einen täuschungsfreien Teil, der die Investitionsentscheidung in die Anlageklasse betreffe. Diese Differenzierung lässt sich den hier thematisierten BGH – Entscheidungen nicht entnehmen (und auch nicht den weiteren Entscheidungen OLG Bamberg, Urteil vom 08.06.2005 – 8 U 75/04 – und dem daraufhin ergangenen unveröffentlichten Hinweisbeschluss des BGH vom 29.05.2006 – II ZR 334/05 –, vorgelegt als Anlage K 33).
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Im Gegenteil ist aus der Tatsache, dass der IX. Zivilsenat des BGH in der Entscheidung vom 19.05.2022 (IX ZR 67/21) ausdrücklich auf die EMTV-Entscheidung verweist und diese zum Bestandteil seiner Gründe macht, der Schluss zu ziehen, dass in der Insolvenz der Gesellschaft für die Einordnung der Schadensersatzansprüche der auf betrügerische Weise zum Erwerb der Anlage veranlassten Anleger weder die Investitionsentscheidung in die Anlageklasse, differenziert nach Eigen- oder Fremdkapital, noch die Differenzierung innerhalb der Täuschung in einen täuschungsbedingten und einen täuschungsfreien Teil der Entscheidung vorzunehmen ist. Auch im entschiedenen Fall (BGH IX ZR 67/21) hat der Anleger die Entscheidung hinsichtlich der Nachrangigkeit des Genussrechtskapitals irrtumsfrei getroffen; getäuscht wurde er über die Entwicklung der Einnahmen der Gesellschaft und die Prosperität des Anlageunternehmens (vgl. im Vorausgang zu BGH, Beschluss vom 19.05.2022, IX ZR 67/21: OLG Frankfurt, Urteil vom 31.03.2021 – 29 U 58/20 – Rz. 46, 59, juris). Im übrigen erachtet der Senat eine Aufspaltung der Täuschung in einen täuschungsbeeinflussten und einen täuschungsunbeeinflussten Teil vor dem Hintergrund, dass die Klägerin (nach deren hier maßgeblichen Sachvortrag) und der typische Aktionär die Aktien bei zutreffender Information des Vorstands der Schuldnerin über die tatsächliche wirtschaftliche Lage der W. AG nicht erworben hätten, für untauglich und lebensfremd.
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b) Der BGH hat in den genannten Entscheidungen, insbesondere in einer Zusammenschau der sog. EMTV-Entscheidung (II ZR 287/02) und dem Beschluss vom 19.05.2022 (IX ZR 67/21), der der EMTV-Entscheidung Bedeutung über den Zustand der werbenden Aktiengesellschaft hinaus für die Insolvenz gibt, die Position der Schadensersatzansprüche der auf dem Weg zum (derivativen) Erwerb getäuschten Anleger (und durch ausdrücklichen Verweis auch: Aktionäre) klar umrissen und ihnen zugebilligt, dass sie der Gesellschaft in der Eigenschaft von Drittgläubigern gegenüberstehen. Eine „insolvenzrechtliche Überlagerung“ der EMTVEntscheidung oder eine insolvenzrechtliche Zäsur, die die Beklagtenseite postuliert, hat der IX. Senat, der diese Entscheidung gerade für die Fallkonstellation der Insolvenz ausdrücklich zitiert, offensichtlich nicht gesehen. Auch den Aspekt, dass der Kapitalmarktschutz bei einer in der Insolvenz befindlichen Gesellschaft im Gegensatz zur werbenden Gesellschaft möglicherweise nur noch ein untergeordnetes Kriterium darstellt, hat der BGH nicht thematisiert. Die Schadensersatzforderungen der durch Betrug bzw. arglistige Täuschung zum Vertragsschluss verleiteten Anleger (und Aktionäre) haben ihre Wurzel gerade nicht in dem Vertrag selbst, sondern in den schädigenden Ereignissen, die erst zum Abschluss des Vertrags führten. Dem Schutz der Willensfreiheit des Aktionärs vor einer kapitalmarktbezogenen sittenwidrigen Beeinträchtigung wird primäre Bedeutung und Vorrang vor den aktienrechtlichen Kapitalerhaltungsgrundsätzen eingeräumt (vgl. BGH, Beschluss vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 –, Rn. 5). Es ist daher auch kein Raum für die Überlegungen der Beklagten, wonach in der vorliegenden Konstellation der arglistig geschädigten Aktionäre in der Insolvenz diese Aktionäre weiterhin als Gesellschafter und nicht als Drittgläubiger zu behandeln seien und es sich bei den Schadensersatzansprüchen des auf dem Weg zur Beteiligung arglistig getäuschten Aktionärs um sog. „Gläubigerrechte“ handele, die sich dadurch von reinen Drittgläubigerrechten unterschieden, dass sie trotz ihrer Verselbständigung ihren gesellschaftsrechtlichen Sinngehalt behalten hätten und weiterhin gesellschaftsrechtlichen Bindungen unterlägen (so BGH, Urteil vom 28.01.2020 – II ZR 10/19 – Rn. 26 ff für die Abfindungsforderung eines vor der Insolvenz ausgeschiedenen Gesellschafters einer GmbH & Co. KG in der Insolvenz der Gesellschaft). Auch wenn es sich bei der Differenzierung nach sog. „Gläubigerrechten“ um neben den „Drittgläubigerrechten“ und „mitgliedschaftlichen Rechten“ in der Insolvenz um eine dritte Differenzierung (“Zwischenstellung“) handelt, die ebenso wie die „mitgliedschaftlichen Rechte“ zu einer insolvenzrechtlichen Einordnung gem. § 199 S. 2 InsO führen, hat der IX. Senat in der zitierten Entscheidung vom 19.05.2022 (BGH IX ZR 67/21), in der er die EMTV-Entscheidung in die Insolvenzsituation transferiert hat, die Schadensersatzansprüche der auf dem Weg zur Anlage getäuschten Anleger gerade nicht als „Gläubigerrechte“ mit fortbestehenden mitgliedschaftlichen Bindungen definiert, sondern als „Drittgläubigerrechte“ (mit der Folge des Rangs nach § 38 InsO). Soweit der BGH im Urteil vom 28.01.2020 (Az. II ZR 10/19, Rn. 17) die fortbestehenden kapitalerhaltungsrechtlichen Bindungen nach §§ 30, 31 GmbHG analog für den ausgeschiedenen Gesellschafter betont wie auch dessen fortbestehende Finanzierungsverantwortung, ergeben sich aus den hier relevanten Entscheidungen (BGH II ZR 282/22 und BGH IX ZR 67/21) keinerlei entsprechende Anhaltspunkte, das Gegenteil ist der Fall.
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Für die Übertragung der Entscheidung des BGH vom 28.01.2020 (II ZR 10/19, Rn. 28 ff) auf den vorliegenden Sachverhalt besteht kein Raum. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund des weiteren Unterschieds, dass der dortige ausgeschiedene Gesellschafter nicht durch arglistige Täuschung zur Aufnahme der Gesellschafterstellung bestimmt wurde, im Gegensatz zur Klägerin, die ihre Aktionärsstellung täuschungsbedingt übernommen hat. Vor diesem Hintergrund sind die von der Klägerin geltend gemachten kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche als sog. Drittgläubigerrechte (§ 38 InsO) einzuordnen und nicht als sog. Gläubigerrechte oder mitgliedschaftliche Rechte mit der Folge der insolvenzrechtlichen Berücksichtigung im NachNachrang des § 199 S. 2 InsO. Der BGH hat mit seinen vorgenannten Entscheidungen (EMTV, II ZR 287/02, und Beschluss vom 19.05.2022, IX ZR 67/21) gerade die mitgliedschaftlichen Bindungen der Schadensersatzansprüche auf dem Weg zur Zeichnung der Anlage getäuschter Anleger aufgehoben bzw. verneint. Der Auffassung des Beklagten zu 1), wonach es in der Insolvenz auf die materiell-rechtliche Anspruchsgrundlage des geltend gemachten Schadensersatzanspruchs nicht mehr ankomme, ist entgegenzuhalten, dass in der Insolvenz die materiell-rechtlichen Ansprüche der Gläubiger befriedigt werden sollen (§ 1 S. 1 InsO) und diese so, wie sie sind, Gegenstand des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners werden und zur Tabelle angemeldet werden (§§ 174, 178 f InsO).
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II. Die Auffassung der Beklagtenseite, wonach die Klägerin als geschädigte Aktionärin in der Insolvenz als Residualberechtigte das sog. Residualrisiko trage, gesellschaftsrechtliche Bindungen aus Haftungs- und Kapitalerhaltungsgründen wiederauflebten und deshalb ihre Schadensersatzansprüche dem Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO zuzuweisen seien, überzeugen den Senat auch deshalb nicht, weil zwischen dem Schadensersatzanspruch und einer bestehenden Aktionärsstellung kein „zwingender“ Zusammenhang besteht.
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1. Selbstverständlich entstehen die Schadensersatzansprüche der Klägerin wegen des Erwerbs von Aktien der Schuldnerin (und nicht wegen des Erwerbs von Aktien einer anderen AG). Die Auffassung der Beklagten, wonach die Aktionärsstellung der Klägerin deswegen „conditio sine qua non“ für den geltend gemachten Schadensersatzanspruch und deshalb mit der mitgliedschaftlichen Stellung der Klägerin „untrennbar“ verbunden sei bzw. in ihr „wurzele“, kann daraus aber nicht gezogen werden. Genauso wenig verfängt die These der Beklagten, wonach Gegenstand des Schadens die Mitgliedschaft sei und die streitgegenständlichen kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche auf teilweise (Rück-)Abwicklung der Mitgliedschaft gerichtet seien. Der von der Klägerin verfolgte Vermögensschaden besteht vielmehr im Gesamtvermögensvergleich im Vermögen der jeweiligen Sondervermögen mit und ohne das schädigende Ereignis.
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Zutreffend ist der Ausgangspunkt der Beklagten, wonach Mitgliedschaftsrechte von Gesellschaftern bzw. Aktionären in der Insolvenz der Gesellschaft keine Insolvenzforderungen begründen (allgemeine Meinung, vgl. u.a. BGH, Urteil vom 28.01.2020 – II ZR 10/19 – Rz. 27 m.w.N.; Uhlenbruck/Sinz InsO, § 38 Rn. 8; MükoInso/Ehricke/Behme, 4. Aufl., § 38 Rn. 63 m.w.N.) und ihre Einlagen vielmehr bei den Kapitalgesellschaften das haftende Eigenkapital begründen (vgl. Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, Rn. 143 zu § 11). Gegenstand der vorliegenden Tabellenanmeldung sind aber keine mitgliedschaftlichen Rechte der Aktionäre, sondern Schadensersatzansprüche aufgrund deliktischen Handelns des Vorstands als Organ der Insolvenzschuldnerin bei Erwerb der Aktien. Auch die Mitglieder können grundsätzlich aus Delikt in der Insolvenz der Gesellschaft Insolvenzgläubiger sein (vgl. Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, Rn. 143 zu § 11).
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Für diesen Fall folgt, wie unter Ziffer B.I.1. ausgeführt, aus den zitierten BGH-Entscheidungen als „case law“ zur Überzeugung des Senats, dass der BGH die sog. mitgliedschaftlichen Bindungen der Ersatzforderungen der in deliktischer Weise auf dem Weg zur Aktionärsstellung geschädigten Aktionäre aufgehoben bzw. verneint hat. Die gesicherte BGH-Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall zu übertragen (“concurring“), Anlass für eine Unterscheidung (“distinguishing“) besteht nicht.
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Jedenfalls die auf §§ 823 Abs. 2, 826, 31 BGB gestützten Schadensersatzansprüche (insbesondere soweit diesen eine arglistige Täuschung durch die ehemaligen Vorstände der Schuldnerin zugrunde liegt) sind von der (gesellschaftsrechtlichen) Aktionärsstellung der Klägerin ohnehin entkoppelt. Deliktsschuldverhältnisse sind schon mit der schädigenden Handlung begründet und nicht erst mit Schadenseintritt (Sinz in Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage, 2019, Rn. 42 zu § 38). Die Aktionärsstellung der Klägerin beruht (erst) auf dem dinglichen Rechtsgeschäft der Aktienübertragung. Dieses ist gegenüber dem zugrunde liegenden schuldrechtlichen Grundgeschäft, dem auf den derivativen Aktienerwerb gerichteten Kauf, dessen Erfüllung es dient, ein gesondertes Rechtsgeschäft und in seiner Geltung unabhängig (Abstraktionsprinzip, vgl. Herrler in Grüneberg, 83. Aufl, 2024, Einl. vor § 854, Rn. 13). Der Schaden liegt bereits in der sittenwidrigen Herbeiführung und dem Abschluss des so nicht gewollten Vertrags, d.h. der Belastung mit einer ungewollten Verpflichtung, ist nicht identisch mit der Aktionärsstellung und dieser vorgelagert (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 – VI ZR 252/19 –, Rz. 44 ff; Sprau in Grüneberg, 83. Aufl., 2024, Rz. 15, 20a zu § 826 BGB). Der Schadensersatzanspruch der Klägerin besteht im Fall einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung durch die Vorstände der Schuldnerin also in der Belastung mit einer „ungewollten Verbindlichkeit“ und in dem darauf aufbauenden Gesamtvermögensvergleich. Die Klägerin (bzw. die durch diese vertretenen Sondervermögen) ist bereits durch den schuldrechtlichen Erwerb der Kapitalanlage geschädigt, bevor sie überhaupt die Aktionärsstellung erlangt hat; Anknüpfungspunkt für den Schaden ist grundsätzlich der auf einer Aufklärungspflichtverletzung beruhende Abschluss eines für den Anleger nachteiligen, weil seinen Vermögensinteressen nicht entsprechenden, schuldrechtlichen Vertrags über die Beteiligung (vgl. auch BGH, Beschluss vom 26.03.2019 – XI ZR 372/18 – Rn. 14). Die Aktionärsstellung der Klägerin ist damit nicht „conditio sine qua non“ für die geltend gemachten Ersatzansprüche und die erworbene Mitgliedschaftsstellung ist auch nicht Voraussetzung für den Schaden. Der eingeklagte Vermögensschaden wurzelt nicht in der mitgliedschaftlichen Stellung der Klägerin als Aktionärin oder ist sonst untrennbar mit dieser verbunden, was sich insbesondere schon daran zeigt, dass die Klägerin auch Schadenspositionen verfolgt, bei denen das Sondervermögen nicht mehr über Aktien der Schuldnerin verfügt.
91
Diese Einordnung wird auch durch die allgemein vertretene Rechtsauffassung gestützt, wonach bei der insolvenzrechtlichen Einordnung von Schadensersatzansprüchen sowohl bei Ansprüchen aus unerlaubter Handlung als auch bei Schadensersatzansprüchen aus c.i.c. (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2 BGB) darauf abzustellen ist, ob bereits vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Schuldner (oder dessen Organe) eine unerlaubte Handlung begangen hat, infolge derer ein deliktsrechtlich geschütztes Rechtsgut verletzt worden ist (Haftungsbegründung), wohingegen es nicht erforderlich ist, dass auch der aus dieser Rechtsgutsverletzung resultierende Schaden vor Eröffnung des Verfahrens bereits eingetreten ist (Haftungsausfüllung): Sind die Verletzungshandlung und die Rechtsgutsverletzung vor Verfahrenseröffnung bewirkt, wie vorliegend, so sind alle daraus erwachsenden Schadensersatzansprüche Insolvenzforderungen i.S.d. § 38 InsO (vgl. u.a. Ehricke/Behme in Müko InsO, 4. Auflage, 2019, Rn. 32, 33 zu § 38; Sinz in Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage, 2019, Rn. 412 zu § 38; Kirchner in BeckOK InsO, 15.04.2024, Rn. 27 zu § 38). Die Entstehung des Schadensersatzanspruchs ist damit der Entstehung der mitgliedschaftlichen Rechte zeitlich vorgelagert. Dies spricht dagegen, den kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzanspruch der Klägerin die insolvenzrechltiche Qualifikation des Finanzinstruments teilen zu lassen, wovon das Landgericht ausgegangen ist.
92
Diese Schadensersatzansprüche sind auch in der Insolvenz nicht kapitalerhaltungsrechtlich gebunden. Der Ersatzanspruch hat seine Wurzel nicht in dem Gesellschaftsvertrag, sondern in den schädigenden Ereignissen, die zur schädigenden Vermögensdisposition führten (vgl. BGH, Beschluss vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 – Rn. 5, juris). Die „auf dem Weg zur Aktionärsstellung“ geschädigten Aktionäre haben es auch nicht in der Hand, bei entsprechendem Quorum genau die Organe zu bestimmen, durch die sie zuvor getäuscht wurden, so dass das Argument der Beklagten, die auf das Stimmrecht der Aktionäre im Gegensatz zu den Fremdgläubigern verweisen, hier nicht verfängt.
93
2. Eine (gegenüber den Ansprüchen aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB) abweichende Beurteilung der „Rangfrage“ ist auch nicht für die auf §§ 97, 98 WpHG gestützten Schadensersatzansprüche geboten und eine entsprechende Einschränkung in der titulierten Feststellung war deshalb nicht veranlasst.
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Auch diese Ansprüche sind allerdings vom (einheitlichen) Streitgegenstand jedes (nach Antrag und Lebenssachverhalt bestimmten) Klageanspruchs erfasst (Zöller/Vollkommer, 34. Aufl., Einleitung Rn. 67, mehrfach begründeter Anspruch) und müssen auch ihrerseits eine Insolvenzforderung nach § 38 InsO darstellen. Dies ist der Fall.
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Die Schadensersatzpflicht wegen Verletzung der Pflicht zur unverzüglichen Veröffentlichung einer Insiderinformation dient in erster Linie dem Vermögensschutz der Anleger, selbst wenn sie zusätzlich einen generalpräventiven Charakter hat (BGH NJW 2013, 2114) bzw. diese Vorschrift bezweckt „nunmehr auch den Schutz des individuellen Anlegers vor auf unzutreffenden Marktinformationen beruhenden Anlageentscheidungen“ (BGH NJW 2012, 1800 Rn. 56 – IKB; BeckOK WpHR/Buck-Heeb, 12. Ed. 1.7.2024, WpHG § 97 Rn. 9, beck-online), was dem Schutzzweck der Ansprüche aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB entspricht. Auch diese (spezialgesetzlichen) Ansprüche wurzeln nicht in der mitgliedschaftlichen Stellung des Geschädigten als Aktionär der Zielgesellschaft. Zwar knüpft der Wortlaut des § 97 Abs. 1 WpHG an den „Erwerb“ und die „Inhaberschaft“ eines Finanzinstruments an, doch dient dies nur der Beschreibung der tatbestandlichen Haftungssituation, nicht der Zuordnung des Ersatzanspruchs als Teil des Finanzinstruments (vgl. dagegen die Formulierung in 11 U.S. Code § 510 – Subordination). Auch die Rechtsfolge entspricht den Haftungsnormen der §§ 823 Abs. 2, 826 BGB (i.V.m. § 249 Abs. 1 BGB), wenn dort die Ersatzpflicht wegen des durch die Unterlassung entstandenen Schadens angeordnet wird. Außerdem verfolgen §§ 97, 98 WpHG einen Gleichklang bei An- und Verkaufsfällen, was sich mit einer Bindung dieses Anspruchs an das Finanzinstrument nicht vereinbaren lässt. Schließlich erscheint eine Differenzierung zwischen Schadensersatzansprüchen aus §§ 823 Abs. 2, 826 BGB einerseits und aus §§ 97, 98 WpHG andererseits bei der „Rangfrage“ weder systematisch noch von der Entstehungsgeschichte angezeigt. Der Gesetzgeber wollte mit den Vorschriften des WpHG den Anlegerschutz einheitlich stärken, ohne dabei erstmals neue insolvenzrechtliche Sonderregelungen zu treffen. Beide Anspruchsgruppen sind daher in der Insolvenz des Schuldners einheitlich einzuordnen, nach Auffassung des Senats als Insolvenzforderungen nach § 38 InsO.
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III. Anderes ergibt sich auch nicht aus der Auslegung des § 199 InsO anhand seines Wortlauts und seiner systematischen Stellung in der InsO.
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Die eigentliche Bedeutung der Norm liegt in der Totalität der Insolvenzabwicklung. § 199 S. 2 InsO verdeutlicht, dass es dem Gesetzgeber um die Vermeidung einer gesellschaftsrechtlichen Liquidation im Anschluss an ein Insolvenzverfahren ging (BGH, Urteil vom 15.12.2020 – II ZR 108/19 – Rn. 71 ff, juris; Kebekus/Schwarzer in Müko Inso, 4. Aufl. 2019, Rn. 2 zu § 199). Es handelt sich damit nicht primär um eine gesetzliche „Nachrangregelung“, sondern um eine Verlagerung der Überschussverteilung an die Gesellschafter ins Insolvenzverfahren aus Vereinfachungsgründen. Soweit die Beklagtenseite die Auffassung vertritt, aus § 199 S. 2 InsO ergebe sich die gesetzliche Grundwertung, dass die Gesellschafter das Residualrisiko übernehmen würden und ihre Beteiligung Haftkapital darstelle, ist dem grundsätzlich zuzustimmen. Die Überlegung ist jedoch angesichts der bereits erfolgten Ausführungen, wonach der deliktische Schadensersatzanspruch der Klägerin unabhängig von deren Aktionärsstellung besteht und auch nicht „denknotwendig mit dieser verbunden“ ist, sowie den zitierten BGH – Entscheidungen (EMTV Urteil vom 09.05.2005, II ZR 287/02; Beschluss vom 19.05.2022, IX ZR 67/21), in denen nach dem Verständnis des Senats die mitgliedschaftlichen Bindungen des Ersatzanspruchs der Klägerin in der Insolvenz mit den Konsequenzen hinsichtlich des Aspekts des Haftkapitals gerade aufgehoben wurden, vorliegend nicht durchgreifend.
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Dieses Ergebnis wird gestützt durch die Möglichkeit, wonach Schadensersatzansprüche auch einen Gesellschafter zum Drittgläubiger machen können. Es ist nicht ersichtlich, dass in diesem Fall der aufgehobenen mitgliedschaftlichen Bindungen der getäuschten Aktionäre außerhalb der Insolvenz innerhalb der Insolvenz diese Bindungen wieder aufleben und man auch im Hinblick auf die so getäuschten Aktionäre den Grundsatz des Anlegerschutzes vor Gläubigerschutz postulieren kann, denn diese (sittenwidrig) getäuschten Gläubiger sind selbst Drittgläubiger. § 199 InsO selbst enthält keine explizite Regelung dergestalt, wonach die außerhalb der Insolvenz aufgehobenen mitgliedschaftlichen Bindungen in der Insolvenz wieder eingreifen und das Insolvenzrecht gesellschaftsrechtliche Wertungen, die der BGH, wie ausgeführt, mit der Entscheidung vom 19.05.2022 (BGH IX ZR 67/21) in die Insolvenzsituation der Gesellschaft übertragen hat, aufhebt.
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Weder der Regelung des § 199 InsO noch der InsO als Ganzer kann die Position der Beklagtenseite entnommen werden, wonach das Insolvenzrecht das Gesellschaftsrecht „bricht“. Im Gegenteil muss das Insolvenzrecht die im materiellen Recht begründeten Ansprüche und Rechte hinnehmen und abwickeln (s. § 1 S. 1 InsO). Würde man die im Wege der Auslegung gewonnenen Ergebnisse des Haftungs- und Gesellschaftsrechts durch das Insolvenzrecht überlagert sehen und dazu gegenteilige Wertungen vornehmen wollen, die den gesetzlichen Schadensersatzanspruch in der Insolvenz abwerten oder entwerten, wäre eine diesbezügliche gesetzliche Regelung zur Einordnung kapitalmarktrechtlicher Schadenersatzansprüche im Befriedigungssystem der InsO zu erwarten und systematisch geboten (vgl. 11 U.S. Code § 510 – Subordination). Auch sonst finden sich in der InsO ausdrückliche Bestimmungen, wenn diese eigenständig (vom materiellen Recht abweichend) eine eigene insolvenzrechtliche „Einordnung“ des materiellen Rechts vornimmt (§ 55 Abs. 2 S. 2 InsO; § 55 Abs. 4 InsO; § 166 InsO).
100
Eine solche insolvenzrechtliche Bestimmung für die Behandlung kapitalmarktrechtlicher Schadenersatzansprüche fehlt. Insbesondere findet sie sich angesichts des eingangs beschriebenen Normzwecks nicht in § 199 InsO; allein die mit § 199 InsO belegte Offenheit der InsO, solche bestimmte Ansprüche in den Nach-Nachrang zu schieben, genügt nicht. Die Vorschrift des § 199 InsO entfaltet jedoch keinen Regelungsinhalt dergestalt, dass außerhalb der Insolvenz entstandene gesetzliche deliktische Ansprüche diesen Charakter in der Insolvenz dahingehend verändern, dass sie zu (gesellschafts-)vertraglichen Ansprüchen aus einer Mitgliedschaft werden.
101
Wie ebenfalls bereits ausgeführt, hilft hier auch die durch die Beklagtenseite vorgenommene Einordnung der deliktischen Schadensersatzansprüche als „Gläubigerrechte“ und damit Ansprüchen, die trotz ihrer Verselbständigung ihren gesellschaftsrechtlichen Sinngehalt behalten haben (vgl. BGH, Urteil vom 28.01.2020 – II ZR 10/19 – Rn. 29), nicht weiter, denn diese Einordnung ist angesichts des Beschlusses vom 19.05.2022 (IX ZR 67/21) nicht haltbar. Vielmehr kommt danach der Klägerin, die auf dem Weg zum Aktienerwerb durch die ehemaligen Vorstände der Schuldnerin sittenwidrig getäuscht wurde, auch in der Insolvenz die Position der Drittgläubigerin zu mit der Konsequenz, dass ihre Ansprüche als Insolvenzforderungen zu qualifizieren sind und gerade keinen gesellschaftsrechtlichen und kapitalerhaltungsrechtlichen Bindungen mehr unterliegen. Daher streiten auch die Entscheidungen des BGH (Urteil vom 21.04.2005 – IX ZR 281/03 –, Rn. 8, juris; BGH, Urteil vom 14.06.2018 – IX ZR 232/17 –, Rn. 26, juris) nicht für die Rechtsauffassung der Beklagten. Zwar tritt das Insolvenzverfahren bei juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit an die Stelle der gesellschafts- oder organisationsrechtlichen Abwicklung. Die Klägerin ist aber als Schadensersatzgläubigerin, die der Gesellschaft „wie eine außenstehende Dritte“ gegenübersteht, nicht Teil der Gesellschaft, sondern Insolvenzgläubigerin, deren gleichmäßiger Befriedigung zusammen mit allen übrigen Insolvenzgläubigern das Insolvenzverfahren dient (§ 1 S. 1 InsO).
102
Auch das Urteil des BGH vom 04.08.2020, II ZR 174/19, stützt die Position der Beklagten nicht.
103
Zwar hat hier der BGH für die Situation des einem geschlossenen Immobilienfonds beigetretenen Anlegers in der Insolvenz der Gesellschaft entschieden, dass in der Liquidation der Gesellschaft die Anfechtung der Beteiligung wegen Arglist durch einen Gesellschafter ebenso wie dessen außerordentliche Kündigung ausgeschlossen sei. Die fortbestehende gesellschaftsvertragliche Einbindung der Einlage des beigetretenen Gesellschafters habe jedenfalls in der Insolvenz der Gesellschaft auch nicht hinter der Abwicklungsanordnung zurückzutreten. Vielmehr komme in der Insolvenz der gesellschaftsrechtliche Charakter der Einlage als haftendes Kapital zum Tragen, der vorrangig vor der Rückzahlungsanordnung zu berücksichtigen sei und diese insoweit überlagere (vgl. BGH, a.a.O., Rn. 65). Die an dieser Stelle entschiedene Sachverhaltskonstellation unterscheidet sich grundlegend von der vorliegenden. Die Klägerin hat sämtliche Aktien auf dem Sekundärmarkt gekauft (und zum großen Teil wieder veräußert). Sie hat als Erwerberin auf dem Sekundärmarkt gegenüber der Schuldnerin auch keine Anfechtungsmöglichkeit und zur Schuldnerin selbst bestehen keine vorvertraglichen gesellschaftsrechtlichen Beziehungen. Der Schaden der Klägerin bildet sich nicht im Eigenkapital der Schuldnerin ab, die Höhe des Schadensersatzanspruchs steht mit dem Nennwert der Aktie in keinem Zusammenhang.
104
Vor dem Hintergrund, dass in ... der insgesamt ... klagenden Sondervermögen keine Aktien der Schuldnerin mehr enthalten sind, ist auch nicht ersichtlich, dass insoweit „der gesellschaftsrechtliche Charakter der Einlage als haftendes Kapital wieder zum Tragen“ kommen könnte. Der Schadensersatzanspruch dieser Sondervermögen steht insoweit in der Insolvenz der (Schadensersatz-)Schuldnerin nicht im Widerspruch zum Verbot der Einlagenrückgewähr.
105
IV. Wollte man die Rangfrage im Sinne der Beklagten beantworten und die kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche in den Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO einordnen, so ergäben sich erhebliche Ungereimtheiten und ungelöste Widersprüche, was gegen die von den Beklagten verfolgte systematische Abgrenzung der §§ 38, 199 InsO spricht. Vielmehr zeigt sich, dass eine gesetzliche Regelung erforderlich wäre, um die Folgeprobleme aufzulösen und um eine konsistente Regelung zu erreichen. Auch dies spricht gegen eine entsprechende Einordnung der Klageforderungen in den Nach-Nachrang.
106
1. Es fehlt ein Rechtssatz, wonach eine kapitalmarktrechtliche Schadensersatzforderung auf dem Weg zur Aktionärsstellung sittenwidrig geschädigter Anleger außerhalb der Insolvenz anders zu behandeln ist als in der Insolvenz. Die geschädigten Aktionäre können, durch das EMTV-Urteil des BGH entschieden, ihre kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche außerhalb der Insolvenz der Aktiengesellschaft wie außenstehende Dritte und ohne die Restriktionen der §§ 57, 71 AktG geltend machen und durchsetzen. Dies bedeutet bei konsequenter Anwendung im Extremfall, dass die rechtlich zulässige Durchsetzung dieser Schadensersatzansprüche zur Insolvenz der Gesellschaft führen kann (so auch Schlussanträge der Generalanwältin E. S. zur sog. HirmannEntscheidung vom 12.09.2013, RS 174/12, Rn. 85, juris). In der Insolvenz der Gesellschaft aber unterlägen dieselben Ansprüche – nach dem Standpunkt der Beklagten – jedoch dem Nach-Nachrang des § 199 InsO, was in der Regel zu einem Ausfall führt. Dies hätte zur Folge, dass eine Forderung einerseits gegen die Gesellschaft durchgesetzt werden und auf diese Weise sogar die Insolvenz der Gesellschaft herbeiführen kann, in dieser dann aber bei der Verteilung keine Berücksichtigung findet, weil sie mit der Insolvenzeröffnung erstmals besonderen Bindungen unterworfen und in den Nach-Nachrang gefallen sein soll. Dies erklären die Beklagten nur damit, dass das Insolvenzrecht das materielle Recht brechen soll. Dies überzeugt aber nicht (s.o.), sondern belegt nur, dass eine diesbezügliche gesetzliche Anordnung, die alle Aspekte einer solchen Einordnung in den Nach-Nachrang regelt, geboten ist und es somit im geltenden Recht an einer zu schließenden Lücke fehlt. Dies belegt letztlich auch der von den Beklagten in diesem Zusammenhang zitierte § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, der für einen bestimmten Fall eine (nicht analogiefähige, s.u.) Regelung trifft und absichert (§ 135 InsO).
107
2. Diese aufgezeigte Inkonsistenz wirkt sich in gleicher Weise auf die Überschuldungsbilanz der Gesellschaft gemäß § 19 InsO aus und führt auch hier zu Wertungswidersprüchen. Grundsätzlich sind in der Überschuldungsbilanz alle gegenwärtigen Verbindlichkeiten zu passivieren. Ausgenommen sind nur Verbindlichkeiten, die weder auf Geld gerichtet sind noch nach § 45 InsO in Geld umgerechnet werden können (vgl. K.Schmidt/Herchen in Karsten Schmidt, InsO, 20. Aufl. 2023, Rn. 34 zu § 19). Dies gilt sogar für noch nicht fällige Verbindlichkeiten bzw. bestrittene oder prozessbefangene Verbindlichkeiten (vgl. Mock in Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage 2019, Rn. 152 ff zu § 19) und erst recht für sämtliche gegenwärtig bestehenden Verbindlichkeiten, die im Fall einer Verfahrenseröffnung Insolvenzforderungen i.S.d. § 38 InsO begründen können. Es würde einen Bruch darstellen, wenn einerseits Forderungen, die die Insolvenz einer Gesellschaft auslösen können, weil sie außerhalb der Insolvenz durchsetzbar sind, andererseits nicht in die Überschuldungsbilanz aufzunehmen wären, da sie in der Insolvenz dem Nach-Nachrang des § 199 S.2 InsO unterliegen und keine Berücksichtigung als Insolvenzforderungen gem. § 38 InsO fänden. Umgekehrt entstünde ein Wertungswiderspruch, wenn kapitalmarktrechtliche Schadensersatzansprüche des geschädigten Aktionärs einerseits zwar durchsetzbar wären, aber dennoch nicht die Insolvenz auslösen könnten. Im Anschluss daran stellen sich (ebenfalls ungelöste) Fragen zur Anfechtbarkeit von vor der Insolvenz an geschädigte Aktionäre geleisteter Schadensersatzzahlungen durch den späteren Insolvenzverwalter. Die Überlegungen der Beklagten zu 2), diese Situation über die Anfechtungsvorschriften der §§ 129 ff InsO zu lösen, berücksichtigt nicht die gerade fehlenden mitgliedschaftlichen Bindungen der auf dem Weg zur Aktionärsstellung Geschädigten, sondern setzt diese (rückwirkend?) voraus. Letztlich zeigt auch dieser argumentative Ansatz, dass sich ein Nach-Nachrang der kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüche weder aus § 199 InsO noch aus systematischen Überlegungen begründen lässt. Im Gegenteil erfordert die Systematik der InsO einen solchen Nach-Nachrang nicht, sondern scheint einem solchen sogar zu widersprechen.
108
3. Die Auffassung wonach alle Forderungen der Aktionäre in der Insolvenz der Gesellschaft dem Nach-Nachrang des § 199 S.2 InsO unterliegen und alle gleichermaßen erst in der Schlussverteilung des verbleibenden Überschusses unter den Eigenkapitalgebern zu berücksichtigen seien (§ 271 AktG), würde überdies den Gleichbehandlungsgrundsatz der Aktionäre verletzen.
109
Es ist nicht einzusehen, warum (arglistig) getäuschte Aktionäre, die ihre Anlage auf dem Sekundärmarkt erworben haben (wie die Klägerin), mit nicht getäuschten originären Aktionären (insolvenzrechtlich und auch haftungsrechtlich) gleichzusetzen sind und eine Differenzierung insolvenz- und materiellrechtlich irrelevant sein soll (so der Beklagte zu 1)) bzw. nur innerhalb der Schlussverteilung nach § 199 InsO, § 271 AktG vorzunehmen sein sollte, so dass sie letztlich leerliefe (so die Beklagte zu 2)). Hier sieht auch der EuGH in der sog. Hirmann-Entscheidung einen Wertungswiderspruch jedenfalls für die werbende Gesellschaft und weist, wie bereits zitiert, ausdrücklich darauf hin, dass sich Aktionäre, denen wegen einer von der Gesellschaft vor oder beim Erwerb ihrer Aktien begangenen Pflichtwidrigkeit ein Schaden entstanden ist, nicht in derselben Lage befänden wie Aktionäre derselben Gesellschaft, deren Rechtsstellung von dieser Pflichtwidrigkeit nicht berührt sei (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2013 – C-174/12 – Rn. 30, juris).
110
Es ist darüber hinaus nicht begründet, warum die Verteilung nach § 199 S. 2 InsO auch für sog. Zwischenerwerber und Nicht-mehr-Aktionäre gelten soll, die bei Insolvenzeröffnung ihre Aktien bereits wieder veräußert haben, denen aber dennoch ein Schaden verbleibt. Dies lässt sich mit dem Wortlaut des § 199 S. 2 InsO nicht mehr in Einklang bringen. Danach erfolgt die Verteilung unter den „am Schuldner beteiligten Personen“. Dies sind deren Gesellschafter, in Sonderkonstellationen ein früherer Gesellschafter, dessen Abfindungsanspruch noch offen ist. Jedenfalls ist der Kreis der Beteiligten aus dem Gesellschaftsvertrag und der Stellung als Aktionär klar bestimmt, die möglichen Ansprüche ergeben sich aus dem Gesellschaftsvertrag (Anteile) und dem wirtschaftlichen Ergebnis des Insolvenzverfahrens (§ 199 S. 1 InsO). Die Feststellung hoch streitiger Schadensersatzansprüche (deren Höhe nicht in einer Beziehung zum Nennwert der Aktie steht) für eine unbekannte Vielzahl von Gläubigern (die nicht einmal mehr Aktionäre sein müssen), hat mit diesem Verteilungsmechanismus nichts mehr gemein. Die gegenteilige Behauptung des Beklagten zu 1), wonach auch deren Anspruch auf eine (Teil-)Rückgewähr ihrer Anlage gerichtet sei, verkennt dies.
111
V. Es ist nicht ersichtlich, dass die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft eine Beantwortung der Rangfrage im Sinne der Einordnung kapitalmarktrechlicher Schadensersatzansprüche in den Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO gebieten.
112
Es ist schon nicht überzeugend, eine Parallelität zwischen den Fallkonstellationen der fehlerhaften Gesellschaft und (ob zweigliedrig oder mehrgliedrig) mit der vorliegenden des arglistig getäuschten Aktenerwerbers auf dem Sekundärmarkt anzunehmen. Dies gilt erst Recht, soweit die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft für die zweigliedrige – und mehrgliedrige Gesellschaft bereits außerhalb der Insolvenz gelten.
113
1. Die Beklagtenseite bezieht sich u.a. auf das Urteil des BGH vom 19.11.2013 (Az. II ZR 383/12). Der BGH hat hier für den bei Zeichnung seiner Einlage arglistig getäuschten atypischen stillen Gesellschafter entschieden, dass bei einer durch tatsächliche Invollzugsetzung einer fehlerhaften Gesellschaft bewirkten gesellschaftsrechtlichen Bindung schon allein die gesellschafterliche Treuepflicht gebiete, dass jedenfalls die gesellschaftsrechtlichen Abfindungs- und Auseinandersetzungsansprüche der einzelnen (gegebenenfalls fehlerhaft) Beigetretenen nur im Wege einer geordneten Auseinandersetzung geltend gemacht werden könnten. Es könne daher sogar dann eine Verpflichtung des einzelnen Gesellschafters zur Zahlung seiner Einlage trotz arglistiger Täuschung bestehen, wenn die Gesellschaft nach Aufdeckung des Betrugs abgewickelt werde, weil die Erfüllung der Einlagepflicht in einem solchen Fall der einheitlichen Verteilung der Vermögensverluste aller getäuschten Gesellschafter diene. Wegen des vorrangigen Interesses der Mitgesellschafter an einer geordneten Abwicklung sei die Einschränkung geboten, dass ein über den nach gesellschaftsrechtlichen Regeln zu berechnender Abfindungsanspruch hinausgehender Schadensersatzanspruch des stillen Gesellschafters die gleichmäßige Befriedigung der Abfindungs- und Auseinandersetzungsansprüche der übrigen stillen Gesellschafter nicht gefährden dürfe. Eine solche Gefährdung des schutzwürdigen Interesses der übrigen Anleger an einer geordneten Abwicklung drohe nur dann nicht, wenn und soweit das Vermögen des Geschäftsinhabers im Zeitpunkt der Entscheidung über den Schadensersatzanspruch eines einzelnen Anlegers sowohl die zu diesem Zeitpunkt bestehenden (hypothetischen) Abfindungs- oder Auseinandersetzungsansprüche aller stillen Gesellschafter als auch den Schadensersatzanspruch des betreffenden Anlegers decke (vgl. BGH, a.a.O, Rn. 27 ff). Diese – weitgehenden – Grundsätze für die mehraktige stille Gesellschaft sind schon deshalb nicht auf die vorliegende Konstellation außerhalb der Insolvenz übertragbar, weil ihnen der BGH in der EMTV-Entscheidung (BGH, Urteil vom 09.05.2005 – II ZR 287/02) keine Bedeutung beimisst, sondern den Schadensersatzansprüchen der arglistig getäuschten Anleger auf dem Weg zur Aktionärsstellung die mitgliedschaftlichen Sonderrechtsbeziehungen gerade abspricht und die Gläubiger von mitgliedschaftlichen Bindungen frei als „Drittgläubiger“ einstuft (vgl. Ziffer II.B.1.d).
114
2. Verfestigt hat sich diese Rechtsprechung weiter durch die Entscheidungen (Hinweisbeschluss vom 29.05.2006 – II ZR 334/05 und Beschluss vom 19.05.2022 – IX ZR 67/21 –, Rn. 6), in denen der BGH unter ausdrücklichem Verweis auf die EMTV-Entscheidung für den arglistig getäuschten Genussrechtsinhaber ausführt, dass selbst unter der Prämisse der Anwendbarkeit der Grundsätze der stillen Gesellschaft diese nach der neueren Rechtsprechung des BGH einem Anspruch auf Rückgewähr der Einlage nicht entgegenstehe, wenn der Vertragspartner des stillen Gesellschafters verpflichtet sei, diesen im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als hätte er den Gesellschaftsvertrag nicht abgeschlossen und seine Einlage nicht geleistet; denn demjenigen, der sich aufgrund einer Verletzung der Aufklärungspflicht oder aus sonstigen Gründen schadensersatzpflichtig gemacht habe, dürfe es nicht zugutekommen, dass er gleichzeitig auch an dem mit dem geschädigten Anleger geschlossenen Gesellschaftsvertrag beteiligt sei. Der BGH hebt ergänzend darauf ab, dass dies erst recht dann gelte, wenn es an der für eine Gesellschaft von Anlegern typischen Solidargemeinschaft fehle, weil rechtliche Beziehungen des einzelnen Genussrechtsinhabers nur zu der ausgebenden Gesellschaft, nicht aber zu den anderen Genussrechtsinhabern bestünden. Dies ist auf die Aktiengesellschaft übertragbar, bei der die Aktionäre der AG nicht als Gesamtheit, sondern nur als einzelne mit ihren Rechten und Pflichten gegenüber stehen (Götze in MüKoAktG, 5. Aufl., 2019, vor § 53a Rn. 6).
115
3. Auf dem gleichen Standpunkt steht auch der EuGH, der für den Fall des arglistig getäuschten Aktienkäufers, dessen Schaden auf von der emittierenden Gesellschaft begangenen Unregelmäßigkeiten beruht, ausspricht, dass hier das Kriterium eines vernünftigen Ausgleichs und einer gerechten Risikoverteilung zwischen den einzelnen Beteiligten keine Rolle spiele (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2013 – C-174/12 – Rn.62, juris).
116
4. Dies muss erst recht gelten in der vorliegenden Situation des derivativen Aktienerwerbs auf dem Sekundärmarkt. Der hier den arglistig geschädigten Aktionären entstandene (gesetzliche) Schadensersatzanspruch steht wertungsmäßig einem Beteiligungsrecht an einer (fehlerhaften) Gesellschaft nicht gleich. Der Aspekt des derivativen Aktienerwerbs auf dem Sekundärmarkt ist daher für die Einordnung der Schadensersatzansprüche auch nicht irrelevant. Die Klägerin hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass es im Unterschied zur Aktiengesellschaft für den Handel mit Anteilen an Publikumspersonengesellschaften auch keinen entwickelten und liquiden Sekundärmarkt gebe, der Sekundärmarktfähigkeit stehe der schwerfällige gesellschaftsrechtliche Übertragungsmodus entgegen, wohingegen Aktien als einheitlichen gesetzlichen Regelungen unterworfene Wertpapiere auf dem Sekundärmarkt an der Börse frei übertragbar und damit überhaupt erst handelbar seien (vgl. Klageschriftsatz vom 07.06.2021, S. 89 d.A.).
117
5. Da der BGH bereits außerhalb der Insolvenz der Anwendung der Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft auf den Schadensersatzanspruch des arglistig getäuschten Aktionärs eine Absage erteilt hat (EMTV-Entscheidung, II ZR 287/02) und davon ausgeht, dass dieser Schadensersatzanspruch keinen mitgliedschaftlichen Bindungen unterliegt, ist nicht ersichtlich, warum die Grundsätze der fehlerhaften Gesellschaft im Widerspruch hierzu in der Insolvenz eingreifen sollten, denn sie knüpfen vor- und nachinsolvenzlich an bestehende gesellschaftsrechtliche Bindungen der Gesellschafter untereinander an.
118
VI. Soweit die Beklagte zu 2) nachdrücklich auf die ihr nachteiligen wirtschaftlichen Folgen hinweist, wenn die Klägerin als Insolvenzgläubigerin nach § 38 InsO an der Verteilung der Masse teilnimmt, ist dies die Folge der Auslegung des Gesetzes und vom Rechtsanwender hinzunehmen. Der Senat sieht allerdings die gravierenden wirtschaftlichen Folgen seiner Entscheidung, die aber für seine Lösung und gegen die Rechtsauffassung der Beklagten zu 2) sprechen. Beide hier zur Entscheidung gestellten Auslegungen sind (methodisch) vertretbar. Der Standpunkt der Klägerin entfaltet für die übrigen („klassischen“) Insolvenzgläubiger aber nur einen Rechtsreflex, wegen der „Verwässerung“ der Quote, während der Standpunkt der Beklagten den nach Art. 14 Abs. 1 GG geschützten materiell-rechtlichen Anspruch der Klägerin rechtlich verkürzt.
119
Die Insolvenzforderung der Klägerin verwässert allerdings massiv die Insolvenzforderungen der Beklagten zu 2) und der übrigen „klassischen“ Insolvenzgläubiger. Dies ist jedoch nur der wirtschaftliche Reflex der besonderen Zusammensetzung der Gläubiger dieses außerordentlichen Insolvenzverfahrens ohne ein korrigierendes Eingreifen. Kein Gläubiger ist davor geschützt, in Konkurrenz zu anderen Gläubigern zu stehen. In einem hypothetischen anderen Insolvenzverfahren, bei dem ohne die kapitalmarktrechtlichen Ansprüche der Klägerin eine 100%ige Gläubigerbefriedigung möglich wäre (vgl. die Borgward-Insolvenz, dazu Paulus, Große Pleiten, 2023, S. 41/43) würde eine Teilnahme der Klägerin an der Verteilung der Masse nur zu einer geringeren Quote, aber immer noch zu einer nennenswerten Teilbefriedigung aller Gläubiger führen.
120
In rechtlicher Hinsicht problematisch erweist sich dagegen der Rechtsstandpunkt der Beklagten zu 2). Nach diesem würde die Klägerin allein wegen des (vermeintlichen) Diktats des Insolvenzrechts ihre nach dem materiellen Recht gegebenen Schadensersatzansprüche nicht nur wirtschaftlich, sondern auch rechtlich verlieren, während die Beklagte zu 2) daraus einen unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteil erlangt. Dieses Ergebnis, das wesentlich in anerkannte rechtliche Positionen eingreift, bedarf nach Auffassung des Senats mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 GG einer ausdrücklichen gesetzgeberischen Entscheidung und lässt sich nicht allein im Wege der Auslegung gewinnen.
121
Sieht man mit den Beklagten eine insolvenzrechliche Regelung ähnlich dem 11 U.S. Code § 510 – Subordination (“(b) For the purpose of distribution under this title, a claim arising from rescission of a purchase or sale of a security of the debtor or of an affiliate of the debtor, for damages arising from the purchase or sale of such a security, or for reimbursement or contribution allowed under section 502 on account of such a claim, shall be subordinated to all claims or interests that are senior to or equal the claim or interest represented by such security, except that if such security is common stock, such claim has the same priority as common stock.“) als erstrebenswert an, besteht zudem (wie schon aufgezeigt) Bedarf an begleitenden Regelungen (Einfluss auf die Insolvenzre…, Insolvenzanfechtung?) sowie an einer näheren Ausgestaltung des geschaffenen Nach-Nach(?)rangs; alternativ zu einer insolvenzrechtlichen Sonderregelung erscheint auch ein umfassender Lösungsansatz im Gesellschaftsrecht denkbar.
122
Zudem muss ein Zurücktreten von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen nicht zu einer Alles- oder Nichts-Lösung führen. Solche Schadenersatzansprüche bestehen nicht nur in der Hand großer institutioneller Anleger, sondern auch in der Hand von Kleinanlegern. Es bedarf der dem Gesetzgeber obliegenden Prüfung und Bewertung, ob diese Ansprüche gleich zu behandeln sind oder nur Anleger mit Leitungsmacht im Rang (ggf. teilweise) zurücktreten müssen (nach Becker, NZI 2021, 302/308 Fußnote 82 enthält offenbar auch das USamerikanische Recht korrigierende Vorschriften), zudem käme auch eine Differenzierung nach dem Haftungsgrund in Frage. Dies erkennt auch die Beklagte zu 2), wenn sie fragt, welche Stellung Aktionäre als „Spekulanten“ gegenüber dem redlichen Fremdkapitalgeber zukommen dürfe und welche Regelung dem Investitionsstandort Deutschland zuträglich sei.
123
VII. Die kapitalmarktlichen Schadensersatzansprüche der Klägerin unterfallen nicht dem Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO (analog).
124
1. Nach dem Wortlaut des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO fallen die hier verfolgten (kapitalmarktrechtlichen) Schadenersatzansprüche nicht in den Nachrang. Ob die für eine analoge Anwendung dieser Vorschrift erforderliche planwidrige Regelungslücke besteht, ist fraglich, weil mit § 38 InsO eine allgemeine Regelung bereit steht und nichts darauf hindeutet, dass der Gesetzgeber bei Schaffung des § 39 InsO die hier anstehenden Ansprüche übersehen hätte. Jedenfalls fehlt es an einer Vergleichbarkeit, nachdem keiner der bei § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO diskutierten Normzwecke eingreift.
125
Der Normzweck des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO wurde in der Begründung des Regierungsentwurfs BT-Dr 16/6140 nicht behandelt und ist umstritten (vgl. BGH, Urteil vom 17.02.2011 – IX ZR 313/10 – Rn. 16, juris; Behme in MüKo InsO, 4. Auflage, 2019, Rn. 43 zu § 39; Prosteder/Dachner in BeckOK Inso, 35. Edition, 15.04.2024, Rn. 44 ff). Als mögliche Grundüberlegung der Vorschrift kommt in Betracht, dass der Charakter der hier gemeinten Forderungen, insbesondere die „Nähe zum Schuldner“ und die „Finanzierungs(-folgen) verantwortung“ es gebieten, sie nicht mit üblichen Insolvenzforderungen gleichzusetzen, sondern wie haftendes Gesellschaftskapital zu behandeln (vgl. Prosteder/Dachner in BeckOK Inso, 35. Edition, 15.04.2024, Rn. 5, Rn 44 ff zu § 39a). Zum Teil wird angeführt, der Grund für die insolvenz- und anfechtungsrechtliche Sonderbehandlung von Gesellschafterdarlehen sei die Haftungsbeschränkung; als Ausgleich für das Haftungsprivileg sollten die Gesellschafter nicht mit außenstehenden Gläubigern konkurrieren und das Haftungsprivileg ausnutzen oder gar missbrauchen (vgl. BeckOK, a.a.O., Rn. 46). In der Rechtsprechung wird der Gedanke der Finanzierungsfolgeverantwortung ins Zentrum gestellt. Danach sollten insbesondere fragwürdige Auszahlungen an Gesellschafter in einer typischerweise kritischen Zeitspanne einem konsequenten Anfechtungsregime unterworfen werden, und es sollte den infolge des gesellschaftsrechtlichen Näheverhältnisses über die finanzielle Lage ihres Betriebs regelmäßig wohlinformierten Gesellschaftern die Möglichkeit versagt werden, der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Kreditmittel zu Lasten der Gläubigergesamtheit zu entziehen (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2013 – IX ZR 32/12 –, Rn. 17 ff, juris).
126
Die vorliegende Konstellation der sittenwidrig getäuschten Anleger auf dem Weg zur Aktionärsstellung ist von keinem dieser diskutierten Grundgedanken erfasst. Wie unter Ziffern II.B.1-5) wiederholt ausgeführt, geht der Senat im Anschluss an die EMTV-Entscheidung des BGH davon aus, dass die getäuschten Anleger der Gesellschaft mit ihren gesetzlichen Schadensersatzansprüchen „wie Dritte“ gegenüberstehen und dass diese Ansprüche in der Insolvenz ihren Charakter nicht verändern. Die arglistig getäuschten Aktionäre befinden sich daher weder in einer besonderen Nähe zur insolventen Gesellschaft noch steht ein Missbrauch eines nicht ersichtlichen Haftungsprivilegs inmitten. Die Klägerin als sittenwidrig getäuschte Anlegerin mit entsprechenden gesetzlichen Schadensersatzansprüchen u.a. gem. § 826 BGB ist auch nicht mit einem „wohlinformierten Gesellschafter“ mit Insiderkenntnissen gleichzusetzen, dem die Möglichkeit genommen werden soll, der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Kreditmittel zu Lasten der Gläubigergesamtheit zu entziehen. Bei der Klägerin entfällt, wie ausgeführt, die Doppelrolle als „Gesellschafterin“ und „Gläubigerin“, da sie bei der Geltendmachung ihrer Schadensersatzansprüche von den gesellschaftsrechtlichen Bindungen befreit ist.
127
2. Bei den derivativen Aktienkäufen der Klägerin handelt es sich weder um Gesellschafterdarlehen noch um Rechtshandlungen, die einem solchen Darlehen wirtschaftlich entsprechen i.S.d. § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO. Vom Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr.5 InsO erfasst sind zunächst alle Darlehensforderungen sowie als „wirtschaftliche entsprechende Forderungen“ in erster Linie Stundungs- und Fälligkeitsvereinbarungen, insbesondere auch dann, wenn das zugrunde liegende Geschäft kein Darlehensvertrag gewesen sein sollte (vgl. Hirte in Uhlenbruck, InsO, 15. Auflage, 2019, Rn. 38 zu § 39). Subsumiert werden hierunter u.a. für den Krisenfall gegebene selbständige Schuldversprechen, Ausschüttungsansprüche bezüglich Gewinnvorträgen (wobei hier umstritten ist, ob ggfs. nur Ansprüche aus Fremdkapital erfasst werden und Ansprüche aus Eigenkapital dem Nach-Nachrang des § 199 InsO unterfallen, vgl. Prosteder/Dachner, BeckOK, 35. Edition, 15.04.2024, Rn. 90 zu § 39) sowie u.a. auch das Stehenlassen einer Geldforderung.
128
Der Aktienerwerb auf dem Sekundärmarkt ist einem Gesellschafterdarlehen nicht unmittelbar gleichzustellen. Es handelt sich auch nicht um eine einem solchen Darlehen „wirtschaftlich entsprechende Rechtshandlung“, da dem Aktienerwerb auf dem Sekundärmarkt überhaupt keine Finanzierungswirkung für die Gesellschaft zukommt. Der Erwerb am Sekundärmarkt stellt entgegen der Auffassung der Beklagten keinen „Kreditierungsakt“ dar. Der Gesellschaft fließt das Entgelt aus dem Aktienerwerb an der Börse auch nicht mittelbar zu, sondern bleibt bei dem unmittelbaren Veräußerer, auch wenn der Erwerber durch die Aktien einen Anteil am Grundkapital der Gesellschaft erwirbt. Dieses Erfordernis kann nicht durch den Gedanken, dass der Rechtsnachfolger mit allen Rechten und Pflichten in die Rechtsstellung seines Rechtsvorgängers eintritt, fingiert werden. Dies zeigt sich gerade in der häufigen Konstellation, dass Aktien einer im DAX gelisteten Gesellschaft nicht nur einmal, sondern mehrfach mit wiederholten Zwischenerwerben gehandelt werden. Allein der Umstand, dass der durchgesetzte gesetzliche Schadensersatzanspruch der Klägerin auf die Erstattung des Aktienwerts in Gestalt des Transaktionsschadens oder hilfsweise Kursdifferenzschadens gerichtet ist, bedeutet auch wirtschaftlich keine Einlagenerstattung. Anhaltspunkte, die eine Finanzierungsfolgeverantwortung (zentraler Grundgedanke der Norm) der Klägerin als auf dem Weg zur Aktionärsstellung sittenwidrig getäuschter Anlegerin begründen, sind nicht ersichtlich. Dies wäre nur der Fall, wollte man die mitgliedschaftliche Bindung und Herleitung der Ansprüche an dieser Stelle unterstellen und von „Gläubigerrechten“ ausgehen (vgl. BGH, Urteil vom 28.01.2020 – II ZR 10/10 –, Rn. 28), was der Senat gerade abgelehnt hat (Ausführungen Ziffern B.I.4.). Wollte man die Vorschrift analog auch auf den derivativen Aktienerwerb anwenden, wie nicht, so ergäben sich auch hier ungelöste Wertungswidersprüche hinsichtlich der Aktionäre, die nur Zwischenerwerber waren bzw. im vorliegenden Fall der streitgegenständlichen Sondervermögen der Klägerin, die keine Aktien der Schuldnerin mehr halten.
C.
129
Die zulässige Berufung des Beklagten zu 1) ist unbegründet.
130
Es kann dahin stehen, ob die Abweisung der Widerklage als unzulässig zutreffend ist (vgl. dazu die Überlegungen unter A. zur Entscheidung über Vorfragen im Wege der Feststellungsklage nach § 256 ZPO). Aus den unter Ziffer II. B. erfolgten Erwägungen ergibt sich die insolvenzrechtliche Einordnung der streitgegenständlichen kapitalmarktrechlichen Schadensersatzansprüche in den Rang des § 38 InsO und nicht, wie von dem Beklagten zu 1) mit seiner Berufung verfolgt, in den Nach-Nachrang des § 199 S. 2 InsO. Die Berufung bleibt damit ohne Erfolg.
D. Nebenentscheidungen
131
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht nach § 708 Nr. 10 ZPO.
132
Nachdem die Klageabweisung des Landgerichts (auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen) keinen Bestand hat, war auch die Kostenentscheidung abzuändern und dem Schlussurteil vorzubehalten.
133
Die Revision war nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zuzulassen.
134
Sowohl gegen das Zwischenurteil (§ 280 Abs. 2 ZPO) als auch gegen das Teilurteil (§ 301 Abs. 1 Satz 1 ZPO) ist die Revision statthaft (§ 542 Abs. 1 ZPO). Beiden Entscheidungen liegt die gemeinsame Rechtsfrage zugrunde, ob die Klageforderungen im Insolvenzverfahren im Rang des § 38 InsO angemeldet werden können, was einen Zulassungsgrund nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO darstellt. Diese Rechtsfrage ist in der Literatur umstritten, höchstrichterlich noch nicht entschieden und hat sowohl für das hier zugrundeliegende Insolvenzverfahren als auch darüber hinaus überragende Bedeutung.
135
Eine Vorlage an den EuGH erübrigt sich, weil das hier gefundene Ergebnis mit dem Unionsrecht sicher im Einklang steht.
E. Aussetzung des anhängigen Verfahrensrestes nach § 8 KapMuG (in der Fassung bis zum 20.07.2024)
136
Der Senat sieht zum jetzigen Zeitpunkt von einer Entscheidung nach § 8 KapMuG a.F. (in Verbindung mit § 280 Abs. 2 Satz 2 ZPO; siehe dazu auch OLG München, Beschluss vom 15.04.2024, 13 W 439/23e) ab, nachdem die Parteien dieses Pilotverfahrens in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, zunächst das Ergebnis eines Revisionsverfahrens abwarten zu wollen, bevor eine Prüfung der angemeldeten Ansprüche in der Sache erfolgen soll.