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VG München, Beschluss v. 06.09.2024 – M 3 E 24.5360
Titel:

Gastschulantrag, Zwingender persönlicher Grund, Nachgewiesene Schwerbehinderung

Normenketten:
BayEUG Art. 43 Abs. 1
VwGO § 123
Schlagworte:
Gastschulantrag, Zwingender persönlicher Grund, Nachgewiesene Schwerbehinderung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 23768

Tenor

I. Die Antragstellerin ist vorläufig bis zur Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 4. September 2024 bzw. bis zur rechtskräftigen Entscheidung darüber der gastweise Schulbesuch der Grundschule K. zu gestatten.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Der Streitwert wird auf EUR 2.500 festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt die vorläufige Gestattung des gastweisen Schulbesuchs der Grundschule K. im Schuljahr 2024/2025. Sprengelschule wäre die Grundschule an der W. in S.
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Mit Schreiben vom 12. März 2024, eingegangen bei der Antragsgegnerin am 13. Mai 2024, wurde der Gastschulbesuch in der Grundschule K. zur 1. Jahrgangsstufe beantragt. Zur Begründung wird neben bereits gefundenen sozialen Kontakten im anderen Sprengelbereich auf den längeren und schwierigeren Schulweg zur Sprengelschule verwiesen.
3
Die Sprengelschule hat sich am 2. Mai 2024 mit dem Antrag nicht einverstanden erklärt. Das Schulhaus und die Organisation des Schulablaufes der Sprengelschule seien für Schülerinnen und Schüler mit einem Problem im Bereich Sehen besser geeignet. Dem hat sich die Grundschule K. am 6. Mai 2024 unter Verweis auf die Einschätzung der Sprengelschule angeschlossen. Die beigeladene Gemeinde K. als Schulaufwandsträgerin hat sich dem ohne weitere Begründung am 15. Juli 2024 ebenso angeschlossen.
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Unter Bezug auf eine zuvor vorgelegte Stellungnahme des LMU-Klinikums vom 24. Juni 2024 entgegnete die Mutter der Antragstellerin am 28. Juli 2024, letztere sei aufgrund diverser Schnuppertage mit dem Schulhaus in K. vertraut. Weder ihre Erzieherinnen noch die Eltern sähen ein Problem mit den Bedingungen im Schulhaus. Die Antragstellerin sehe genug, um sicher Treppen zu steigen und lasse sich auch vom Gedränge nicht beirren. Das Problem liege vielmehr beim Schulweg. Dieser berge insbesondere beim morgendlichen Berufsverkehrs, im Dunkeln und bei Glätte auch aufgrund der muskulären Hypotonie der Antragstellerin ein hohes Sturzrisiko.
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Am 16. August 2024 erklärte die Sprengelschule, sie halte beide Schulweg für möglich und somit beide Schuloptionen.
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Am 21. August 2024 wies die Grundschule K. darauf hin, dass ihr Schulgebäude aufgrund eines engen Treppenhauses mit vielen Treppenstufen und über mehrere Stockwerke verteilte Klassenräume nicht auf die Bedürfnisse der Antragstellerin ausgelegt sei. Die Antragstellerin hätte die steilen Treppen mehrmals täglich zurückzulegen, um etwa in die Räume für den Fachunterricht zu kommen. Die Schule sei schon mangels Aufzug nicht barrierefrei.
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Am 2. September 2024 wiederholte die beigeladene Gemeinde K. ihre ablehnende Position unter Verweis auf die Begründungen der beiden Schulleitungen.
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Mit Bescheid vom 4. September 2024 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf gastweisen Schulbesuch mit der Begründung ab, die beigeladene Schulaufwandsträgerin habe ihr Einvernehmen nicht erteilt, weshalb der Gastschulantrag nicht genehmigungsfähig gewesen sei.
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Gegen diesen Bescheid wurde durch den Bevollmächtigten der Antragstellerin am selben Tag Widerspruch eingelegt, über den bislang nach Kenntnis des Gerichts noch nicht entschieden wurde.
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Der Bevollmächtigte der Antragstellerin beantragt mit noch am 4. September 2024 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangenem Schreiben,
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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin vorläufig im Schuljahr 2024/2025 den gastweisen Schulbesuch der Grundschule K. zu gestatten.
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Zur Begründung wird vorgetragen, es liege ein zwingender persönlicher Grund im Sinne des Art. 43 Abs. 1 Satz 1 BayEUG vor, da der Antragstellerin aufgrund ihrer Sehbehinderung (insbesondere auch Visusminderung, Strabismus und verminderter Augenbeweglichkeit) und weiterer Erkrankungen bzw. Behinderungen (insbesondere auch Muskelhypotonie) nur der Schulweg zur gewünschten Gastschule, nicht aber zur Sprengelschule zumutbar sei und die eigenständige Bewältigung des Schulweges auch aus Gründen der Teilhabe sowie der Erlangung einer möglichst hohen Selbständigkeit geboten sei.
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Aus der vorgelegten Stellungnahme des LMU-Klinikums vom 24. Juni 2024 würden folgende Empfehlungen hervor gehen (siehe Seite 10, Punkt 5): kürzest möglicher Schulweg zur Minimierung der Herausforderung bei visueller Beeinträchtigung, Weg durch möglichst verkehrsberuhigte Zone und ohne Notwendigkeiten zum Queren von befahrenen Straßen aufgrund von Einschränkungen im räumlichen Sehen und Schwierigkeiten beim Abschätzen von Distanzen von Autos, möglichst wenig, am besten gar kein Gefälle oder Steigungen aufgrund von verstärkter motorische Unsicherheit bei Höhenunterschieden, sowie die vertraute Unterstützung von Nachbarskindern, welche nach Angaben der Mutter die Schule K. besuchen würden.
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Die Sprengelgrenze verlaufe in unmittelbarer Nachbarschaft zum Wohnhaus der Antragstellerin. Der Schulweg nach K. sei ihr überdies vom Weg zum Kindergarten bereits bekannt.
15
Der Schulweg zur Sprengelschule sei mit 1,1 km im Vergleich zum Schulweg zur Gastschule mit 400 Metern bereits mehr als doppelt so lang und stelle damit schon nicht den kürzest möglichen Schulweg dar, wie sich aus den vorgelegten Karten ergebe.
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Mit Beschluss vom 5. September 2024 hat das Gericht die Gemeinde K. beigeladen.
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Die Antragsgegnerin hat die Akten vorgelegt und darauf verwiesen, aufgrund des fehlenden Einvernehmens der Beigeladenen den Antrag nicht positiv verbescheiden zu können.
18
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie verweist darauf, dass das Schulgebäude der Gastschule nicht barrierefrei und für ein visuell eingeschränktes Kind nicht ausreichend beleuchtet sei. Die Treppenstufen seien steil, nicht markiert und somit nicht räumlich abgrenzbar und auch nicht außerordentlich rutschfest. Es bestehe kein durchgehender Handlauf sowie reger Betrieb auf den Gängen. Dies führe zu einem erhöhten individuellen Gefahrenpotenzial für die Antragstellerin. Mit einem Individualbegleiter würde auch der längere Schulweg kein Problem darstellen.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte verwiesen, insbesondere auf die Stellungnahme des LMU-Klinikums vom 24. Juni 2024.
II.
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1. Der zulässige Antrag ist begründet.
21
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Eine einstweilige Anordnung ergeht, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs, d.h. des in der Hauptsache verfolgten materiellen Anspruchs, sowie eines Anordnungsgrundes, d.h. der Dringlichkeit der einstweiligen Anordnung, glaubhaft (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO) gemacht wurden. Eine einstweilige Anordnung hat sich nach dem Wortlaut des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO und entsprechend dem Sicherungszweck des Anordnungsverfahrens grundsätzlich auf die Regelung eines vorläufigen Zustandes zu beschränken, die der Entscheidung über das Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren nicht vorgreifen darf. Eine solche Vorwegnahme der Hauptsache ist im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO nur ausnahmsweise zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) zulässig. Dies setzt voraus, dass anderenfalls schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile drohen, die durch die Hauptsacheentscheidung nicht mehr beseitigt werden können, und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit dafür spricht, dass der mit der Hauptsache verfolgte Anspruch begründet ist (BVerwG, U.v. 18.4.2013 – 10 C 9/12 – juris; BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris; Happ in Eyermann, 16. Aufl. 2022, § 123 VwGO Rn. 66a; Kuhla in BeckOK VwGO, Stand: 1.7.2024, § 123 Rn. 156, 157).
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Im vorliegenden Fall liegt die für eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache vor. Es besteht voraussichtlich ein Anspruch auf den Besuch der Gastschule. Zwar ist die allein aufgrund des verweigerten Einvernehmens der Beigeladen getroffene Ablehnungsentscheidung der Antragsgegnerin wohl in nicht zu beanstandender Weise erfolgt. Die Verweigerung des Einvernehmens der Beigeladenen erscheint bei summarischen Prüfung jedoch als rechtswidrig und kann durch das Gericht ersetzt werden (VG Regensburg, B.v. 10.7.2023 – 3 E 23.964 – juris Rn. 26 m.w.N.; Lindner/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, AL 264, Art. 43 BayEUG Erl. 2.2.2).
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a) Nach Art. 43 Abs. 1 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 31. Mai 2000 (GVBl. S. 414, 632, BayRS 2230-1-1-K), zuletzt geändert durch die Gesetze vom 23. Juli 2024 (GVBl. S. 257, 263), kann von der Gemeinde, in der der Schüler oder die Schülerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, im Einvernehmen mit dem aufnehmenden Schulaufwandsträger nach Anhörung der betroffenen Schulen auf Antrag der Erziehungsberechtigten aus zwingenden persönlichen Gründen der Besuch einer anderen Grundschule mit einem anderen Sprengel gestattet werden.
24
Liegen zwingende persönliche Gründe vor, so ist dem Gastschulantrag im Wege einer Ermessenreduzierung auf Null bzw. eines intendierten Ermessens stattzugeben. Lediglich im Fall von – hier weder dargelegten noch ersichtlichen – gewichtigen schulorganisatorischen Belangen, wie insbesondere das aus einer Genehmigung resultierende Erfordernis zur Bildung oder Auflösung von Klassen, kann eine Antragsablehnung ausnahmsweise gerechtfertigt sein (ausführlich: Lindner/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, AL 264, Art. 43 BayEUG Erl. 2.1.4).
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Zwingende persönliche Gründe liegen nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (vgl. B.v. 5.9.2023 – 7 CE 23.1299 – juris Rn. 7; B.v. 18.5.2020 – 7 ZB 19.1673 – juris Rn. 7 m.w.N.) dann vor, wenn die persönlichen Nachteile beim Besuch der zuständigen Sprengelschule deutlich schwerer wiegen als das öffentliche Interesse an der Einhaltung der Sprengelpflicht. Für den gastweisen Besuch einer anderen Grundschule muss danach eine individuelle Ausnahmesituation vorliegen, die es unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unzumutbar macht, die zuständige Sprengelschule zu besuchen. Das ist nicht schon bei allgemein auftretenden Schwierigkeiten der Fall, die eine größere Zahl von Eltern und Schülern betreffen. Es muss sich vielmehr um besondere, individuelle Umstände handeln, die eine vom Normalfall abweichende, durch den Besuch der Sprengelschule bedingte Belastung ergeben, wofür ein strenger Maßstab anzulegen ist. Werden dafür – wie vorliegend – gesundheitliche Gründe angeführt, ist dies durch aktuelle und aussagekräftige Nachweise zu belegen.
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Beim Erfordernis der „zwingenden persönlichen Gründe“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vom Verwaltungsgericht voll überprüfbar ist und bei dem der Gemeinde kein Beurteilungsspielraum zukommt (vgl. Lindner/Stahl, Das Schulrecht in Bayern, AL 264, Art. 43 BayEUG Erl. 2.2.3 (2)).
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b) Hier liegt nach summarischer Prüfung eine solche individuelle Ausnahmesituation vor, die aus zwingenden persönlichen Gründen der Antragstellerin die Abweichung von der Sprengelpflicht rechtfertigt.
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Die Erkrankung der Antragstellerin ist durch die ärztliche Stellungnahme des LMU-Klinikums vom 24. Juni 2024, die auch die Diagnosen enthält, glaubhaft gemacht. Insbesondere ist für das Gericht überzeugend dargelegt, wieso hier im Einzelfall aufgrund der bestehenden Beeinträchtigungen der Antragstellerin der Weg zur Sprengelschule unzumutbar ist.
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Der Schulweg zur Sprengelschule ist nicht nur fast dreimal so lang, sondern weist auch bei der S-Bahn-Unterführung für Menschen mit Beeinträchtigungen nicht unerhebliches Gefälle bzw. Steigungen auf. Der Weg zur Gastschule führt nach den vorgelegten Bildern überwiegend durch eine gerade „Spielstraße“ und ermöglicht Querungen unmittelbar vor der Schule mittels „Zebrastreifen“. Damit entspricht dieser Weg eindeutig besser den ärztlichen Empfehlungen, die explizit verkehrsberuhigte Bereiche und möglichst kein Gefälle notwendig erachten (s. Seite 10 der Stellungnahme des LMU-Klinikums). Diese Ansicht wird aus Sicht des Gerichts auch dadurch untermauert, dass ein aktueller Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von 60 vorgelegt wurde. Dieser enthält das Merkzeichen „G“. Dies bedeutet, dass die Bewegungsfähigkeit der behinderten Person im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Zwar mag das Schulhaus der Gastschule keine idealen Bedingungen hinsichtlich Barrierefreiheit aufweisen, allerdings überwiegt hier der kürzere und den ärztlichen Empfehlungen eher entsprechende Schulweg. Die Empfehlungen stützen sich auch maßgeblich auf diesen Aspekt, nicht aber auf Erfordernisse an die Beschaffenheit des Schulgebäudes. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass potentielle Unfälle im Straßenverkehr ein weit höheres Gefahrenpotential – bis hin zur Lebensgefährlichkeit -aufweisen. Die Einlassung der Mutter der Antragstellerin, ihre Tochter komme mit dem Treppensteigen gut zurecht wird auch ärztlicherseits gestützt. So wurde auf Seite 5 der Stellungnahme als Untersuchungsergebnis festgehalten: „Treppe ohne Halt im Wechselschritt treppauf und auch treppab“.
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Auch lässt der Fall aufgrund der sehr individuellen Umstände keine Bezugsfallwirkung durch weitere Schülerinnen und Schüler aus der Nachbarschaft befürchten, die das Interesse an der Einhaltung der Sprengelplicht nachhaltig beeinträchtigen würden.
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Dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird daher, wie aus dem Tenor ersichtlich, stattgegeben.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene mangels Antragstellung keinem Kostenrisiko ausgesetzt war (§ 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, ihre Kosten nicht als erstattungsfähig anzusehen.
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3. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Vorschriften des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.