Titel:
Asylrecht, Tansania, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität (glaubhaft)
Normenkette:
AsylG § 3
Schlagworte:
Asylrecht, Tansania, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Homosexualität (glaubhaft)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22970
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 11. Oktober 2023 wird mit Ausnahme von Nummer 2 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die tansanische Klägerin wendet sich gegen den ablehnenden Asylbescheid der Beklagten.
2
Wegen des Sachverhalts wird zunächst auf die Feststellungen des angefochtenen Bescheids der Beklagten vom 11. Oktober 2023, mit dem der Asylantrag der Klägerin abgelehnt sowie die Abschiebung nach Tansania angedroht worden ist, Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG). Bei der Anhörung bei der Beklagten am 17. Mai 2023 gab die Klägerin im Wesentlichen an, in Tansania eine gleichgeschlechtliche Beziehung gehabt zu haben, die entdeckt worden sei. Sie befürchte daher, wegen ihrer homosexuellen Orientierung in Tansania verfolgt zu werden.
3
Die Klägerin hat mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 19. Oktober 2023, eingegangen bei dem Verwaltungsgericht München am gleichen Tag, Klage erhoben. Sie beantragt,
4
1. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2023 wird aufgehoben.
5
2. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
6
3. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
7
4. Hilfsweise: Es wird festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG vorliegen.
8
Zur Begründung der Klage wird auf die bisherigen Angaben der Klägerin Bezug genommen. Zudem wird eine Kopie einer Anzeige in der Zeitung „T … …“ vom … Juli 2024, aus der sich ergibt, dass die Klägerin polizeilich gesucht wird, vorgelegt. Ferner wird eine Bescheinigung eines tansanischen Rechtsanwalts vom 10. Juli 2024 übermittelt, der ein laufendes polizeiliches Verfahren gegen die Klägerin bestätigt.
9
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2023:
10
Die Klage wird abgewiesen.
11
Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
12
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 2. Mai 2024 auf die Berichterstatterin als Einzelrichterin übertragen.
13
In der mündlichen Verhandlung vom 7. August 2024 ist die Klägerin ausführlich informatorisch gehört worden. Die Beklagte ist nicht erschienen.
14
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte, insbesondere das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 7. August 2024, sowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
15
1. Über die Klage kann trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden. Die Beklagte ist zum Termin ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen des Ausbleibens hingewiesen worden. Sie hat mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2023 auf Ladung gegen Zustellnachweis verzichtet.
16
2. Die zulässige Klage hat im Hauptantrag Erfolg, so dass über die gestellten Hilfsanträge nicht mehr zu entscheiden ist. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid der Beklagten vom 11. Oktober 2023 ist daher, soweit angefochten, d.h. mit Ausnahme der Ablehnung der Asylanerkennung in Nummer 2, rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
17
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
18
Gemäß § 3a Abs. 1 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann, z.B. der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch nichtstaatliche Akteure. Zwischen den Verfolgungsgründen und Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
19
Schutz vor Verfolgung kann nach § 3d Abs. 1 AsylG nur geboten werden, vom Staat (Nr. 1) oder von Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), sofern sie willens und in der Lage sind, Schutz zu bieten.
20
Dem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).
21
Eine begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris Rn. 19). Verfolgungsmaßnahmen sind beachtlich wahrscheinlich, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtung im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 32 m.w.N.).
22
Die Tatsache, dass ein Asylantragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat beziehungsweise von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei. Liegen beim Ausländer frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht vor erneuter Verfolgung im Falle der Rückkehr in sein Heimatland vor, so kommt ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU zugute. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Die Vermutung ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15).
23
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat die Klägerin wegen ihrer homosexuellen Orientierung einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
24
a) Homosexuelle bilden in Tansania eine soziale Gruppe im Sinn des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG. Da die sexuelle Orientierung ein für die Identität einer Person so bedeutsames Merkmal darstellt, dass die Person nicht zu einem Verzicht darauf gezwungen werden sollte, erlaubt das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, ferner die Feststellung, dass diese Personen eine deutlich abgegrenzte Gruppe bilden, die von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013, Rs. C-199/12 u.a. – juris Rn. 46 ff.).
25
Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die Gemeinschaft der Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Intersexual, Queer-Personen (LGBTIQ) in Tansania mit rechtlichen und sozialen Einschränkungen konfrontiert. Zwar existiert kein explizites Verbot von Homosexualität. Das tansanische Strafgesetzbuch sieht aber für „carnal knowledge against the order of nature“ (Geschlechtsverkehr wider die Natur) eine Freiheitsstrafe von 30 Jahren, für den Versuch bis zu 20 Jahre, vor. Das sansibarische Gesetzbuch schreibt hier eine Strafe von bis zu 14 Jahren Freiheitsentzug vor. „Gross indecency“ (grob unsittliches Verhalten) wird auf dem Festland und auf Sansibar mit bis zu 5 Jahren Gefängnis bestraft. Zusätzlich kriminalisiert Sansibar mit den „Acts of lesbianism“ gezielt Intimbeziehungen von Frauen. LGBTIQ-Personen sind zum Teil Polizeigewalt und Diskriminierungen im Gesundheitssektor ausgesetzt und Regierungsvertretende haben sich in der Vergangenheit gegen Homosexualität ausgesprochen. Ende 2019 erklärte der stellvertretende sansibarische Innenminister, alle Personen, die Homosexualität fördern, verhaften zu lassen. Human Rights Watch (HRW) beobachtete eine andauernde „institutionelle Homophobie“ und hält LGBTIQ-Personen in ruralen Gebieten für die am stärksten marginalisierten und isolierten Personen. Aufgrund der Kriminalisierung und Diskriminierung von Homosexualität ist die Mehrheit der LGBTIQ-Personen laut HRW gezwungen, ihre Identität zu verbergen und im Verborgenen zu leben. Zudem ist es seit dem Jahr 2016 zivilgesellschaftlichen Organisationen untersagt, HIV-Aufklärungsarbeit für homosexuelle Männer zu leisten, da dies von der Regierung als Förderung von Homosexualität betrachtet wird. Auch der Zugang zu HIV-Testzentren ist eingeschränkt und die Verteilung von Gleitmitteln als HIV-Prävention eingestellt worden. Es finden immer wieder polizeiliche Durchsuchungsaktionen bei Meetings, Räumlichkeiten von NGOs oder während Workshops statt. Nach einer Razzia in den Büros der Organisation Community Health Education Services and Advocacy (CHESA), die sich für die Rechte und gesundheitlichen Belange von LGBTIQ-Personen einsetzt, drohte der stellvertretende Gesundheitsminister Anfang 2017 mit der Veröffentlichung von Identitäten aus der LGBTIQ-Gemeinschaft. Im April 2019 wurde CHESA aus dem offiziellen Register mit der Begründung gestrichen, unethisches Verhalten befürwortet zu haben. Im Oktober 2018 kündigte der Regionalkommissar Daressalams Makonda an, eine Task Force einzusetzen, die LGBTIQ-Personen sowie Sexarbeiterinnen und -arbeiter identifizieren und verhaften sollte. Makonda rief die Zivilbevölkerung öffentlich dazu auf, LGBTIQ-Personen zu melden, verbunden mit der Warnung, dass das Zurückhalten von Informationen strafbar sei. Die tansanische Regierung distanzierte sich in einem öffentlichen Bericht von den Vorhaben Makondas, dennoch sollen Listen mit Namen von LGBTIQ-Personen in sozialen Medien veröffentlicht worden sein. Berichten zufolge sind tausende Nachrichten und hunderte Namen von LGBTIQ-Personen gemeldet worden. Festnahmen von Personen auf Grundlage der sexuellen Orientierung fanden in den letzten Jahren vermehrt statt. In Fällen, die bis zum Jahr 2012 auftraten, kamen Betroffene nach mehrtägigen Gefängnisaufenthalten oder der Zahlung von Bestechungsgeldern frei, eine Strafverfolgung erfolgte in keinem Fall. Mit dem Regierungsantritt Magufulis im Jahr 2015 verschärfte sich der strafrechtliche Umgang mit LGBTIQ-Personen. Die WHO berichtet von über 40 Festnahmen zwischen den Jahren 2016 und 2019 auf Sansibar, in Daressalam, Geita, Tanga und in ländlichen Gebieten in Nordtansania. Ein Großteil der festgenommenen Personen wurde für mehrere Tage festgehalten und für eine rektale Untersuchung in umliegende Krankenhäuser gebracht. Alle Personen wurden anschließend entlassen und mussten zum Teil eine Kaution zahlen. Betroffene berichteten von Misshandlungen und sexuellen Übergriffen durch Sicherheitskräfte und Mitinhaftierte. Auch homosexuelle Frauen sehen sich derartigen staatlichen Maßnahmen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgesetzt. Organisationen, die gezielt LGBTIQ-Personen unterstützen, sind in Tansania begrenzt und werden von der Regierung in der Regel nicht toleriert. Artikel 14, 1(a) des Non-Governmental Organizations Act, 2002 lehnt die Registrierung von Nichtregierungsorganisationen ab, wenn „die Tätigkeiten einer Nichtregierungsorganisationen nicht von öffentlichem Interesse sind oder gegen ein geschriebenes Gesetz verstoßen.“ Um das Verbot zu umgehen, agieren Organisationen zum Teil im Verborgenen oder verlegen ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf ähnliche Themen, wie Menschenrechte oder Gesundheitsbelange, um so eine offizielle Registrierung zu erlangen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 45 – Tansania – Allgemeine Situation und Menschenrechtslage, Stand: 11/ 2021, S. 22 ff.; vgl. auch: HRW, If we don’t get services, we will die – Tanzania’s Anti-LGBT Crackdown and the Right to Health, Februar 2020, S. 61 ff.).
26
b) Nach der sehr ausführlichen Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin homosexuell ist. Ihre diesbezüglichen Ausführungen waren glaubhaft.
27
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 – 9 B 239/89 – juris Rn. 3 m.w.N.; BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris Rn. 16) muss auch in Asylstreitigkeiten das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit – und nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Kläger behaupteten individuellen Schicksals erlangen, aus dem er seine Furcht vor politischer Verfolgung herleitet. Wegen der häufig bestehenden Beweisschwierigkeiten des Asylbewerbers kann schon allein sein eigener Tatsachenvortrag zur Asylanerkennung führen, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne „glaubhaft“ sind, dass sich das Tatsachengericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann. Wenn wegen Fehlens anderer Beweismittel nicht anders möglich, muss die richterliche Überzeugungsbildung vom Vorhandensein des entscheidungserheblichen Sachverhalts in der Weise geschehen, dass sich der Richter schlüssig wird, ob er dem Asylsuchenden glaubt. Daran kann er sich wegen erheblicher Widersprüche im Vorbringen des Asylbewerbers gehindert sehen, es sei denn, die Widersprüche und Unstimmigkeiten können überzeugend aufgelöst werden.
28
Zwar gelang es der Klägerin nicht, alle Ungereimtheiten zu den fluchtbegründenden Vorfällen in Tansania in der mündlichen Verhandlung auszuräumen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den geschilderten Angriff des Ehemanns ihrer Freundin M … auf sie und im Hinblick auf das behauptete polizeiliche Verfahren in S …
29
Aber unabhängig von der Glaubhaftigkeit der fluchtbegründenden Vorfälle steht es nach dem Gesamteindruck der Klägerin in der mündlichen Verhandlung und den weiteren Umständen des Einzelfalls zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin homosexuell ist und es ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität ist, ihre Homosexualität nach außen erkennbar durch Kontaktaufnahme zu anderen Frauen zu leben. Die Klägerin schilderte ihre sexuelle Orientierung in der mündlichen Verhandlung in glaubwürdiger Art und Weise, da sie ausführlich, authentisch und emotional mit vielen Details berichtete. Teilweise gab sie auch an, wenn sie etwas nicht wusste, auch wenn dies für sie ungünstig war.
30
Für das Gericht ist auch eine nachvollziehbare Auseinandersetzung der Klägerin mit ihrer Homosexualität erkennbar. Sie hat bereits in der Anhörung bei der Beklagten am 17. Mai 2023 geschildert, dass es für sie zunächst schwierig war, ihre „Gefühle rauszubringen“ (Anhörungsniederschrift, S. 5), was gerade in einer Gesellschaft wie der tansanischen mit einer feindseligen Einstellung gegenüber dem Thema Homosexualität verständlich ist. In gleicher Weise erscheint ihre Angabe in der mündlichen Verhandlung plausibel, dass sie bei Bemerken ihrer sexuellen Orientierung sich zwar „körperlich gut“ gefühlt habe, aber gleichzeitig an die Sitten ihres Landes gedacht habe, da Homosexualität in Tansania nicht akzeptiert sei. In der Anhörung vom 17. Mai 2023 schilderte sie in diesem Zusammenhang noch, dass sie „Angst“ vor der Reaktion ihrer Familie gehabt habe (Anhörungsniederschrift, S. 9).
31
Darüber hinaus berichtete die Klägerin ausführlich von ihren gleichgeschlechtlichen Beziehungen in Tansania. Eine Beziehung hatte sie bereits im Jahr 2000 mit S. …, die andere Beziehung war mit M. … in den Jahren vor ihrer Ausreise. Die Klägerin erzählte auch in glaubhafter Weise von ihren Beziehungen in Deutschland, zunächst zu E. … und aktuell zu A. … Dass die Klägerin gleichgeschlechtliche Beziehungen in Deutschland hat, ist auch durch die Psychologin von LeTRa Lesbenberatung (Beratungsstelle des LesCommunity e. V.), die in der mündlichen Verhandlung als Beistand der Klägerin beigezogen worden ist, bestätigt worden. Darüber hinaus schilderte die Psychologin, dass sie die Klägerin noch während ihrer Ehe mit ihrem Mann kennengelernt habe, sie also seit einigen Jahren kenne. Sie habe sie dabei unterstützt, dass ihre traditionelle Ehe geschieden werde. Sie erläuterte auch, dass die Klägerin in einer geschützten Unterkunft lebe, in der weit überwiegend homosexuelle Frauen lebten. Die Klägerin sei auch bei Community-Events anzutreffen. Aus fachlicher Sicht habe sie keinen Zweifel an der homosexuellen Orientierung der Klägerin. Diesen Eindruck habe sie durch zahlreiche Gespräche und aufgrund des Umstands, dass die Klägerin hier Freundinnen habe, gewonnen.
32
Der Annahme der homosexuellen Orientierung der Klägerin steht auch nicht entgegen, dass sie mit Männern verheiratet war. Ihre diesbezügliche Erklärung, dass sie einen Mann wegen ihrer „Kultur“ heiraten musste (Anhörungsniederschrift vom 17.5.2023, S. 9), erscheint angesichts der Haltung der tansanischen Gesellschaft gegenüber der Homosexualität nachvollziehbar. Insoweit passt auch ihre weitere Ausführung, dass sie sich hinter ihrem Mann „verstecken“ konnte (Anhörungsniederschrift vom 17.5.2023, S. 9). Vor dem Hintergrund der Haltung der tansanischen Gesellschaft ist es auch nicht unplausibel, dass die Klägerin erst spät, nämlich mit 35 Jahren, begann, ihre Homosexualität tatsächlich (mit ihrer Freundin S. ….) auszuleben.
33
Dieser Einschätzung steht ebenso nicht entgegen, dass die klägerische Schilderung ihrer sexuellen Orientierung bei der Anhörung bei der Beklagten am 17. Mai 2023 nicht sehr detailliert war. Insbesondere gab sie bei dieser Anhörung nicht an, bereits im Jahr 2000 eine Beziehung mit einer Frau in Tansania gehabt zu haben. Denn der Klägerin ist insoweit zuzugestehen, dass sie (neben der Beziehung zu M. ….) auch nicht gezielt nach einer weiteren gleichgeschlechtlichen Beziehung in Tansania gefragt worden ist. Auch erfolgten keine expliziten Fragen nach gleichgeschlechtlichen Beziehungen der Klägerin in Deutschland. Genauso ist die Klägerin nicht detaillierter nach ihrer sexuellen Entwicklung befragt worden, insbesondere erfolgten keine gezielten Nachfragen hierzu.
34
c) Vor diesem Hintergrund müsste die Klägerin bei einer Rückkehr nach Tansania wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinn von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 AsylG mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen, ohne dass sie Schutz im Sinne von § 3d AsylG erhalten könnte. Dieser Gefährdung könnte sich die Klägerin letztendlich nur dadurch entziehen, dass sie sich bei einer Rückkehr überhaupt nicht oder jedenfalls nicht entsprechend ihrer Orientierung sexuell betätigen würde, was ihr jedoch nicht zuzumuten ist. Die Klägerin kann aufgrund der dargestellten landesweit gegebenen Umstände auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden.
35
3. Da die Klägerin einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat, sind Nummern 1 und 3 bis 6 des angegriffenen Bescheids rechtswidrig und daher aufzuheben.
36
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
37
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.