Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 25.07.2024 – Au 9 K 24.30521
Titel:

Aufhebung einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung wegen nicht hinreichender Berücksichtigung des Kindeswohls und familiärer Bindungen

Normenketten:
AsylG § 34 Abs. 1
AufenthG § 59, § 60a Abs. 2
RL 2008/115/EG Art. 5 lit. a, lit. b
Leitsätze:
1. Liegen Kindeswohlbelange und familiäre Bindungen iSv Art. 5 lit. a, lit. b RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) vor, kann eine asylrechtliche Abschiebungsandrohung nicht auf § 34 Abs. 1 iVm § 59 AufenthG gestützt werden. (Rn. 45) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Art. 5 RL 2008/115/EG gebietet eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des von einer Rückkehrentscheidung betroffenen Minderjährigen. Dies gilt auch dann, wenn Adressat der Entscheidung nicht der Minderjährige selbst, sondern vielmehr dessen Eltern sind, sofern der Minderjährige über ein zumindest zeitweiliges Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat verfügt (EuGH BeckRS 2021, 3890). (Rn. 47) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie genügt es nicht, ein nachgeborenes Kind darauf zu verweisen, dass seinen familiären Belangen durch die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung seiner Eltern nach § 60a Abs. 2 AufenthG Rechnung getragen wird. Artikel 5 lit. a, lit. b RL 2008/115/EG steht einer nationalen Rechtsprechung entgegen, wonach die Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Belange beim Erlass einer Abschiebungsandrohung als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird (EuGH BeckRS 2023, 2302). (Rn. 49) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Das Kindeswohl ist stets bereits vor Erlass der eine Vollstreckungsgrundlage bildenden Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen (EuGH BeckRS 2021, 3890). (Rn. 49) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
Irak, Einreise auf dem Landweg, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine Anknüpfung an asylrechtlich relevantes Merkmal geltend gemacht, subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), Abschiebungsandrohung bei noch anhängigem Asylverfahren eines minderjährigen Kindes, irakische Staatsangehörige, nachgeborenes Kind, Asylverfahren, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie, Kindeswohl, familiäre Bindungen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 22495

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juni 2024 (Gz. 8578482-438) wird in Nrn. 5 und 6 aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Kläger als Gesamtschuldner zu 4/5 und die Beklagte zu 1/5. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren mit ihrer Klage die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Die sämtlich in ... (Irak) geborenen Kläger sind irakische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischem Glauben.
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Ihren Angaben zufolge reisten die Kläger am 29. Oktober 2021 erstmalig auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 30. Dezember 2021 Asylerstanträge stellten. Eine Beschränkung der Asylanträge gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Die persönliche Anhörung der Kläger zu 1) und 2) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 29. September 2022. Die Kläger zu 1) und 2) gaben im Wesentlichen asylbegründend an, dass sie aufgrund der Sicherheitslage und der wirtschaftlichen Situation im Irak ausgereist seien. Es gebe im Irak keine Sicherheit. Es gebe dort ständig Konflikte mit PKK, IS, Türkei, Iran und den schiitischen Milizen Hashd al Shaabi. Im Irak gebe es keine Zukunft, insbesondere nicht für die Kläger zu 3) bis 5). Die Situation sei äußerst schlecht. Weder der Kläger zu 1) noch die Klägerin zu 2) seien persönlich bedroht worden. Eine Rückkehr nach ... bzw. nach ... sei wegen der bewaffneten Gruppen ausgeschlossen. Im Irak gebe es keine Bewegungsfreiheit. Die Klägerin zu 2) führte aus, dass der Iran kurdische Dörfer angegriffen hat, wobei viele Menschen ums Leben gekommen seien. Die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) habe in ... Frauen als Geiseln genommen. Kinder hätten keine Zukunft im Irak. Die wirtschaftliche Situation habe die Familie zur Ausreise bewegt. Es gebe im Irak keine guten Jobs, überall gebe es Konflikte zwischen kämpfenden Parteien. Für die Kläger zu 3) bis 5) wurden keine weiteren Asylgründe geltend gemacht. Zu ihrer persönlichen Situation gaben die Kläger zu 1) und 2) an, dass sie im Ort ... im Bezirk ... in einem Mietshaus gelebt hätten. Der Kläger zu 1) führte aus, dass er die Schule bis zur 7. Klasse besucht habe. Er habe im Irak zuletzt als Schaf- und Ziegenhirte gearbeitet und dabei 300.000,00 Lira verdient. Seine Eltern seien Rentner und lebten zur Miete in .... Dort habe er außerdem zwei Onkel, sowie zwei Tanten und einen Onkel in .... Die Klägerin zu 2) führte aus, dass sie ebenfalls sieben Jahre lang die Schule besucht habe. Sie sei im Irak Hausfrau gewesen. Ihre Eltern und sechs Geschwister lebten ebenfalls in, ebenso wie die Großfamilie.
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Für den weiteren Vortrag der Kläger wird auf die vom Bundesamt über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift verwiesen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 4. Juni 2024 (Gz. ...) wurden die Anträge der Kläger auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). In Nr. 3 des Bescheids wird den Klägern auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 des Bescheids werden die Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde den Klägern die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass bei den Klägern die Voraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorlägen. Die Kläger seien keine Flüchtlinge i.S.d. § 3 AsylG. Zugunsten der Kläger sei bereits keine flüchtlingsschutzrechtlich relevante Verfolgungshandlung noch ein Verfolgungsgrund ersichtlich. Die Kläger zu 1) und 2) hätten im Irak keine persönliche Verfolgung oder Bedrohung erlitten und haben auch eine solche für die Kläger zu 3) bis 5) nicht vorgetragen. Vielmehr haben sie lediglich auf die konfliktbedingte unzureichende Sicherheitslage sowie die schwierige wirtschaftliche Situation und die mangelnden Zukunftsperspektiven im Irak verwiesen. Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Es bestehe bei einer Rückkehr nach ... in der Autonomen Region Kurdistan aufgrund der dortigen Situation keine ernsthafte individuelle Bedrohung aufgrund willkürlicher Gewalt. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Die Kläger zu 1) und 2) seien jung, gesund und arbeitsfähig. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe den Klägern auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei im vorliegenden Fall angemessen. Die Kläger verfügten im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG zu berücksichtigen gewesen seien. Der volljährige Bruder des Klägers zu 1) gehöre nicht zur Kernfamilie.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 4. Juni 2024 wird ergänzend Bezug genommen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde den Klägern am 11. Juni 2024 bekanntgegeben.
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Die Kläger haben am 13. Juni 2024 zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Klage erhoben und beantragen,
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1. Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen, hilfsweise, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, festzustellen, dass sie die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus erfüllen, hilfsweise festzustellen, dass für sie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
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2. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juni 2024, zugestellt laut PZU am 11. Juni 2024, mit dem Az.: ... wird aufgehoben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
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Zur Begründung wurde auf den Asylantrag vom 30. Dezember 2021 und auf die persönliche Anhörung beim Bundesamt am 29. September 2022 verwiesen.
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Das Bundesamt ist der Klage mit Schriftsatz vom 14. Juni 2024 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die mit der Klage angegriffene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 14. Juni 2024 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Die Kläger zu 1) und 2) haben ein weiteres am ... geborenes Kind, für welches ebenfalls Asylantrag gestellt wurde (Gz. des BAMF ...). Nach Auskunft des Bundesamts ist über diesen Asylantrag bislang nicht entschieden worden.
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Am 25. Juli 2024 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Kläger zu 1) und 2) informatorisch angehört wurden, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte elektronische Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 25. Juli 2024 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 25. Juli 2024 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die zulässige Klage hat nur teilweise Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Juni 2024 (Gz. ...) ist lediglich in den Nrn. 5 und 6 im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Soweit der mit der Klage angegriffene Bescheid im Übrigen in den Nrn. 1 bis 4 die Anträge auf Gewährung internationalen Schutz (Asylanerkennung, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) ablehnt und im Übrigen feststellt, dass zugunsten der Kläger keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist der Bescheid hingegen rechtmäßig und nicht geeignet, die Kläger in ihren Rechten zu verletzen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). In Bezug auf die Nrn. 1 bis 4 des streitgegenständlichen Bescheids wird auf die umfassenden und zutreffenden Gründe im Bescheid Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG) und ergänzend wie folgt ausgeführt.
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1. Die Kläger besitzen keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte i.S.v. Art. 16a Grundgesetz (GG).
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Einem solchen Anspruch steht bereits die Einreise der Kläger auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland über einen sicheren Drittstaat entgegen. Insoweit bestimmt § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG, dass ein Ausländer, der aus einem Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, sich nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen kann. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylG schließt insoweit eine Anerkennung als Asylberechtigter aus.
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2. Die Kläger besitzen aber auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm aufgrund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag aufgrund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
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In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Die Kläger sind keine Flüchtlinge i.S.v. § 3 AsylG.
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Ausgehend vom Vortrag der Kläger in der mündlichen Verhandlung und im Rahmen ihrer persönlichen Anhörung beim Bundesamt am 29. September 2022 haben die Kläger bereits keine Vorverfolgung aus den Gründen der §§ 3, 3b AsylG geltend gemacht. Die Kläger haben vielmehr darauf verwiesen, dass ihnen im Irak persönlich nichts geschehen ist. Sie haben vielmehr ausschließlich auf die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage in ihrer Heimatregion (Nordirak; Autonome Region Kurdistan) verwiesen. Eine Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe haben die Kläger bereits nicht geltend gemacht. Für die Kläger zu 3 bis 5 wurden ebenfalls keine eigenen Asylgründe angeführt. Aus diesem Grund scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Kläger bereits begrifflich aus. Die Ablehnung ihres diesbezüglichen Antrages in Nr. 1 des Bescheids des Bundesamts vom 4. Juni 2024 ist daher rechtmäßig und hat die Klage keinen Erfolg.
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3. Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus i.S.v. § 4 AsylG. Ein solcher kommt insbesondere nicht im Hinblick auf die schlechte humanitäre Lage der Kläger bei einer Rückkehr in ihre Herkunftsregion in Betracht. Insoweit fehlt es jedenfalls an einer Zurechnung der den Klägern drohenden Gefahren zu einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3c AsylG.
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Für eine mögliche Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte und haben die Kläger auch nichts dargetan (§ 4 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
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Des Weiteren begründet die allgemeine humanitäre Situation im Irak nicht die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Es fehlt vorliegend bereits an dem erforderlichen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur, von dem insoweit eine zielgerichtete unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen müsste. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes infolge einer allgemein schlechten humanitären Lage bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines staatlichen oder nichtstaatlichen Akteurs i.S.d. § 3c i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG – die ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht jenseits nicht intendierter Nebenfolgen erfordert –, auf deren Basis der (nicht-)staatliche Akteur die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit zu verantworten hat (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris Rn. 13 m.w.N.). Die im Irak vorherrschende insgesamt schwierige humanitäre Lage wird durch die langanhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die Sicherheitslage, die fragliche Staatlichkeit, die innerstaatlichen Territorialkonflikte, die fortbestehenden konfessionellen bzw. ethnischen Auseinandersetzungen, die weiterhin unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung und die herrschenden Umweltbedingungen beeinflusst und bestimmt. Es ist aber nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden staatlichen oder nichtstaatlichen Akteure im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ein solcher Beitrag hieran anzulasten wäre, der nach den dargestellten Maßstäben zur Zurechenbarkeit im Rahmen der Gewährung subsidiären Schutzes führte. Es liegt fern, dass die die humanitäre Situation bestimmenden Umstände von einem solchen Akteur gezielt herbeigeführt worden wären bzw. aufrechterhalten würden.
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Es ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern bei einer unterstellten gemeinsamen Rückkehr im Familienverbund eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Dabei kann die Qualifizierung der fortbestehenden Auseinandersetzungen im Irak als ein solcher Konflikt dahinstehen, da jedenfalls keine beachtliche Schadenswahrscheinlichkeit für die Kläger besteht. Gefahrerhöhende Umstände sind für die Kläger nicht ersichtlich. Das quantifizierbare Risiko, allein durch die Anwesenheit im Nordirak (...) Opfer eines Konflikts zu werden, ist daher so gering, dass nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden kann. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der aktuellen Situation unter umfassender Berücksichtigung der weiteren, die Situation des Iraks bzw. der betroffenen Region kennzeichnenden Umstände, rechtfertigt keine abweichende Einschätzung im Vergleich zu dieser quantitativen Ermittlung des Tötungs- oder Verletzungsrisikos (vgl. zu diesen Kriterien EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris Rn. 43).
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4. Abschiebungsverbote zugunsten der Kläger bestehen ebenfalls nicht.
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Gründe für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht erkennbar. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Situation und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12). Das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 13) kann erreicht sein, wenn die Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn.11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris Rn. 90). Im Ergebnis kommt es auf eine Würdigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls an (EGMR, U.v. 5.11.2019 – 32218/17-, NVwZ 2020, 538 Rn. 40; BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11), wobei neben der Bewertung der tatsächlichen Lage in der Heimatregion des Rückkehrers zahlreiche weitere Faktoren zu berücksichtigen sind, etwa dessen Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand, Familienanschluss und mögliche beziehungsweise zu erwartende Unterstützungsleistungen.
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Es ist nicht ersichtlich, dass die Kläger in extreme materielle Not geraten könnten. Die Versorgungslage im Irak ist grundsätzlich angespannt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 28. Oktober 2022, S. 22). Die Erkenntnismittel beschreiben einen deutlichen Hilfsbedarf, aber keine flächendeckende Extremsituation in dem Sinne, dass die Menschen ihre elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnten. Dies gilt bereits unabhängig von dem Lebensmittelsubventionsprogramm des irakischen Staates für Familien mit geringem Einkommen und den internationalen Unterstützungsleistungen an Rückkehrer (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 13.1.2022 – 29 K 120.17 A – S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25. Oktober 2021, S. 25). Obwohl die Sicherheitslage im Irak prekär ist, liegt keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vor, die es rechtfertigt, Rückkehrern generell Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.S.v. Art. 3 EMRK zu gewähren (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 128 ff).
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Hierbei ist eine gemeinsame Rückkehr der Familie in ihr Heimatland zugrunde zu legen. Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer im Falle einer Rückkehr in den Zielstaat drohen, ist eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zu Grunde legen (BVerwG, U.v. 8.9.1992 – 9 C 8.91 – BVerwGE 90, 364 (368 f.); BVerwG, U.v. 16.9.1993 – 9 C 7.93 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 391 f.).
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Bei einer Rückkehr der Familie in den Irak ist zu berücksichtigen, dass es den Klägern auch vor ihrer Ausreise gelungen ist, durch die Tätigkeit des Klägers zu 1) als Schaf- und Ziegenhirte den Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau sicherzustellen. Auch verfügen die Kläger noch über eine Vielzahl von Familienangehörigen im Nordirak (...). Darüber hinaus sind die Kläger auch auf die Inanspruchnahme staatlicher Rückkehrhilfen zu verweisen, die bei der Gefahrenprognose zu einem nationalen Abschiebungsverbot zu berücksichtigen sind (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – BVerwGE 175, 227 ff.).
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Damit liegt ein außergewöhnlicher Fall, in dem die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung „zwingend“ sind, nicht vor. Bei einer unterstellten gemeinsamen Rückkehr in den Irak dürften die Kläger aufgrund ihrer persönlichen Situation in der Lage sein, ihre elementaren Bedürfnisse trotz der im Allgemeinen schwierigen Bedingungen sicherstellen zu können.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenso nicht feststellbar.
42
Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dieser Vorschrift setzt eine individuelle und konkrete zielstaatsbezogene Gefahr voraus (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – juris Rn. 3 ff.). Die befürchtete Verschlechterung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besondere Intensität erwarten lassen (vgl. BVerwG, B.v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris Rn. 4). Solange diese Grenzen nicht überschritten sind, ist es wiederum unerheblich, sofern die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
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Anhand dieser Maßstäbe lässt sich aus dem klägerischen Vortrag nicht auf ein Abschiebungsverbot schließen. Ärztliche Atteste wurden im Verfahren nicht beigebracht. Die Asthma-Erkrankung des Klägers zu 1) ist aktuell nicht behandlungsbedürftig.
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5. Nrn. 5 und 6 des mit der Klage angegriffenen Bescheids des Bundesamts vom 4. Juni 2024 waren hingegen aufzuheben, da für das am 4. August 2022 im Bundesgebiet nachgeborene Kind der Kläger zu 1) und 2) ein Asylantrag gestellt wurde (Gz. des Bundesamts ...), über den, auch nach Auskunft des Bundesamts, in der Sache noch nicht entschieden worden ist.
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Die Beklagte kann die streitgegenständliche Abschiebungsandrohung im Hinblick auf das am ... geborene Kind der Kläger zu 1) und 2) nicht auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG stützen. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung steht Art. 5 lit. a und b der RL 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie – RRL) entgegen. Danach berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise insbesondere das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen. Daran fehlt es hier. Die Entscheidung über den Erlass einer Abschiebungsandrohung erfolgt in Umsetzung der Rückführungsrichtlinie, vgl. Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 RRL. Bei den Klägern handelt es sich um eine Drittstaatsangehörige i.S.d. Art. 3 Nr. 1 RRL. Sie halten sich nach Ablehnung ihres Asylantrags durch die Beklagte illegal im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten auf (vgl. dazu: EuGH, U.v. 19.6.2018 – C-181/16 – juris Rn. 37-41), da sie mangels Aufenthaltstitels nicht die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Bundesgebiet erfüllt (Art. 3 Nr. 2 RRL, § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Wie aus Art. 9 Abs. 1 der RL 2013/32/EU – Verfahrensrichtlinie (VRL) – hervorgeht, endet die darin vorgesehene Bleibeberechtigung einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, wenn die zuständige Behörde den Antrag auf internationalen Schutz ablehnt. Mangels einer europarechtlichen Aufenthaltsberechtigung oder eines Aufenthaltstitels auf einer anderen Rechtsgrundlage, die es dem erfolglosen Antragsteller ermöglicht, die Voraussetzungen für die Einreise in den betreffenden Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, hat die Ablehnung des Antrags zur Folge, dass der Antragsteller danach diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, so dass sein Aufenthalt nach den Maßstäben der Rückführungsrichtlinie illegal wird. Dem steht nicht entgegen, dass die im Sinne der Rückführungsrichtlinie illegal aufhältigen abgelehnten Schutzsuchenden für die Zeit des gegen die Entscheidung anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens noch im Mitgliedstaat verbleiben dürfen und nicht abgeschoben werden können, vgl. Art. 46 Abs. 5 VRL (vgl. EuGH, U.v. 19. 6.2018 – C 181/16 – Rn. 47), und dass ihnen nationalrechtlich für diese Zeit ein Aufenthaltsrecht in Form einer Aufenthaltsgestattung nach §§ 55, 67 AsylG zusteht. Diesen Rechtspositionen kommt allein eine verfahrensrechtliche Bedeutung zu, die dem Erlass einer Rückkehrentscheidung im (selben) Verfahren nicht entgegensteht.
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Dem Erlass einer Rückkehrentscheidung in Form der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung stehen jedoch das Wohl des nachgeborenen Kindes der Kläger zu 1) und 2) und deren familiären Bindung zu diesem entgegen.
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Beabsichtigt die zuständige nationale Behörde den Erlass einer Rückkehrentscheidung, muss sie die Verpflichtungen aus Art. 5 RRL zwingend einhalten und den Betroffenen hierzu anhören. Angesichts des Zwecks von Art. 5 RRL, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Einhaltung u.a. der in Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EU-GRCh – verankerten Grundrechte des Kindes zu gewährleisten, kann Art. 5 nicht eng ausgelegt werden (vgl. EuGH, U.v. 11.3.2021 – C-112/20 – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23). Gefordert ist eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des betreffenden Minderjährigen. Dies gilt auch dann, wenn Adressat der Entscheidung nicht der Minderjährige, sondern – wie im vorliegenden Fall – dessen Eltern sind, sofern der Minderjährige – wie hier – über ein zumindest (zeitweiliges) Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat verfügt (vgl. EuGH, U.v. 11.3.2021 – C-112/20 – juris Rn. 32 ff.).
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Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist festzuhalten, dass das nachgeborene Kind der Kläger mit der übrigen Familie in familiärer Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zusammenlebt. Die Abschiebung der Kläger zu 1) bis 5) würde diese gelebte familiäre Gemeinschaft unzumutbar beeinträchtigen. Nationalrechtlich steht dem nachgeborenen Kind für die Dauer das Asylverfahrens ein Bleiberecht in Form einer Aufenthaltsgestattung nach §§ 55, 67 AsylG zu.
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Es genügt auch nicht, das nachgeborene Kind der Kläger zu 1) und 2) darauf zu verweisen, dass seine familiären Belange als Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung i.S.d. § 60a Abs. 2 AufenthG der Vollstreckung der Abschiebungsandrohung entgegenstehen, seine übrige Familie mithin nicht abgeschoben werden darf. Art. 5 lit. a und b RRL steht einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 27). Vielmehr ist das Wohl des Kindes schon vor Erlass der eine Vollstreckungsgrundlage bildenden Rückkehrentscheidung – hier der Abschiebungsandrohung der Kläger – zu berücksichtigen (vgl. EuGH, U.v. 11.3.2021 – C 112/20 – juris Rn. 43).
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Dieser europäischen Rechtsprechung folgend waren daher die entgegenstehenden Nrn. 5 und 6 des streitgegenständlichen Bescheids des Bundesamts vom 4. Juni 2024 aufzuheben.
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6. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1, 159 VwGO. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dem jeweiligen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten Rechnung. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).