Inhalt

VGH München, Beschluss v. 06.09.2024 – 10 ZB 24.889
Titel:

Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt für einen bulgarischen Staatsangehörigen

Normenketten:
GG Art. 103 Abs. 1
VwGO § 86 Abs. 2, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
FreizügG/EU § 6 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände der Begehung der Straftat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, s. zB VGH München BeckRS 2019, 13718). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. zB VGH München BeckRS 2019, 3424). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung bzw. der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers, bei der hinsichtlich der gebotenen Gefahrenprognose nicht allein auf das Strafurteil und die diesem zugrunde liegende Straftat, sondern auf die Gesamtpersönlichkeit des Ausländers abzustellen ist und auch nachträgliche Entwicklungen einzubeziehen sind, bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind (stRspr des Senats, vgl. zB VGH München BeckRS 2022, 19890 und BeckRS 2019, 15920 mwN). (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Freizügigkeitsrecht (bulgarischer Staatsangehöriger), Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Verlustfeststellung, Sexualstraftäter, Gefahrenprognose, Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen durch das Verwaltungsgericht, Freizügigkeitsrecht, bulgarischer Staatsangehöriger, Ablehnung von Hilfsbeweisanträgen, Prognose zur Wiederholungsgefahr, Beweisantrag, Einholung eines Sachverständigengutachtens, spezialpräventive Gründe, erforderliche Therapie
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 23.11.2023 – M 12 K 23.224
Fundstelle:
BeckRS 2024, 23866

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
IV. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren wird abgelehnt.

Gründe

1
Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein bulgarischer Staatsangehöriger, seine in erster Instanz erfolglose Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 14. Dezember 2022 weiter, mit dem festgestellt wurde, dass er sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ihm die Einreise und der Aufenthalt im Bundesgebiet für sieben Jahre untersagt und die Abschiebung nach Bulgarien angedroht wurde. Anlass der behördlichen Entscheidung war die Verurteilung des Klägers vom 8. März 2022 wegen sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das klageabweisende Urteil ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich keine Gründe hierfür. In der Begründung des Antrags sind – entgegen der Vorschrift in § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO – keine Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 VwGO genannt. Zu Gunsten des Klägers kann dem Vorbringen jedoch entnommen werden, dass wohl ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und das Vorliegen eines Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) geltend gemacht werden sollen.
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1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG, B.v. 20.12.2010 – 1 BvR 2011/10 – juris Rn. 17; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist hier nicht der Fall.
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Die Begründung des Zulassungsantrags wendet sich in ihrem Abschnitt B. (allein) gegen die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts.
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Bei einer auf spezialpräventive Gründe zu stützenden Verlustfeststellung (§ 6 Abs. 2 FreizügG/EU) hat das Verwaltungsgericht eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Dabei sind die besonderen Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Umstände der Begehung der Straftat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, siehe z.B. BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 27). Der Stand einer eventuellen Therapie ist dabei genauso zu berücksichtigten wie die Führung des Betreffenden in der Haft. Maßgeblich ist aber in jedem Fall der aktuelle Stand zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Von einem Fortfall der Wiederholungsgefahr kann nicht ausgegangen werden, solange der Kläger nicht eine erforderliche Therapie erfolgreich abgeschlossen und – darüber hinaus – die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 1.3.2019 – 10 ZB 18.2494 – juris Rn. 10).
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Gemessen daran bestehen im Fall des Klägers auch noch zum Zeitpunkt der Senatsentscheidung keine Zweifel an der im erstinstanzlichen Urteil prognostizierten Wiederholungsgefahr.
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Dabei ist zunächst festzustellen, dass das Verwaltungsgericht die Verlustfeststellung zu Recht nur an § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU gemessen und einen besonderen Schutz nach § 6 Abs. 4 oder Abs. 5 FreizügG/EU verneint hat. Der Kläger hat hiergegen nichts vorgetragen. Die bloße Erwähnung der „zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit“ (und damit der Anforderungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU) genügt hierzu nicht.
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In seiner Gefahrenprognose hat das Verwaltungsgericht ausführlich und umfassend dargelegt, dass zu seiner Überzeugung zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom Kläger eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung ausgehe, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Es bestehe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass von ihm bei einem Verbleib im Bundesgebiet die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Sexualdelikte, ausgehe. Das Verhalten des Klägers lege eine hohe Rückfallgefahr nahe. Er sei während seines bis dahin knapp zehnjährigen Aufenthalts vor der anlassgebenden Straftat schon elf Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten, wobei er eine beachtliche Bandbreite von verschiedenen Straftaten begangen habe; auch eine einschlägige Vorahndung liege vor. Jedoch hätten weder die vorangegangenen Verurteilungen noch die ausländerbehördliche Verwarnung den Kläger davon abgehalten, erneut Straftaten zu begehen, wobei er seine Delinquenz noch gesteigert habe. Er habe eine beachtliche Rückfallgeschwindigkeit und hohe kriminelle Energie gezeigt. Nicht einmal während der Haft habe er sich beanstandungsfrei geführt, sondern sei mehrfach disziplinarisch belangt worden. Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit seinen Taten sei nicht zur erkennen. Nach der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt zeige der Kläger keinen Willen zur Tataufbereitung und eine unzureichende Verantwortungsübernahme. Das zeige, dass er nach wie vor nicht in der Lage sei, sich kritisch mit seinem Verhalten auseinanderzusetzen, eigene Fehler einzugestehen und Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Dies sei nach Überzeugung des Gerichts jedoch Grundvoraussetzung dafür, dass eine nachhaltige Verhaltensänderung hin zu einem straffreien Leben tatsächlich erfolgen könne. Seine Taten zeigten eine Missachtung gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung anderer, die eine erneute Begehung einer ähnlichen Tat befürchten lasse, wenn sich ihm eine vergleichbare Situation biete. Die in der Haft durchgeführte Indikationsprüfung habe die Notwendigkeit einer sozialtherapeutischen Maßnahme für Sexualstraftäter ergeben. Diese habe der Kläger bisher noch nicht einmal angetreten. Es spiele dabei keine Rolle, dass er nach seinem Vortrag gar nicht die Möglichkeit dafür bekommen habe. Maßgeblich sei im Rahmen des Sicherheitsrechts allein die Frage, ob von dem Kläger eine Wiederholungsgefahr ausgehe; die Gründe, warum er eine Gefahr darstelle, seien unerheblich. Ohne den Abschluss der indizierten Therapie, deren Notwendigkeit auch die Klägerseite nicht bestreite, liege weiterhin eine Wiederholungsgefahr vor.
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Aus dem Vortrag im Zulassungsverfahren ergibt sich nichts, was die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur Beurteilung der vom Kläger weiterhin ausgehenden Gefahr durchgreifend in Frage stellen könnte. Darin wird darauf hingewiesen, dass der Kläger die Freiheitsstrafe in vollem Umfang habe verbüßen müssen, weil eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht bewilligt worden sei. Es sei ihm also nicht die Möglichkeit eingeräumt worden, sich in Freiheit zu bewähren. Nach seiner Entlassung im Dezember 2023 seien Auflagen für die Führungsaufsicht angeordnet worden; diese verlaufe seither ohne Probleme, er sei auch dabei, eine Therapie aufzunehmen. Er sei therapeutisch angebunden und setze sich kritisch mit seinem Verhalten auseinander. Die Strafvollstreckungskammer habe ausschließlich mit dem Tatgeschehen der abgeurteilten Straftat argumentiert und dabei einige Aspekte nicht berücksichtigt.
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Die Gefahrenprognose wird jedoch bestätigt durch den Verlauf und das Ergebnis der vollzogenen Freiheitsstrafe. Bereits die Justizvollzugsanstalt hat in ihrer Stellungnahme vom 5. Oktober 2023, die das Verwaltungsgericht in seine Entscheidung einbezogen hat, dem Kläger eine negative Sozialprognose gestellt. Er sei mehrfach disziplinarisch geahndet worden. Die sozialtherapeutische Indikationsprüfung habe die Notwendigkeit einer sozialtherapeutischen Maßnahme für Sexualstraftäter ergeben, wobei ein moderates bis hohes Rückfallrisiko festgestellt worden sei. Alle notwendigen therapie- und sozialintegrativen Maßnahmen seien an der „bevorstehenden Ausweisung“, dem instabilen Umfeld und der unzureichenden Verantwortungsübernahme gescheitert. Abseits einer kurzen Beschäftigung in der Arbeitstherapie zeige der Kläger keine Integrationsbemühungen und keinen Willen zur Tataufarbeitung.
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Auch aus dem vom Kläger selbst vorgelegten Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 5. Dezember 2023 – kurz vor seiner Entlassung aus dem Strafvollzug – lässt sich eine hohe Rückfallgefahr erkennen. Gemäß diesem Beschluss entfällt die Führungsaufsicht nicht und wird die Höchstdauer von fünf Jahren nicht abgekürzt; weiter wurde dem Kläger unter anderem aufgegeben, keine alkoholischen Getränke oder Betäubungsmittel zu sich zu nehmen und sich bei verschiedenen Therapieeinrichtungen vorzustellen. In den Gründen weist die Strafvollstreckungskammer darauf hin, dass eine positive Sozialprognose nicht mehr gestellt werden könne; die Weisungen bezüglich Therapien seien wegen der „unbehandelten Sexual- und Gewaltproblematik“ bzw. wegen der „unbehandelten Alkoholproblematik“ des Klägers erforderlich.
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Wie bereits erwähnt, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Kläger eine notwendige Therapie nicht erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, indem er sich insbesondere außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat. Davon kann beim Kläger, der bisher weder die notwendige Therapie für Sexualstraftäter noch eine Alkoholtherapie absolviert hat und noch nicht einmal den Antritt einer solchen Therapie belegt hat, nicht die Rede sein. Unerheblich ist dabei, wie das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, weshalb eine Therapie nicht zustande gekommen ist. Im Übrigen geht aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt nicht hervor, dass eine Therapie allein wegen der „bevorstehenden Ausweisung“ nicht zustande gekommen wäre, vielmehr werden insoweit auch das instabile (familiäre) Umfeld und die unzureichende Bereitschaft des Klägers, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, als Ursachen angeführt.
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Schließlich kann auch nicht davon gesprochen werden, dass die Zeit seit seiner Entlassung „ohne Probleme“ verlaufen sei, weshalb unabhängig von dem bisher seit seiner Entlassung im Dezember 2023 erst kurzen verstrichenen Zeitraum von einer Bewährung in Freiheit nicht ansatzweise ausgegangen werden kann. Aus einer von der Beklagten übermittelten Mitteilung der AG HEADS (Haftentlassenenauskunftsdatei Sexualstraftäter) beim Polizeipräsidium München vom 26. August 2024 geht hervor, dass der Kläger häufiger gegen das Alkoholabstinenzgebot aus dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer verstoße, wie sich aus Gesprächen mit ihm ergeben habe; im Mai 2024 sei er vormittags auf einem Kinderspielplatz angetroffen worden, als er Bier getrunken habe.
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Die eher vagen und unsubstantiierten Einwendungen gegen die Bewertung der Straftat durch die Strafvollstreckungskammer bzw. durch das Strafgericht selbst in dem Urteil vom 8. März 2022 bagatellisieren die Straftat und haben keinen Bezug zu einer Beurteilung einer Wiederholungsgefahr.
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Hinsichtlich der Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde, insbesondere zu ihrer Verhältnismäßigkeit, sowie zur Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots einschließlich dessen Befristung enthält die Begründung des Zulassungsantrags keinerlei Ausführungen.
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2. Auch ein beachtlicher Verfahrensmangel im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor. Der Kläger rügt insofern die Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), weil das Verwaltungsgericht vier in der mündlichen Verhandlung gestellte Hilfsbeweisanträge abgelehnt hat.
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Zwar gilt auch für hilfsweise gestellte Beweisanträge, dass Art. 103 Abs. 1 GG verletzt wird, wenn ihnen nicht nachgegangen wird, obgleich dies im Prozessrecht keine Stütze findet, also ein Beweisantrag in willkürlicher Weise als unerheblich qualifiziert wird (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2019 – 10 ZB 19.625 – juris Rn. 5). Das Verwaltungsgericht hat die Hilfsbeweisanträge des Klägers jedoch zu Recht abgelehnt.
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a) Die Beweisanträge, von einem namentlich benannten Bediensteten der Justizvollzuganstalt L. eine Stellungnahme darüber einzuholen, dass der Kläger „keine Möglichkeit zu einer sozialtherapeutischen Maßnahme in Bezug auf die vorliegende Verurteilung und das zugrundeliegende Tatgeschehen erhalten hat“ (Nr. 1) bzw. diesen Mitarbeiter dazu anzuhören, „dass dem Kläger wegen der Ausweisung keinerlei Möglichkeit gegeben wurde, eine Sozialtherapie/psychosoziale Therapie in der JVA R. – JVA L. wahrzunehmen“, wobei „es nie um den mangelnden Willen des Klägers, sondern um die Ausweisung“ gegangen sei (Nr. 2), hat das Verwaltungsgericht zu Recht abgelehnt, weil sie für den Fall nicht entscheidungserheblich sind. Für die Gefahrenprognose hinsichtlich einer fortdauernden Gefährlichkeit des Klägers ist es nicht erheblich, aus welchen Gründen letztlich eine erforderliche Therapie nicht zustande gekommen ist.
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b) Auch der Beweisantrag, „dass die Anordnung einer Therapie durch die Strafvollstreckungskammer erfolgen wird, am 4. Dezember 2023 oder danach, und Anordnung der Führungsaufsicht, damit ggf. durch weitere Maßnahmen die Wiederholungsgefahr ausgeschlossen werden kann (polizeiliche Überwachung des Klägers) mit Zustimmung des Klägers/Fußfessel“ (Nr. 3) ist fehlerfrei abgelehnt worden. Das Verwaltungsgericht hat darauf hingewiesen, dass schon kein konkretes Beweismittel benannt worden sei, weshalb kein Beweisantrag im Sinn von § 86 Abs. 2 VwGO vorliege. Der Kläger ist der Meinung, dass das Verwaltungsgericht insoweit einen Hinweis hätte erteilen müssen. Darauf kommt es jedoch nicht an, denn das Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass es darüber hinaus unerheblich sei, ob durch die Strafvollstreckungskammer eine Therapie bzw. Führungsaufsicht angeordnet werden wird, weil selbst in diesem Fall zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt die Wiederholungsgefahr fortbestehe, da der Kläger noch keine Therapie abgeschlossen habe. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass der Beweisantrag auch deswegen ungeeignet und damit unzulässig ist, weil er sich im Wesentlichen auf in der Zukunft liegende Sachverhalte bezieht, die naturgemäß einem Tatsachenbeweis nicht zugänglich, sondern Gegenstand einer Prognose sind, die wiederum Aufgabe des erkennenden Gerichts ist.
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c) Durch weiteren Beweisantrag wurde beantragt „die Einholung einer Stellungnahme des kbo zu dem Bericht 30. Juni 2020 in Ergänzung zum Beweis dafür, dass bei dem Kläger nach Verbüßung von zwei Jahren und drei Monaten Haft keine Gefahr weiterer sexueller Straftaten/Strafverfahren besteht durch Einholung eines Gutachtens mit Zustimmung des Klägers durch […] unter Berücksichtigung des Berichts der JVA Landsberg und der Stellungnahme. Der Kläger ist ohne jegliche soziale Bindungen in seinem Geburtsland.“ (Nr. 4; Wortlaut gemäß Protokoll der mündlichen Verhandlung).
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Der Kläger ist der Meinung, das Verwaltungsgericht hätte diesen Beweisantrag nicht unter Berufung auf eigene Sachkunde ablehnen dürfen, sondern hätte wegen der Beurteilung einer schwierigen Ausgangslage einen Sachverständigen beiziehen müssen.
22
Jedoch können die Verwaltungsgerichte nach ständiger Rechtsprechung einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens im Allgemeinen nach tatrichterlichem Ermessen oder mit dem Hinweis auf die eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 11 m.w.N.; BVerwG, B.v. 9.12.2019 – 1 B 74.19 – juris Rn. 5). Bei der gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung bzw. der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines strafgerichtlich verurteilten Ausländers, bei der hinsichtlich der gebotenen Gefahrenprognose nicht allein auf das Strafurteil und die diesem zugrunde liegende Straftat, sondern auf die Gesamtpersönlichkeit des Ausländers abzustellen ist und auch nachträgliche Entwicklungen einzubeziehen sind, bewegt sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die dem Richter allgemein zugänglich sind (stRspr des Senats, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 28.7.2022 – 10 ZB 22.1505 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 16.7.2019 – 10 ZB 19.1208 – juris Rn. 7 m.w.N.). Der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedarf es nur ausnahmsweise, wenn die Prognose aufgrund besonderer Umstände – etwa bei der Beurteilung psychischer Erkrankungen – nicht ohne spezielle, dem Gericht nicht zur Verfügung stehende fachliche Kenntnisse erstellt werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 9.12.2019 – 1 B 74.19 – juris Rn. 5; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 12 jeweils m.w.N.; BayVGH, B.v. 23.1.2020 – 10 ZB 19.2235 – juris Rn. 8).
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Hiervon ausgehend war bzw. ist weder mit dem Beweisantrag selbst noch mit dem Zulassungsvorbringen schlüssig dargetan, dass von einem derartigen Sonderfall auszugehen wäre, der die Hinzuziehung eines Sachverständigen erforderlich gemacht hätte. Die Geltendmachung einer nicht weiter begründeten „schwierigen Ausgangslage“ reicht hierfür nicht. Aus dem Arztbericht des kbo-I.-A.-Klinikums M.-N. vom 30. Juni 2020, auf den sich der Kläger beruft, ergibt sich gerade keine psychische Erkrankung. Eine Therapiebedürftigkeit des Klägers ergibt sich vielmehr aus der im Rahmen des Strafvollzugs festgestellten Indikation für sozialtherapeutische Maßnahmen für Sexualstraftäter und aus seiner unbehandelten Alkoholproblematik, die die Strafvollstreckungskammer auch ihrem Beschluss vom 5. Dezember 2023 zugrunde gelegt hat. Die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen hinsichtlich der Gefahrenprognose konnte das Verwaltungsgericht ohne Zuziehung eines Sachverständigen treffen.
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3. Bei den Ausführungen unter D. in der Begründung des Zulassungsantrags handelt es sich um abstrakte, lehrbuchartige Ausführungen zur „Ausweisung“ eines freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgers (offensichtlich bereits älteren Datums, wie die mehrfache Zitierung von Vorschriften des Ausländergesetzes 1990 erkennen lässt). Ein Bezug zu einem der Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 VwGO ist nicht erkennbar.
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4. Der Antrag auf Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung an die erste Instanz ist im Verfahren über die Zulassung der Berufung nicht statthaft. Eine solche Entscheidung könnte erst als Ergebnis der (zugelassenen) Berufung ergehen (siehe § 130 Abs. 2 VwGO).
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
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6. Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Rechtsmittelverfahren war abzulehnen, weil der Antrag auf Zulassung der Berufung aus den dargelegten Gründen keine hinreichenden Erfolgsaussichten hat (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).