Titel:
Bemessung des merkantilen Minderwerts bei E-Autos
Normenketten:
BGB § 249
ZPO § 287
Leitsatz:
Da das Vertrauen in die Reparaturmöglichkeit von Fahrzeugen mit elektronischen Antriebs- und Steuerungssystemen geringer ausgeprägt ist als ein solches in die Reparaturmöglichkeit von konventionellen Verbrenner-Fahrzeugen, ist die Skepsis eines potentiellen Käufers eines E-Autos, dass ein großer Unfallschaden „nicht richtig“ behoben werde kann bzw. konnte, (zumindest heute) größer als diejenige eines potentiellen Käufers eines Verbrenner-Fahrzeuges. Die Wertminderung muss daher höher ausfallen, um den Mangel an Attraktivität auszugleichen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
merkantiler Minderwert, E-Auto
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg vom -- – 5 U 1909/24
Fundstellen:
BeckRS 2024, 24175
LSK 2024, 24175
DAR 2024, 683
Tenor
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an X, Schadennummer einen Betrag in Höhe von 19.174,41 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit 22.02.2024 zu zahlen.
2. Es wird beantragt die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen an den Kläger einen Betrag in Höhe von 6.398,03 € zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag in Höhe von 4.048,03 € seit 22.09.2023 und aus einem Betrag in Höhe von 2.350,00 € seit 22.02.2024 zu zahlen.
3. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.214,99 EUR freizustellen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Von den Kosten des Rechtsstreits haben der Kläger 19 % und die Beklagten als Gesamtschuldner 81 % zu tragen.
6. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Der Streitwert wird auf 31.722,44 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, welcher sich am 09.07.2023 auf der Bundesautobahn A9 im Gemeindegebiet N. ereignete.
2
Am Unfalltag befuhr der Kläger die A9 mit dem PKW VW ID 4 (amtl. Kennz.: …) in Fahrtrichtung Berlin. Beifahrerin im VW ID 4 war zum Unfallzeitpunkt die Ehefrau des Klägers D.M.. Zwischen der Anschlussstelle Nürnberg-Fischbach und dem Autobahnkreuz Nürnberg fuhr die Beklagte zu 1) mit dem von ihr gesteuerten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW Toyota Corolla Liftback (amtl. Kennz.: …) dem VW ID 4 hinten auf. Die Unfallursache ist zwischen den Parteien streitig. Beifahrer im Toyota Corolla war der von der Beklagtenpartei als Zeuge benannte S.H..
3
Der Kläger mietete sich bei der Firma S. GmbH & CO KG noch am Unfalltag ein Fahrzeug, welches einen Tag später, also am 10.07.2023, in Ha. zurückgegeben wurde. Hierfür stellte ihm die S. GmbH & CO KG einen Betrag in Höhe von 465,60 € brutto in Rechnung.
4
Halter des klägerischen Fahrzeuges war zum Unfallzeitpunkt J.M.. Dieser hatte das Fahrzeug am 26.06.2023 an die V. AG zu einem Kaufpreis von 41.000,00 € verkauft, jedoch noch nicht übergeben. Dem Konto von J.M. und I.M. wurde der Kaufpreis von 41.000,00 € am 14.07.2023 gutgeschrieben. Mit schriftlicher Abtretungserklärung vom 10.11.2023 trat J.M. sämtliche Ansprüche aus dem Unfallgeschehen vom 09.07.2023 an den Kläger ab.
5
Der Schaden am klägerischen Fahrzeug wurde durch die Fa. TÜV ... GmbH unter dem 14.07.2023 begutachtet. Dabei wurden Netto-Reparaturkosten in Höhe von 13.996,31 € sowie eine (steuerneutrale) merkantile Wertminderung von 1.400,00 € ermittelt. Wegen der Einzelheiten wird auf die nicht nummerierten klägerischen Anlagen umfassend Bezug genommen. Für das Schadensgutachten stellten die TÜV ... GmbH Herrn J.M. einen Betrag in Höhe von 2.157,43 € in Rechnung. Während des rechtshängigen Rechtsstreits wurde der VW ID 4 durch die Autozentrum N. GmbH zu einem Bruttopreis von 19.174,41 € repariert.
6
Unter dem 28.11.2023 wurde das Fahrzeug von J.M. nochmals an die V. AG zu einem Kaufpreis von 31.100,00 € verkauft.
7
Der Kläger behauptet im Wesentlichen, die Beklagte zu 1) sei ihm schuldhaft hinten aufgefahren. Der Unfall sei für ihn nicht vermeidbar gewesen. Die Reparaturkosten habe seine Vollkaskoversicherung bezahlt, so dass er Zahlung an diese verlangen könne. Daneben habe er Anspruch auf Erstattung der Sachverständigenkosten, die Mietwagenkosten und eine Unfallkostenpauschale in Höhe von 25,00 €. Ferner könne er eine Wertminderung in Höhe von 9.900,00 € geltend machen. Diese ergebe sich aus der Differenz der realisierten Verkaufspreise des Fahrzeuges vor und nach dem Unfallgeschehen.
8
Der Kläger beantragt zuletzt daher,
- 1.
-
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die L..., Schadennummer ... einen Betrag in Höhe von 19.174,41 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 2.
-
Es wird beantragt die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen an den Kläger einen Betrag in Höhe von 12.548,03 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 3.
-
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt den Kläger von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.214,99 EUR freizustellen.
9
Die Beklagten beantragen,
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Die Aktivlegitimation des Klägers wird in Abrede gestellt. Ferner behaupten die Beklagten, dass der Kläger vor dem Unfall plötzlich von der linken Fahrspur unerwartet vor das Beklagten-Fahrzeug auf die rechte Fahrspur gewechselt sei. Unmittelbar nach dem unerwarteten Fahrspurwechsel habe der Kläger stark abgebremst. Die Beklagte zu 1) habe trotz Bremsung eine Kollision nicht mehr verhindern können. Da es sich bei dem klägerischen Fahrzeug um ein äußerst wertstabiles Fahrzeug handle, sei keine oder eine deutlich niedrigere Wertminderung eingetreten. Die Erforderlichkeit der Rückfahrt mit einem Mietwagen wurde in Abrede gestellt. Die Mietwagenkosten seien überhöht. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen umfassend Bezug genommen.
11
Das Gericht hat im Termin am 05.06.2024 den Kläger und die Beklagte zu 1) informatorisch angehört. Ferner wurde die Ehefrau des Klägers als Zeugin vernommen. Dabei waren Kläger und Ehefrau per Videoanruf im Sitzungssaal zugeschaltet. Im Anschluss an die Anhörungen und die Zeugenvernehmung erstattete der gerichtlich bestellte Sachverständige Dipl.-Ing. ... ein mündliches Gutachten.
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Wegen der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf das Terminprotokoll vom 05.06.2024 samt Anlage Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist weitestgehend begründet.
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Der Kläger hat gegen die Beklagte zu 1) aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und gegen die Beklagte zu 2) aus § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG (zumindest aus abgetretenem Recht) einen gesamtschuldnerischen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Reparaturkosten, Sachverständigenkosten, Mietwagenkosten, der Unfallkostenpauschale sowie auf teilweise Zahlung der geltend gemachten merkantilen Wertminderung.
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1. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Beklagte zu 1) dem klägerischen PKW VW ID 4 am Unfalltag gegen 12:10 Uhr auf der A9 (Fahrtrichtung Berlin) zwischen der Anschlussstelle Nürnberg-Fischbach und dem Autobahnkreuz Nürnberg hinten auffuhr und hierdurch einen hohen Schaden im Heckbereich des PKWs – die Reparaturkosten beliefen sich auf 19.174,41 € brutto – verursachte. Von einem vorherigen Fahrspurwechsel des Kläger-Fahrzeuges geht das Gericht nicht aus. Der klägerischen PKW erlitt hierdurch einen merkantilen Minderwert von 3.750,00 €.
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2. Die Beweisaufnahme hat das vermutete Verschulden der Beklagten zu 1) für den Auffahrunfall nicht entkräften können.
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Die Angaben der Parteien sowie der vernommenen Zeugin waren widersprüchlich. Der Kläger sowie seine Ehefrau ... gaben übereinstimmend an, dass der Kläger mit dem VW Id4 vor dem Unfall keinen Spurwechsel vollzogen habe. Die Beklagte 1) führte hingegen aus, dass sie auf der rechten Fahrspur unterwegs gewesen sei, als plötzlich vor ihr das schwarze Auto des Klägers aufgetaucht sei und sie stark habe abbremsen müssen. Aus dem Umstand, dass es vorher nicht vor ihr gewesen sei, schlussfolgerte sie, dass der Kläger kurz zuvor auf die rechte Fahrspur rübergezogen sei.
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Der beklagtenseits benannte Zeuge S.H. war nicht zu vernehmen. Das Gericht hat mehrfach erfolglos versucht, den Zeugen unter der von der beklagten Partei angegebenen Anschrift zu laden. Die Ladung kam jeweils retour. Mit Beschluss vom 21.02.2024 wurde den Beklagten gem. § 356 ZPO eine Frist gesetzt, innerhalb derer die ladungsfähige Anschrift des Zeugen H. S1. zu benennen war. Eine neue Anschrift wurde dem Gericht nicht mitgeteilt. Eine selbständige Einwohnermeldeamtsauskunft kann dem Zivilgericht nicht abverlangt werden.
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Der dem Gericht aus zahlreichen Verfahren als zuverlässiger und kompetenter Unfallanalyst bekannte Sachverständige K. konnte die Beklagten-Unfallversion nicht stützen. Die von ihm ausgewerteten Schadensfotos ergaben einen Kollisionswinkel von etwa 0 +/- 1 Grad. Danach waren die Fahrzeuge im Moment des Anstoßes parallel zueinander orientiert und hatten keinen wesentlichen seitlichen Versatz. Aus den Beschädigungen lasse sich kein Fahrstreifenwechsel des Kläger-Fahrzeuges ableiten.
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3. Der Klagepartei waren die nachstehenden Schadenspositionen zuzusprechen.
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a. Der Kläger kann zunächst die Zahlung eines Betrages in Höhe der Reparaturrechnung von 19.174,41 € an seinen Vollkasko-Versicherer verlangen. Diese Positionen wurden mit dem Klageerweiterungsschriftsatz vom 30.01.2024, welche den Beklagtenvertretern am 21.02.2024 zugestellt wurde, geltend gemacht. Der Zinsausspruch beruht auf § 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 BGB.
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b. Ferner hat der Kläger Anspruch auf Ersatz eines merkantilen Minderwerts des Fahrzeuges in Höhe von 3.750,00 €.
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Das Gericht folgt bei der Bezifferung des merkantilen Minderwerts nicht der Auffassung des gerichtlich bestellten Sachverständigen. Dieser nahm eine Berechnung des Minderwerts auf Grundlage der gängigen Modelle BVSK, MFM (“Marktrelevanz- und Faktorenmethode“) und Halbgewachs vor und kam so zu einem Betrag von lediglich 2.500,00 € (für November 2023). Die vom Sachverständigen hinzugezogenen Modelle wurden für konventionelle Verbrenner-Fahrzeugen entwickelt. Bei dem klägerischen Fahrzeug handelt es sich jedoch um einen VW ID 4, also ein Fahrzeug mit ausschließlich batterieelektrischem Antrieb. Die Brutto-Reparaturkosten dieses sog. Elektroautos (“E-Auto“), welchen der Sachverständige mit einem Händlerverkaufswert von 42.125,00 € bezifferte, lagen bei über 19.000,00 €. Auch wenn „nur“ der Heckbereich des Fahrzeugs in Mitleidenschaft gezogen wurde, führt ein solch hoher Schaden nach Einschätzung des Gerichts zu einer überdurchschnittlichen Reduzierung potentieller Kaufinteressenten auf dem allgemeinen Automarkt. Zu sehen ist, dass das Vertrauen in die Reparaturmöglichkeit von Fahrzeugen mit elektronischen Antriebs- und Steuerungssystemen, die erst seit wenigen Jahren markttauglich sind, geringer ausgeprägt ist, als ein solches in die Reparaturmöglichkeit von konventionellen Verbrenner-Fahrzeugen. Mit anderen Worten: Die Skepsis eines potentiellen Käufers eines E-Autos, dass ein großer Unfallschaden „nicht richtig“ behoben werde kann bzw. konnte, ist (zumindest heute) größer, als diejenige eines potentiellen Käufers eines Verbrenner-Fahrzeuges. Der E-Fahrzeug-Käufer wird sich daher tendenziell eher einem unfallfreien Fahrzeug zuwenden als derjenige eines Verbrenner-Fahrzeuges. Die Wertminderung muss daher höher ausfallen, um den Mangel an Attraktivität auszugleichen.
24
Das Gericht schätzt mithin gem. § 287 ZPO, dass die Wertminderung eines Elektroautos um etwa 50% höher ist als die vergleichbare Wertminderung eines Verbrenner-Fahrzeuges.
25
Im vorliegenden Fall geht das Gericht daher von einem merkantilen Minderwert von 3.750,00 € aus. Unterstrichen wird dies durch den Umstand, dass der Halter des Fahrzeuges wenige Monate nach dem Unfall gegenüber der V. AG einen deutlich niedrigeren Kaufpreis durchsetzen konnte, obwohl das Fahrzeug zwischenzeitlich in einer Fachwerkstatt repariert worden war.
26
Entgegen der klägerischen Auffassung kommt es hingegen auf den realisierten Wertverlust nicht an. Dieser hängt unter anderem vom Verhandlungsgeschick des Verkäufers ab. Auch die allgemeine Markt- und Wirtschaftslage und sogar die Jahreszeit können sich auf den Verkaufspreis auswirken.
27
c. Darüber hinaus kann der Kläger die Kosten der außergerichtlichen Schadensbegutachtung in Höhe von 2.157,43 € sowie die Mietwagenkosten der Fa. S2. in Höhe von 465,60 € ersetzt verlangen. Letztgenannte Kosten war nicht übersetzt. Der Kläger befand sich mit seiner Frau auf der Urlaubsrückreise zu seinem Wohnort in Ha... . Er war daher auf die sofortige Zur-Verfügung-Stellung eines Ersatz-Pkw angewiesen, der in Hannover wieder zurückgegeben werden konnte. Daher erscheint dem Gericht der Betrag gerade noch vertretbar zu sein. Schließlich schuldet die Beklage nach ständiger Rechtsprechung noch eine Unfallkostenpauschale von 25,00 €.
28
d. Damit ergibt sich für unter Ziff. 2 der Klage geltend gemachten Positionen folgender weiterer Schadensersatzbetrag:
Lfd.
|
Position
|
Betrag
|
1
|
Wertminderung
|
3.750,00 €
|
2
|
GA-Kosten
|
2.157,43 €
|
3
|
Mietwagenkosten
|
465,60 €
|
4
|
Kostenpauschale
|
25,00 €
|
5
|
Summe
|
6.398,03 €
|
29
Diese Positionen wurden allesamt bereits in der Klageschrift vom 01.09.2023, welche den Beklagten am 21.09.2023 zugestellt wurde, geltend gemacht. Dort war der merkantile Minderwert aber noch mit 1.400,00 € beziffert worden, sodass eine Verzinsung lediglich in Höhe von 4.048,03 € seit dem 22.09.2023 auszusprechen war. Der Zinsausspruch beruht auf § 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 BGB.
30
e. Schließlich kann die Klagepartei Freistellung von den außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren ausgehend von dem in Ansatz gebrachten Gebührenstreitwert von 18.044,34 €, mithin den tenorierten Betrag von 1.214,99 €, geltend machen.
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f. Nach alledem waren die Beklagten – wie tenoriert – zu verurteilen und die Klage im Übrigen abzuweisen.
32
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 709 S. und S. 2 ZPO.