Inhalt

VGH München, Beschluss v. 03.09.2024 – 11 CS 24.1400
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem - einstweiliger Rechtsschutz

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 4 Abs. 2, Abs. 5, § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 lit. b
FeV § 40, Anlage 13
Leitsätze:
1. Bei Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem muss die Fahrerlaubnisbehörde nicht individuell über die Punktebewertung entscheiden. Die maßgebliche Bewertung der Anlasstaten als Spezialregelung der charakterlichen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen ist vielmehr unter Anknüpfung an die Schwere des Verstoßes und dessen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit normativ typisierend festgelegt. Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. An diese Entscheidung ist die Fahrerlaubnisbehörde ohne Bewertungsspielraum gebunden. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Erreichen von acht Punkten ist die Entziehung der Fahrerlaubnis gesetzlich zwingend vorgesehen ohne dass Ausnahmen zugelassen sind. Die Fahrerlaubnisbehörde hat insoweit kein Ermessen; berufliche Belange oder andere aus der Maßnahme folgende Härten sind daher nicht zu berücksichtigen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem, Durchlaufen des Stufensystems, Zustellung der Ermahnung und Verwarnung, normative typisierende Bewertung der Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr, Nichtberücksichtigung beruflicher Belange, Fahrerlaubnis
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 25.07.2024 – RN 8 S 24.945
Fundstellen:
LSK 2024, 23867
BeckRS 2024, 23867
ZfS 2024, 713

Tenor

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Zwangsgeldandrohung verworfen und im Übrigen zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Gegenstand des Beschwerdeverfahrens ist der Sofortvollzug der Entziehung der Fahrerlaubnis auf der Grundlage des Fahreignungs-Bewertungssystems und der Zwangsgeldandrohung hinsichtlich der Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins.
2
Dem Antragsteller wurde die Fahrerlaubnis der Klassen AM, B und L nach vorangegangener Entziehung am 14. Februar 2020 durch das Landratsamt Landshut wieder erteilt. Nach zwei Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr (bewertet mit jeweils zwei Punkten) ermahnte ihn das Landratsamt mit Schreiben vom 27. Oktober 2021, laut Postzustellungsurkunde am 28. Oktober 2021 durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt, wegen Erreichens von vier Punkten nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem. Nach zwei weiteren Ordnungswidrigkeiten (bewertet mit jeweils einem Punkt) verwarnte ihn das Landratsamt mit Schreiben vom 10. Juli 2023, laut Postzustellungsurkunde am 12. Juli 2023 durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt, wegen Erreichens von sechs Punkten. Nach einer weiteren Ordnungswidrigkeit (bewertet mit einem Punkt) und einer Straftat (bewertet mit zwei Punkten) entzog ihm das Landratsamt nach vorangegangener Anhörung mit Bescheid vom 22. April 2024 wegen Erreichens von neun Punkten die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn unter Androhung eines Zwangsgelds zur Ablieferung des Führerscheins.
3
Über die hiergegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Regensburg noch nicht entschieden. Dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. Juli 2024 hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung stattgegeben, weil das Landratsamt hinsichtlich der Pflicht zur Ablieferung des Führerscheins bisher keinen Sofortvollzug angeordnet habe und insoweit kein vollziehbarer Grundverwaltungsakt vorliege. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht den Antrag abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis aufgrund der verwertbaren Eintragungen im Fahreignungsregister sei rechtmäßig. Insbesondere sei der Antragsteller vorher ordnungsgemäß ermahnt und verwarnt worden. Die Zustellung der Ermahnung und Verwarnung an die Meldeadresse des Antragstellers ergebe sich aus den jeweiligen Postzustellungsurkunden. Den Beweis für die Unrichtigkeit der beurkundeten Tatsachen habe der Antragsteller nicht angetreten.
4
Gegen den am 29. Juli 2024 zugestellten Beschluss hat der Antragsteller durch seinen Prozessbevollmächtigen Beschwerde einlegen lassen mit dem Antrag, den Beschluss aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffern 1 (Entziehung der Fahrerlaubnis) und 3 (Zwangsgeldandrohung) des Bescheids vom 22. April 2024 anzuordnen. Er rügt die „fehlerhafte Bewertung der Punkte im Fahreignungsregister“. Dem Antragsteller sei weder die Ermahnung noch die Verwarnung ordnungsgemäß zugestellt worden. Das Verwaltungsgericht habe dieses Vorbringen nicht hinreichend berücksichtigt und dadurch gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Außerdem sei die Entziehung der Fahrerlaubnis im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit des Antragstellers unverhältnismäßig. Schließlich sei im Strafbefehl zum Führen eines Kraftfahrzeugs trotz Fahrverbots nicht die Rede davon, dass dem Antragsteller neben der Strafe auch Punkte auferlegt werden sollten.
5
Der Antragsgegner tritt der Beschwerde entgegen. Diese sei unzulässig, jedenfalls unbegründet.
6
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
7
Die Beschwerde hat keinen Erfolg.
8
1. Soweit der Antragsteller mit der Beschwerde ausdrücklich auch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 des Bescheids beantragt, ist die Beschwerde – worauf der Antragsgegner zutreffend hinweist – unzulässig und zu verwerfen, weil dem Antragsteller hierfür die prozessrechtlich erforderliche Beschwer (vgl. hierzu Rudisile in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand Januar 2024, Vorb. § 124 VwGO Rn. 39) fehlt. Das Verwaltungsgericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage insoweit bereits angeordnet, weil das Landratsamt für die in Ziffer 2 des Bescheids ausgesprochene Verpflichtung des Antragstellers zur Ablieferung seines Führerscheins, auf die sich die Zwangsgeldandrohung bezieht, keinen Sofortvollzug verfügt hatte. Damit ist der Antragsteller durch den Beschluss des Verwaltungsgerichts insoweit nicht beschwert.
9
Dass das Landratsamt die Anordnung des Sofortvollzugs für die Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins mittlerweile durch Bescheid vom 7. August 2024 nachgeholt hat, ändert daran nichts. Dieser Bescheid war nicht Gegenstand des Ausgangsverfahrens und ist damit auch nicht Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens. Da der Antragsteller vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) auch nicht im Wege der Antragserweiterung die Einbeziehung der nachträglichen Anordnung des Sofortvollzugs in das Beschwerdeverfahren beantragt hat, kann dahinstehen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche Antragserweiterung überhaupt in Betracht kommt (vgl. dazu BayVGH, B.v. 6.2.2012 – 11 CE 11.2964 – juris Rn. 32; VGH BW, B.v. 16.9.2022 – 10 S 2420/21 – juris Rn. 14 ff.).
10
2. Im Übrigen ist die Beschwerde unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis, die kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist (§ 4 Abs. 9 des Straßenverkehrsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses [vgl. BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21.15 – BVerwGE 157, 235 Rn. 11] zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.11.2023 (BGBl I Nr. 315]), stattzugeben wäre.
11
a) Soweit der Antragsteller eine „fehlerhafte Punktebewertung im Fahreignungsregister“ beanstandet, liegt dem offenbar die Vorstellung zugrunde, die Fahrerlaubnisbehörde müsse bei Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem gemäß § 4 StVG individuell über die Punktebewertung entscheiden. Dies trifft jedoch so nicht zu. Vielmehr ist die für das Fahreignungs-Bewertungssystem maßgebliche Bewertung der Anlasstaten als Spezialregelung der charakterlichen Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen normativ typisierend festgelegt (§ 4 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Buchst. b StVG; § 40 i.V.m. Anlage 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.3.2024 [BGBl I Nr. 109]). Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG). Die Fahrerlaubnisbehörde ist an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder die Ordnungswidrigkeit gebunden (§ 4 Abs. 5 Satz 4 StVG). Die für die Zuwiderhandlungen jeweils festgelegte Bewertung in Anlage 13 der Fahrerlaubnis-Verordnung knüpft an die Schwere des Verstoßes und dessen Auswirkungen auf die Verkehrssicherheit an und ist nach § 40 FeV bei Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem zu Grunde zu legen, ohne dass der Fahrerlaubnisbehörde dabei ein Bewertungsspielraum zukäme. Dem zur Beschwerdebegründung angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 (3 C 21.15 – BVerwGE 157, 235) ist nichts Gegenteiliges zu entnehmen.
12
Dass das Landratsamt bei der Entziehung der Fahrerlaubnis von nicht zutreffenden Bewertungen ausgegangen wäre oder den Punktestand falsch berechnet hätte, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Die vom Antragsteller zuletzt am 13. August 2023 begangene Straftat des Führens eines Kraftfahrzeugs trotz Fahrverbots (§ 12 StVG) ist – wie hier geschehen – nach Nr. 2.1.11 der Anlage 13 zur Fahrerlaubnis-Verordnung mit zwei Punkten zu bewerten. Der hierzu erhobene Einwand, der ergangene Strafbefehl sehe keine Auferlegung von Punkten vor, geht ins Leere. Im Strafbefehl müssen keine Punkte ausgewiesen werden (§ 409 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 i.V.m. § 407 Abs. 2 StPO zum Inhalt des Strafbefehls; vgl. auch § 260 Abs. 4 und 5 StPO für das Urteil). Vielmehr ergeben sich diese – wie bereits dargelegt – kraft Gesetzes aus der rechtskräftigen Verurteilung. Auch die im Bußgeldbescheid regelmäßig mitgeteilte Punktebewertung hat lediglich informatorischen Charakter (vgl. Koehl in Koehl/Krumm/Hiltrop, Punktsystem und Bußgeldkatalog, 3. Auflage 2022, § 4 StVG Rn. 39).
13
b) Der zur Beschwerdebegründung wiederholte Einwand, dem Antragsteller seien die Ermahnung und Verwarnung nicht ordnungsgemäß zugestellt worden, genügt – worauf der Antragsgegner ebenfalls zutreffend hinweist – nicht den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO. Danach muss die Beschwerdebegründung die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Verwaltungsgericht hat eingehend und im Übrigen zutreffend ausgeführt, dass der Antragsteller nach Aktenlage bei Erreichen der Stufen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG ordnungsgemäß ermahnt und verwarnt wurde, dass ihm die Ermahnung und Verwarnung durch Einwurf in den Briefkasten zugestellt wurden und dass er die Unrichtigkeit der in den Postzustellungsurkunden dokumentierten Tatsachen nicht bewiesen hat (BA S. 7). Das Verwaltungsgericht ist damit auf das erstinstanzliche und auch dort unsubstantiierte Vorbringen des Antragstellers detailliert eingegangen. Woraus sich, wie in der Beschwerdebegründung geltend gemacht, eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) ergeben soll, bleibt unerfindlich.
14
c) Schließlich erweist sich die Entziehung der Fahrerlaubnis auch nicht im Hinblick auf die berufliche Tätigkeit des Antragstellers als unverhältnismäßig.
15
§ 4 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG sieht die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Erreichen von acht Punkten zwingend vor und lässt keine Ausnahmen zu. Die Fahrerlaubnisbehörde hat insoweit kein Ermessen; berufliche Belange oder andere aus der Maßnahme folgende Härten sind daher nicht zu berücksichtigen (stRspr, vgl. bereits BVerwG, B.v. 28.6.1996 – 11 B 38.96 – juris; BayVGH, B.v. 30.7.2020 – 11 CS 20.1697 – juris Rn. 19; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auflage 2023, § 4 StVG Rn. 70, 76 und 100; Koehl in Koehl/Krumm/Hiltrop, Punktsystem und Bußgeldkatalog, § 4 StVG Rn. 30, 45). Die zur Beschwerdebegründung zitierte Entscheidung vom 9. Juli 2020 (5 L 454/20 – juris) des Verwaltungsgerichts des Saarlands (nicht des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, wie fälschlicherweise angegeben) stützt die behauptete Notwendigkeit der Berücksichtigung beruflicher Belange gerade nicht (vgl. Rn. 55 des Beschlusses).
16
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
17
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).